Die Arglosen (eBook)

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2013 | 1. Auflage
432 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9241-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Arglosen -  Francesca Segal
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Zwölf glückliche Jahre sind Adam und Rachel schon zusammen, und niemand ist überrascht, als sie ihre Verlobung bekannt geben. Alles ist perfekt: Sie haben einen gemeinsamen Freundeskreis, Adam arbeitet in der Anwaltskanzlei seines Schwiegervaters, und sie werden in jener jüdischen Gemeinde im Nordwesten Londons eine Familie gründen, in der sie selbst aufgewachsen sind. Doch plötzlich taucht Rachels Cousine Ellie auf, und Adam fühlt sich gefährlich hingezogen zu der gleichzeitig wilden und verletzlichen jungen Frau. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er gezwungen, seine Welt infrage zu stellen und alle bisherigen Entscheidungen neu zu bewerten. Francesca Segal erweckt ihre Figuren anschaulich zum Leben und lässt sie sofort warm, lustig, komplex und sehr vertraut erscheinen. Der mehrfach ausgezeichnete Roman einer begnadeten Newcomerin, die das moderne jüdische Leben mit viel Humor und Empathie porträtiert.

Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlichte unter anderem im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph. Drei Jahre lang schrieb sie für den Observer eine Prosakolumne, bis vor Kurzem war sie Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Sie ist die Tochter des Autors Erich Segal (Love Story).

ZWEI

Das macht sie auf jeden Fall mit Absicht.«

»Was?«

»Man kann nicht mit halb nackten Titten in der Synagoge erscheinen, ohne es zu merken.«

»Adam, du sprichst hier von meiner Cousine! Und benutz bitte nicht dieses Wort.« Rachel gab ihm einen tadelnden Klaps auf den Unterarm und streichelte ihn sofort reumütig, als tue ihr ihre aufgesetzte Entrüstung bereits leid. Sie stritt nicht gerne mit Adam. »Vielleicht sind die Synagogenbesucher in New York nicht so konservativ wie hier.«

»New York ist doch kein anderer Stern. Ich glaube nicht, dass sie dort so viel toleranter sind.«

»Ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie ist sie in allem das komplette Gegenteil von mir.«

»Stimmt«, gab ihr Adam recht. »Zum Glück!«

Sie fuhren gerade vor Zivas Haus in Islington vor, und bevor er sich umdrehte, um rückwärts in eine Parklücke zu fahren, drückte er zärtlich Rachels Arm. Sie hatte natürlich recht. Absolut alles an ihr war das Gegenteil von ihrer jüngeren Cousine. Ellie wirkte unstet und weltgewandt, während Rachel am glücklichsten war, wenn alles in gewohnten Bahnen verlief und sich möglichst nie änderte. Es wäre allerdings ungerecht gewesen, sie als ignorant zu bezeichnen. Dass es auch noch andere Lebensweisen gab als ihre, war ihr durchaus bewusst, aber sie kannte ihren Platz in der Welt und verspürte keinerlei Neugier auf Fremdes. Schon als sie sechzehn gewesen war, hatte Adam in ihren Augen das Leben ablesen können, das er mit fünfzig an ihrer Seite führen würde. Rachel wusste, wer sie war.

Was ihr Äußeres anging, unterschied sie sich ebenso deutlich von ihrer Cousine. Rachel strotzte geradezu vor Gesundheit. Ihre Haut war rosig, ihre glatten dunklen Haare schimmerten, und auf ihren gepflegten Fingernägeln glänzte Nagellack von Chanel. Ellie hingegen hatte auf ihn vor der Synagoge einen ziemlich ausgebrannten Eindruck gemacht, obwohl sie erst zweiundzwanzig war. Ihm waren ihre abgekauten Nägel und die entzündeten Nagelhäutchen aufgefallen, die tiefen Augenringe. Allerdings war sie schon vor Monaten von der Columbia University geflogen, wo sie angefangen hatte, Kreatives Schreiben zu studieren. Wenn sie schlaflose Nächte hatte, dann nicht, weil sie für die Uni paukte.

Ein abendlicher Regen hatte eingesetzt, leicht und lautlos, aber beständig genug, um die Welt durch die Windschutzscheibe verschwimmen zu lassen. Adam sprang aus dem Auto, öffnete Rachel die Tür und hielt seine Jacke über sie, damit ihre Haare nicht nass wurden. Seit der Verlobung führte er diese kleinen galanten Gesten mit besonderem Stolz aus, denn er sah Rachel nun mit anderen Augen. Sie war nicht mehr seine Freundin, sondern die Frau, der er seine Zukunft versprochen hatte. Umso deutlicher spürte er die Bürde seiner Verpflichtungen ihr gegenüber, die, unausgesprochen, natürlich auch schon vorher existiert hatten. Doch durch die Verlobung hatten sie sich nun konkretisiert. Rachel war die achtundzwanzigjährige Matriarchin zukünftiger Generationen von Newmans.

Er beobachtete sie, während sie mit vorsichtigen Schritten den unbeleuchteten Fußweg zu Zivas Haustür entlangging und seine Jacke dabei fest unter dem Kinn zusammenhielt, was ihr das Aussehen einer Nonne verlieh. Anders als Ellie mit ihren langen Gliedmaßen und spitzen Knochen war Rachel rund und weich und hatte dieselben üppigen Brüste wie ihre Mutter. An ihrem kleinen Körper wirkten sie lächerlich riesig, und Rachel schnallte und zurrte sie immer, so hoch sie konnte. Diese Brüste hatten ihr schon viele Stunden des Kummers und der Scham und Adam mindestens ebenso viele Stunden des Vergnügens bereitet. Er musste zugeben, dass seine Verlobte durch ihre große Oberweite ein wenig plump aussehen konnte, wenn sie nicht darauf achtete, ihre Taille zu betonen. In weiter Kleidung erweckte sie oft irrigerweise den Eindruck, ihr Körper stünde überall so weit vor wie auf Brusthöhe, ein Fass auf zwei Beinen. Aber unbekleidet waren ihre Brüste einfach göttlich. Zu ihren jetzigen Ausmaßen waren sie erst in den Jahren nach ihrem Kennenlernen herangewachsen. Er hätte niemals gedacht, dass das geblümte Bikinioberteil in Größe S, das er in Israel von Weitem bewundert hatte, so viel Potenzial entwickeln könnte. Irgendwann war es endlich so weit gewesen, und sie hatte sich für ihn ausgezogen. Da hatten sie vor ihm gelegen, die ersten Brüste, die er jemals berührt hatte. Auch jetzt noch konnte er sich keine schöneren vorstellen. Im Vergleich dazu sah Ellie aus wie ein Junge. Während Adam an der Tür klingelte, überlegte er flüchtig, in welcher Aufmachung sie wohl heute Abend erscheinen würde.

Ziva war allein, wie sie ihnen mitteilte, und hatte sich gerade Kaffee aufgebrüht. Adam und Rachel sollten sich doch bitte eine Kleinigkeit zu essen nehmen. Obwohl Ziva schon seit vielen Jahrzehnten in London lebte, hatte sie sich einen kernigen österreichischen Akzent und eine eigenwillige Grammatik bewahrt, wenn sie Englisch sprach – ihre fünfte Sprache nach Deutsch, Jiddisch, Französisch und Hebräisch. Dennoch besaß sie ein größeres Vokabular als die meisten englischen Muttersprachler. Ihr Weg hatte sie von Österreich in das damalige Mandatsgebiet Palästina geführt, und später von Israel nach London. Ziva, Jaffa, Rachel – drei Generationen, drei Muttersprachen, eine typische jüdische Familie. Wenn Adam und Rachel einmal Nachwuchs bekamen, würden es seit fast einem Jahrhundert die ersten Kinder sein, die im selben Land geboren wurden wie ihre Mutter.

Erst nachdem er mehrmals zu Besuch gewesen war, hatte Adam bemerkt, dass Ziva in jedem Zimmer Essbares hortete. Wie üblich hatte sie auch heute eine Schüssel Schlagsahne auf dem Kaffeetablett stehen, aber Adam hatte noch nie jemanden gesehen, der sich davon bediente. Auf Papieruntersetzern standen Kristallschälchen mit gezuckerten Mandeln bereit, und ein langes Boot aus dunklem Kokosholz lag für immer auf dem Wohnzimmertisch vor Anker, bis oben hin gefüllt mit kleinen, einzeln verpackten Schokoladentäfelchen, wie sie im Flugzeug oft zum Kaffee gereicht werden. In einer mit Birnen bemalten Schale fristeten Trockenfrüchte ihr Dasein, und in einer Waterford-Zuckerdose neben dem Telefon setzten Rosinen Staub an. Auf der Anrichte reihten sich neben einer großen Schale mit Pistazien mehrere Karaffen mit hochprozentigen Pflaumen- und Kirschschnäpsen. Adam erinnerte sich noch genau daran, wie Rachel ihm eines Nachmittags erzählt hatte, dass ihre Großmutter an Jom Kippur niemals faste. Stattdessen sei es der einzige Tag im Jahr, an dem sie Kuchen backe, mehr schlecht als recht zwar, aber mit großer Verbissenheit, bis die Sterne am Himmel leuchteten und das Fasten vorbei sei. Mit sechzehn Jahren war er empört gewesen, so respektlos und gotteslästerlich war ihm dieses Verhalten erschienen, doch als ihm Ziva einige Jahre später mit würdevoller Ruhe erklärt hatte, sie habe in ihrem Leben schon mehr als genug gehungert, hatte er sich für seine selbstgerechte Missbilligung geschämt.

Jetzt nahmen sie im Wohnzimmer Platz: Ziva und Rachel auf einem riesigen Chippendale-Sofa mit Mahagonifüßen und weinrot-senfgelb gestreiften Polstern, Adam gegenüber auf einer Bauhaus-Liege aus schwarzem Leder, die ganz und gar nicht zum Rest der Möbel passte. Die Chrombeine der Liege hatten sich über die Jahre in den darunter liegenden Perserteppich gegraben.

Ziva streckte sich unter Schwierigkeiten nach ihrer Tasse. Als sich Adam jedoch vorbeugte, um sie ihr zu reichen, wies sie seine Hilfe mit einem Stirnrunzeln zurück, atmete pfeifend durch die Zähne aus und versuchte es erneut. Ihre Enkelinnen wussten längst, dass Ziva nur dann Unterstützung akzeptierte, wenn sie ausdrücklich den Befehl dazu erteilt hatte – ungebetene Hilfsangebote waren in ihren Augen eine ernsthafte Beleidigung und wurden mit Verachtung gestraft. Schließlich fehle ihr nichts, wie sie beharrlich behauptete. Sie sei nur ein wenig steif vom langen Stillsitzen, und dagegen helfe am besten Bewegung. Dennoch verunsicherte es Adam zutiefst, dass er ihr nicht helfen durfte.

»Glaubst du etwa, ich würde nie selbstständig meine Teetasse vom Tisch nehmen und zum Mund führen, wenn ich allein bin, sondern einfach nur dasitzen und sie anstarren?« Nachdem sie die Untertasse samt Tasse endlich in der Hand hielt, lehnte sie sich zufrieden auf dem Sofa zurück und blickte von Rachel zu Adam. »So. Und jetzt erzählt ihr mir, wie es euch in letzter Zeit ergangen ist.«

»Es ist einfach wunderbar, Oma!«, schwärmte Rachel. »Alle sind so lieb zu uns, seit wir uns verlobt haben. Ständig gratulieren uns Leute, die wir kaum kennen, alle scheinen es zu wissen. Und neulich waren wir auf einer Party bei Ethan und Brooke Goodman mit bestimmt hundert Gästen und haben reihenweise Einladungen zum Abendessen entgegengenommen.«

»Es ist immer ein Vergnügen, ein frisch verlobtes Paar bei sich zu Gast zu haben. Im Leben gibt es nicht so viele schöne Dinge, deshalb will jeder ein Stück davon abhaben. Apropos, das hatte ich ganz vergessen: Holt doch bitte mal die Sachertorte. Sie steht in der Küche auf dem Tisch. Und Teller.«

»Nein, danke, für mich nicht.« Rachel legte schützend die Hand über ihren Bauch.

»Schscht. Nicht für dich, für Adam. Du wirst bis zur Hochzeit nichts Essbares mehr anrühren, wie ich dich kenne. Aber Adam hätte gerne ein Stückchen Torte, und ich auch.«

Rachel errötete. Während Adam die Torte holte, dachte er darüber nach, wie oft sie seit der Verlobung schon ein Stück Kuchen oder Torte zurückgewiesen hatte. Dieses untypische Verhalten amüsierte ihn, und er war gespannt, was dabei herauskommen würde. Keine der unzähligen Diäten, die Rachel im Laufe der Jahre begonnen hatte, hatte je auch nur...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2013
Übersetzer Verena Kilchling
Sprache deutsch
Original-Titel The Innocents
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte camden • Coming of Age • Dreiecksbeziehung • East London • England • Entscheidungen • Erotik • Familie • Gegenwartsliteratur • Hampstead • Heirat • Humor • Judentum • Jüdisches Leben • Konventionen • Lebenswandel • Liebe • Literatur • London • Partnerschaft • Roman • Traditionen • Verlobung • Zweifel
ISBN-10 3-0369-9241-3 / 3036992413
ISBN-13 978-3-0369-9241-9 / 9783036992419
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