Auslöschung (eBook)

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2012 | 1. Auflage
651 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78440-2 (ISBN)

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Auslöschung -  Thomas Bernhard
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»Auslöschung« ist der Titel einer Niederschrift, die Franz-Josef Murau in seinem letzten Lebensjahr in Rom verfaßt hat und die Thomas Bernhard zugänglich macht. Diese Aufzeichnungen waren für Murau unumgänglich geworden, da in ihnen ein Thema im Zentrum steht, das seine ganze Existenz zerstört hat, nämlich seine Herkunft. Dieser »Herkunftskomplex« läßt sich mit dem Namen eines Ortes bezeichnen: Wolfsegg. Hier ist Murau aufgewachsen, hat er den Entschluß gefaßt, daß er, will er sich, seine geistige Existenz retten, Wolfsegg verlassen muß. Obwohl er deshalb beabsichtigt, Wolfsegg zu meiden, muß er dennoch dorthin reisen: seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dieser erneute Wolfsegg-Aufenthalt macht Murau deutlich, daß er sich von Wolfsegg endgültig lösen muß. Er faßt den Entschluß, über Wolfsegg zu schreiben, und zwar mit dem Ziel, das in diesem Bericht »Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist«.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Ober&ouml;sterreich). Er z&auml;hlt zu den bedeutendsten &ouml;sterreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 B&auml;nden.</p>

Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.

Denn wenn wir uns mit einem dieser Philosophen beschäftigen, Gambetti, hatte ich zu ihm gesagt, sind wir unverschämt, wenn wir uns getrauen, sie anzupacken und ihnen sozusagen die philosophischen Eingeweide bei lebendigem Leib herauszureißen. Wir sind immer unverschämt, wenn wir ein philosophisches Werk angehen, aber ohne diese Unverschämtheit kommen wir nicht heran, kommen wir philosophisch nicht weiter. Tatsächlich haben wir mit der größten Grobheit und Roheit an diese philosophischen Schriften heranzugehen und an ihre Hervorbringer, die wir uns immer als unsere Feinde vorzustellen haben, als unsere furchtbarsten Gegner, Gambetti. Ich muß gegen Schopenhauer auftreten, wenn ich begreifen will, gegen Kant, gegen Montaigne, gegen Descartes, gegen Schleiermacher, verstehen Sie. Ich muß gegen Voltaire sein, will ich mich mit ihm auf die redlichste Weise auseinandersetzen mit einiger Aussicht auf Erfolg. Aber meine bisherigen Auseinandersetzungen mit den Philosophen und ihren Produkten sind bis jetzt ziemlich erfolglos gewesen. Bald wird das Leben vorbei, meine Existenz ausgelöscht sein, hatte ich zu Gambetti gesagt, und ich habe nichts erreicht, es ist mir alles ziemlich fest verschlossen geblieben. Wie die Auseinandersetzung mit mir selbst bis heute ziemlich erfolglos geblieben ist. Ich bin mein Feind und gehe gegen mich philosophisch vor, hatte ich zu Gambetti gesagt, ich gehe mit allen mir möglichen Zweifeln an mich heran und ich versage. Ich erreiche nicht das Geringste. Den Geist muß ich als Feind betrachten und gegen ihn vorgehen auf die philosophische Weise, hatte ich zu Gambetti gesagt, um ihn tatsächlich genießen zu können. Aber dazu ist wahrscheinlich meine Zeit zu kurz, wie sie eben alle eine zu kurze Zeit gehabt haben, das größte Unglück des Menschen, daß seine Zeit immer und in jedem Fall zu kurz ist, hat die Erkenntnis immer unmöglich gemacht. So hat es immer nur ein Angenähertes gegeben, ein Beinahe, alles andere ist Unsinn. Wenn wir denken und nicht aufhören zu denken, was wir Philosophieren nennen, kommen wir schließlich darauf, daß wir falsch gedacht haben. Alle haben sie bisher falsch gedacht, sie mögen gleich welche Namen getragen haben, sie mögen gleich was für Schriften geschrieben haben, aber sie haben nicht von selbst aufgegeben, hatte ich zu Gambetti gesagt, nicht mit ihrem Willen, nur durch den Willen der Natur, durch Krankheit, Wahnsinn, Tod am Ende. Sie hatten nicht aufhören wollen, war es ihnen noch so entbehrungsreich, entsetzlich, noch so grauenhaft gegen alle Regel und gegen alle Warnungen. Aber sie hatten sich alle immer nur eingesetzt für falsche Schlüsse, hatte ich zu Gambetti gesagt, am Ende doch für nichts, gleich, was dieses Nichts ist, hatte ich zu Gambetti gesagt, von welchem wir wissen, daß es zwar nichts ist, aber doch gleichzeitig auch nicht existent sein kann, an welchem alles scheitert, an welchem alles aufhört, zu Ende ist am Ende. Ich war auch an diesem Abend, anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, die Gambetti noch auf der Flaminia für die Piazza del Popolo versprochene, auf einen meiner von mir selbst immer am meisten gefürchteten Exkurse gekommen, die ich meine philosophierenden zu nennen mir angewöhnt habe, weil sie sich in den letzten Jahren häufen, weil sie so fließend sind wie die Philosophie an sich, wie alles Philosophische, ohne daß sie tatsächlich mit Philosophie etwas anderes zu tun hätten, als ihren Beweggrund. Anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, hatte ich Gambetti etwas über Nietzsche gesagt, das ich besser nicht gesagt hätte, etwas über Kant, das sogar völlig unsinnig gewesen war, etwas über Schopenhauer, das ich zuerst selbst als besonders qualifiziert angesehen, dann aber doch als ziemlich verrückt hatte erkennen müssen schon nach wenigen Augenblicken, etwas über Montaigne, das ich selbst nicht verstanden habe schon in dem Moment, in welchem ich es Gambetti gegenüber gesagt hatte; denn kaum hatte ich diesen Montaigne betreffenden Ausspruch Gambetti gegenüber getan, hatte mich dieser gebeten, ich möge ihm meinen gerade ausgesprochenen Ausspruch erklären, wozu ich aber nicht imstande gewesen war, weil ich schon in der gleichen Sekunde selbst nicht mehr gewußt hatte, was überhaupt ich über Montaigne gesagt hatte. Wir sagen etwas und sehen ganz klar und wissen im nächsten Augenblick gar nicht mehr, was wir gerade gesagt haben, hatte ich zu Gambetti gesagt, ich habe gerade etwas über Montaigne gesagt, weiß aber jetzt, zwei, drei Sekunden später, gar nicht mehr, was wirklich und tatsächlich ich gerade über Montaigne gesagt habe. Wir müßten die Fähigkeit haben, etwas zu sagen, auszusprechen also und dieses gerade Ausgesprochene gleichzeitig zu protokollieren in unserem Kopf, das ist aber nicht möglich, hatte ich zu Gambetti gesagt. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich etwas über Montaigne in diesem Augenblick gesagt habe, hatte ich zu Gambetti gesagt, naturgemäß noch weniger, was über Montaigne. Wir glauben, wir haben es schon so weit gebracht, daß wir eine Denkmaschine sind, aber wir können uns auf das Denken dieser unserer Denkmaschine nicht verlassen. Sie arbeitet ununterbrochen im Grunde gegen unseren Kopf, hatte ich zu Gambetti gesagt, sie produziert fortwährend Gedanken, von welchen wir nicht wissen, woher sie gekommen sind und wozu sie gedacht werden und in welchem Zusammenhang sie stehen, hatte ich zu Gambetti gesagt. Wir sind tatsächlich von dieser Denkmaschine, die ununterbrochen arbeitet, überfordert, unser Kopf ist davon überfordert, aber er kann nicht mehr aus, er ist unweigerlich lebenslänglich an diese unsere Denkmaschine angeschlossen. Bis wir tot sind. Montaigne, sagen Sie, Gambetti, und ich weiß im Augenblick gar nicht, was das ist, hatte ich zu Gambetti gesagt. Descartes? ich weiß es nicht. Schopenhauer? ich weiß es nicht. Ebenso könnten Sie Butterblume sagen und ich wüßte nicht, was es ist, hatte ich zu Gambetti gesagt. Ich hatte geglaubt, wenn ich nach Sils Maria gehe, hatte ich zu Gambetti gesagt, werde ich Nietzsche besser verstehen, wenn ich mich in der Nähe des Malojapasses einmiete, von Sondrio, also von unten heraufgekommen, würde ich Nietzsche besser oder überhaupt verstehen. Aber ich habe geirrt, ich verstehe, nachdem ich in Sils Maria gewesen bin, von Sondrio heraufkommend, von unten herauf also, Nietzsche noch weniger als vorher, ich behaupte, ich verstehe ihn jetzt überhaupt nicht mehr, nichts mehr von Nietzsche. Ich habe mir, indem ich nach Sils Maria gegangen bin, Nietzsche völlig ruiniert. So habe ich mir einmal auch Goethe ruiniert, hatte ich zu Gambetti gesagt, nur durch die unglückselige Dummheit, Weimar aufzusuchen, Kant, indem ich in Königsberg gewesen bin. Von allen diesen Philosophen und Dichtern und Schriftstellern, wie immer, war ich einmal durch Europa getrieben gewesen, um ihre Orte aufzusuchen und verstehe sie seither noch viel weniger als vorher. Hüten Sie sich, Gambetti, die Orte der Schriftsteller und Dichter und Philosophen aufzusuchen, Sie verstehen sie nachher überhaupt nicht, Sie haben sie in Ihrem Kopfe tatsächlich unmöglich gemacht dadurch, daß Sie ihre Orte aufgesucht haben, ihre Geburtsorte, ihre Existenzorte, ihre Sterbeorte. Meiden Sie wie nichts sonst die Geburts- und Existenz- und Sterbensorte unserer Geistesgrößen, hatte ich zu Gambetti gesagt, untersagen Sie es sich, die Orte Dantes, Vergils und Petrarcas aufzusuchen, Sie machen sich alles, das von diesen Geistesgrößen in Ihrem Kopf ist, zunichte. Nietzsche, hatte ich zu Gambetti gesagt, ich klopfe mir an den Kopf und er ist leer, vollkommen leer. Schopenhauer sage ich mir und ich klopfe an meinen Kopf und er ist leer. Ich klopfe an meinen Kopf und sage Kant und ich habe einen vollkommen leeren Kopf. Das deprimiert fürchterlich, hatte ich zu Gambetti gesagt. Sie denken an einen ganz und gar alltäglichen Begriff und Ihr Kopf ist leer. Nichts. Gar nichts ist in Ihrem Kopf, wenn Sie einen solchen ganz und gar alltäglichen Begriff begreifen wollen. Tagelang gehen Sie mit einem solchen leeren Kopf umher und klopfen daran und stellen immer nur fest, daß er vollkommen leer ist. Das macht verrückt, wahnsinnig, unglücklich, auf die unglücklichste Weise verrückt und wahnsinnig und auf die fürchterlichste Weise existenzüberdrüssig, mein lieber Gambetti. Ich bin zwar Ihr Lehrer, aber ich habe die meiste Zeit einen völlig leeren Kopf, in welchem tatsächlich nichts ist. Weil ich meinen Kopf überanstrengt habe wahrscheinlich, hatte ich zu Gambetti gesagt. Weil ich ihm mit der Zeit viel zu viel zugetraut habe. Weil ich ihn ganz einfach überschätzt habe. Wir überschätzen unseren Kopf und muten ihm zuviel zu und wundern uns, wenn er plötzlich völlig ausgeleert ist, wenn wir daran klopfen, hatte ich zu Gambetti gesagt. Nicht einmal das Notdürftigste ist dann in unserem Kopf, hatte ich zu Gambetti gesagt. Wahrscheinlich, weil wir uns an den Philosophen, die uns etwas und die uns unter Umständen sehr viel oder gleich alles bedeuten, vergriffen haben, hatte ich zu Gambetti gesagt, ziehen sie sich von Zeit zu Zeit mit allem, das sie sind, aus unserem Kopf zurück und lassen ihn allein. Hauen einfach ab und lassen ihn vollkommen leer zurück, so daß wir anstatt Gedanken in unserem Kopf zu haben und mit diesen Gedanken etwas anzufangen, vernünftig oder nicht, philosophisch oder nicht, hatte ich zu Gambetti gesagt, nur einen unerträglichen Schmerz empfinden, einen solchen fürchterlichen Schmerz, daß wir nur fortwährend aufschreien müßten. Aber wir hüten uns natürlich davor, durch ein solches fürchterliches Aufschreien, zu verraten, daß wir einen vollkommen leeren Kopf haben, denn das bedeutete in einer Welt, die nur darauf wartet, daß wir aufschreien und verraten, daß wir einen vollkommen leeren Kopf haben,...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Auslöschung • Erinnerungen • Herkunft • Innerer Monolog • Komplex • Österreich • Roman • ST 1563 • ST1563 • suhrkamp taschenbuch 1563 • Thomas Bernhard • Tod • Unfall • Vergessen • Wolfsegg • Zerfall
ISBN-10 3-518-78440-4 / 3518784404
ISBN-13 978-3-518-78440-2 / 9783518784402
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