Wittgensteins Neffe (eBook)

Eine Freundschaft
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
176 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78510-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wittgensteins Neffe -  Thomas Bernhard
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Mit seiner 1982 vorgelegten Arbeit über die Geschichte einer Freundschaft führt Bernhard seine Autobiographie, die Beschreibung seiner Kindheit und Jugend in fünf Bänden, weiter in die Jahre 1967 bis 1979. Bei einem Sanatoriumsaufenthalt vertiefte sich seine Freundschaft mit Paul Wittgenstein, die in leidenschaftlichen Diskussionen über Musik begonnen hatte. Paul Wittgenstein, der Neffe Ludwig Wittgensteins, maturierte am Theresianeum in Wien und studierte danach Mathematik. Seit seinem 35. Lebensjahr brach seine Nervenkrankheit immer wieder durch. Anfänglich finanziell sehr gut gesichert durch die Reichtümer einer der reichsten Familien Österreichs, verschenkte er sein Vermögen unbekümmert an Freunde und Arme, bis er selber in Armut dahinvegetierte. In seinen letzten Lebensjahren vereinsamte er mehr und mehr, nur noch mit seinem Freund Thomas Bernhard verbunden. Bernhards Notizen sind zum Bericht der Sterbegeschichte des Paul Wittgenstein geworden. Zwölf Jahre hindurch hatte er das Sterben seines Freundes beobachtet. Und durch diese Beobachtung hat sich auch die Selbstbeobachtung Thomas Bernhards verschärft - so daß durch den Porträtierten auch das Bild des Porträtisten starke Konturen gewinnt.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Ober&ouml;sterreich). Er z&auml;hlt zu den bedeutendsten &ouml;sterreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 B&auml;nden.</p>

Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.

Neunzehnhundertsiebenundsechzig legte mir auf der Baumgartnerhöhe eine der im dortigen Pavillon Hermann unermüdlich tätigen geistlichen Schwestern meine gerade erschienene Verstörung, die ich ein Jahr vorher in Brüssel in der rue de la croix 60 geschrieben habe, auf das Bett, aber ich hatte nicht die Kraft, das Buch in die Hand zu nehmen, weil ich ein paar Minuten vorher erst aus einer mehrstündigen Narkose aufgewacht war, in die mich jene Ärzte versetzt hatten, die mir den Hals aufschnitten, um aus meinem Brustkorb einen faustgroßen Tumor herausoperieren zu können. Ich erinnere mich, es war der Sechstagekrieg und als Folge meiner radikal an mir vorgenommenen Cortisonbehandlung entwickelte sich mein Mondgesicht, wie von den Ärzten gewünscht; während der Visite kommentierten sie dieses Mondgesicht auf ihre witzige Art, die selbst mich, der ich, nach ihrer eigenen Aussage, nur noch Wochen, im besten Fall Monate zu leben hatte, zum Lachen brachte. Im Pavillon Hermann gab es ebenerdig nur sieben Zimmer, an die dreizehn oder vierzehn Patienten erwarteten in ihnen nichts anderes als den Tod. Sie schlürften in hauseigenen Schlafröcken auf dem Gang hin und her und verschwanden eines Tages auf immer. Jede Woche einmal tauchte der berühmte Professor Salzer, die größte Kapazität auf dem Sektor der Lungenchirurgie im Pavillon Hermann auf, immer in weißen Handschuhen und mit einem ungeheuer respekteinflößenden Gang, beinahe lautlos umschwirrt von den geistlichen Schwestern, die ihn, der sehr groß und sehr elegant war, in den Operationssaal geleiteten. Dieser berühmte Professor Salzer, von welchem sich die Klassepatienten operieren ließen, weil sie alles auf seine Berühmtheit setzten (ich selbst hatte mich vom Oberarzt der Station operieren lassen, einem untersetzten Bauernsohn aus dem Waldviertel), war ein Onkel meines Freundes Paul, eines Neffen des Philosophen, dessen Tractatus logico-philosophicus heute die ganze wissenschaftliche, mehr noch die ganze pseudowissenschaftliche Welt kennt und gerade als ich auf dem Pavillon Hermann lag, lag mein Freund Paul auf dem Pavillon Ludwig an die zweihundert Meter weiter, welcher aber nicht, wie der Pavillon Hermann, zur Lungenabteilung und also zur sogenannten Baumgartnerhöhe gehörte, sondern zur Irrenanstalt Am Steinhof. Auf dem Wilhelminenberg mit seiner ungeheueren Ausdehnung im Westen von Wien, der seit Jahrzehnten in zwei Teile geteilt ist, eben in den für die Lungenkranken, der kurz als Baumgartnerhöhe bezeichnet wird und der mein Areal war und in den für die Geisteskranken, den die Welt als Am Steinhof kennt, der kleinere als Die Baumgartnerhöhe, der größere als Am Steinhof, haben die Pavillons männliche Vornamen. Es war schon ein grotesker Gedanke, meinen Freund Paul ausgerechnet im Pavillon Ludwig zu wissen. Wenn ich den Professor Salzer sah, wie er, ohne einen Seitenblick, auf den Operationssaal zustrebte, dachte ich jedesmal daran, daß mein Freund Paul seinen Onkel immer wieder abwechselnd ein Genie oder einen Mörder genannt hat und ich dachte beim Anblick des Professors, ging er nun in den Operationssaal hinein, oder kam er aus diesem heraus, geht nun ein Genie hinein oder ein Mörder, kommt ein Mörder heraus oder ein Genie. Von dieser medizinischen Berühmtheit ging für mich eine große Faszination aus. Ich hatte ja bis zu meinem Aufenthalt im Pavillon Hermann, der auch heute noch ausschließlich der Lungenchirurgie vorbehalten und vor allem auf die sogenannte Lungenkrebschirurgie spezialisiert ist, schon viele Ärzte gesehen und alle diese Ärzte auch, weil es mir schließlich zur Gewohnheit geworden war, studiert, aber der Professor Salzer hatte schon gleich vom ersten Augenblick an, in welchem ich ihn gesehen habe, alle diese Ärzte in den Schatten gestellt. Seine Großartigkeit in jeder Beziehung war für mich absolut undurchschaubar gewesen, er bestand für mich nur aus dem, den ich, wenn ich ihn beobachtete, gleichzeitig bewunderte und aus Gerüchten. Der Professor Salzer soll, so auch mein Freund Paul, viele Jahre ein Wunderwirker gewesen sein, Patienten ohne die geringste Chance sollen die Salzersche Operation um Jahrzehnte überlebt haben, andere wieder sollen ihm, wie mein Freund Paul immer wieder behauptete, infolge eines plötzlichen unvorhergesehenen Wetterumschwungs unter dem nervös gewordenen Messer gestorben sein. Wie auch immer. Der Professor Salzer, der tatsächlich eine Weltberühmtheit gewesen war und dazu auch noch ein Onkel meines Freundes Paul, hatte mich gerade deshalb nicht operieren dürfen, weil von ihm für mich eine solche ungeheuere Faszination ausgegangen ist und auch, weil seine absolute Weltberühmtheit mir nichts als einen heillosen Schrecken eingejagt hatte, in welchem ich mich letztenendes auch durch das, was ich von meinem Freund Paul über seinen Onkel Salzer gehört hatte, für den biederen Oberarzt aus dem Waldviertel und gegen die Kapazität aus dem Ersten Bezirk entschieden hatte. Auch hatte ich während der ersten Wochen meines Aufenthaltes im Pavillon Hermann immer wieder beobachtet, daß genau jene Patienten die Operation nicht überlebt haben, die der Professor Salzer operiert hatte, eine Unglücksperiode der Weltberühmtheit vielleicht, in welcher ich aufeinmal naturgemäß vor ihm Angst gehabt und mich für den Waldviertler Oberarzt entschieden habe, was, wie ich heute sehe, sicher ein Glück gewesen ist. Solche Spekulationen aber sind zwecklos. Während ich selbst den Professor Salzer jede Woche mindestens einmal, wenn auch zuerst nur durch den Türspalt gesehen habe, hat ihn mein Freund Paul, dessen Onkel der Professor Salzer schließlich gewesen war, die vielen Monate, die er auf dem Pavillon Ludwig gewesen war, nicht ein einziges Mal gesehen, obwohl, wie ich weiß, der Professor Salzer wußte, daß sein Neffe im Pavillon Ludwig untergebracht war und es wäre, so dachte ich damals, für den Professor Salzer sicher ein Leichtes gewesen, die paar Schritte vom Pavillon Hermann zum Pavillon Ludwig hinüber zu gehen. Die Gründe, die den Professor Salzer abgehalten haben, seinen Neffen Paul aufzusuchen, sind mir nicht bekannt, vielleicht waren es gravierende, vielleicht war es aber auch nur der Grund der Bequemlichkeit gewesen, der ihn an einem Besuch bei seinem Neffen hinderte, der, während ich zum ersten Mal auf dem Pavillon Hermann gelegen bin, schon oft im Pavillon Ludwig untergebracht war. Jährlich mindestens zweimal in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hatte mein Freund, immer von einem Augenblick auf den anderen und jedes Mal unter den fürchterlichsten Umständen in die Irrenanstalt Am Steinhof gebracht werden müssen, mit den Jahren in immer kürzeren Abständen immer wieder auch in das sogenannte Wagner-Jauregg-Krankenhaus bei Linz dann, wenn er in Oberösterreich, in der Nähe des Traunsees, wo er geboren und aufgewachsen war und wo er bis zu seinem Tod in einem alten, immer schon der Familie Wittgenstein gehörenden Bauernhaus ein Wohnrecht besessen hat, von einem Anfall überrascht worden war. Seine Geisteskrankheit, die nur als eine sogenannte Geisteskrankheit bezeichnet werden darf, war schon sehr früh aufgetreten, etwa, als er fünfunddreißig gewesen war. Er selbst hat darüber nur spärlich berichtet, aber es ist nicht schwer, sich aus allem, das ich von meinem Freund weiß, einen Begriff auch von der Entstehung dieser seiner sogenannten Geisteskrankheit zu machen. Schon in dem Kind Paul war diese sogenannte Geisteskrankheit, die niemals genau klassifiziert worden ist, angelegt gewesen. Schon das Neugeborene war als ein geisteskrankes geboren worden, mit jener sogenannten Geisteskrankheit, die den Paul dann lebenslänglich beherrscht hat. Mit dieser seiner sogenannten Geisteskrankheit lebte er bis zu seinem Tod dann auf das selbstverständlichste so, wie

die andern ohne eine solche Geisteskrankheit leben. An dieser seiner sogenannten Geisteskrankheit hat sich die Hilflosigkeit der Ärzte und der medizinischen Wissenschaften insgesamt auf das deprimierendste bewiesen. Diese medizinische Hilflosigkeit der Ärzte und ihrer Wissenschaft hat dieser sogenannten Geisteskrankheit des Paul immer wieder die aufregendsten Bezeichnungen gegeben, aber naturgemäß niemals die richtige, weil sie dazu nicht befähigt war in ihrer Kopflosigkeit und alle ihre Bezeichnungen, diese sogenannte Geisteskrankheit meines Freundes betreffend, hatten sich immer wieder als falsch und als geradezu absurd herausgestellt und eine hat die andere immer wieder auf die beschämendste, gleichzeitig deprimierendste Weise aufgehoben. Die sogenannten psychiatrischen Ärzte bezeichneten die Krankheit meines Freundes einmal als diese, einmal als jene, ohne den Mut gehabt zu haben, zuzugeben, daß es für diese wie für alle anderen Krankheiten auch, keine richtige Bezeichnung gibt, sondern immer nur falsche, immer nur irreführende, weil sie es sich letztenendes, wie alle anderen Ärzte auch, wenigstens durch immer wieder falsche Krankheitsbezeichnungen leichter und schließlich auf mörderische Weise bequem gemacht haben. Alle Augenblicke sagten sie das Wort manisch, alle Augenblicke das Wort depressiv und es war in jedem Fall immer falsch. Alle Augenblicke flüchteten sie (wie alle anderen Ärzte!) in ein anderes Wissenschaftswort, um sich (nicht aber den Patienten!) zu schützen und abzusichern. Wie alle anderen Ärzte verschanzten auch die den Paul behandelnden sich hinter der lateinischen Sprache, die sie zwischen sich und ihrem Patienten als einen unüberwindlichen und undurchdringlichen Wall aufrichteten mit der Zeit wie ihre Vorgänger seit Jahrhunderten nur zu dem alleinigen Zweck der Vertuschung ihrer Inkompetenz...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiographie 1967-1979 • Bernhard • Bernhard, Thomas • Biographie 1967-1979 • Paul • ST 1465 • ST1465 • suhrkamp taschenbuch 1465 • Thomas • Wittgenstein • Wittgenstein, Paul
ISBN-10 3-518-78510-9 / 3518785109
ISBN-13 978-3-518-78510-2 / 9783518785102
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99