Südlich der Grenze, westlich der Sonne (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
230 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8710-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Südlich der Grenze, westlich der Sonne -  Haruki Murakami
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Ein moderner Klassiker des japanischen Kultautors Haruki Murakami! Wie eine Halluzination taucht die Kindheitsgeliebte des Barbesitzers Hajima nach Jahrzehnten wieder auf, unfassbar und geheimnisumwoben. Immer an regnerischen Abenden erscheint Shimamoto wie eine verführerische Andeutung aus einer fremden Welt und hebt das Leben des tüchtigen Geschäftmannes und Familienvaters aus den Angeln. >Südlich der Grenze, westlich der Sonne< erzählt mit großer Magie vom Einbruch dämonischer Kräfte in ein Leben - und scheut dabei keine Tabus. Als >Gefährliche Geliebte< in der Übersetzung aus dem Englischen erschien, führte der Streit über die Sprache des Romans und seine Darstellung von Sexualität zur Auflösung des »Literarischen Quartetts«. Jahre später wurde er endlich direkt aus dem japanischen Original ins Deutsche übersetzt: Ursula Gräfe, die längst zur deutschen Stimme Murakamis geworden ist, legt dabei verborgene Schichten frei und enthüllt einen Roman, den wir alle zu kennen glaubten, auf aufregende Weise neu. Der ideale Zeitpunkt für neue Leser, diesen modernen Klassiker zu entdecken - und für alle, die seinem Zauber schon zuvor verfallen waren, sich neu zu verlieben.

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).

1

Mein Geburtstag fiel auf den 4. Januar 1951, also in die erste Woche des ersten Monats zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufgrund dieses denkwürdigen Datums erhielt ich den Namen Hajime, was »Anfang« bedeutet. Ansonsten war an meiner Herkunft nichts Bemerkenswertes. Mein Vater arbeitete in einem großen Wertpapierhaus, und meine Mutter war Hausfrau. Vater war als Student nach Singapur an die Front geschickt geworden, und als der Krieg vorbei war, hatte er noch einige Zeit in Gefangenschaft verbracht. Die Familie meiner Mutter war im letzten Kriegsjahr während der B-29-Angriffe ausgebombt worden. Meine Eltern gehörten der Generation an, die durch den Krieg am meisten gelitten hatte.

Als ich auf die Welt kam, wies freilich kaum noch etwas auf diesen Krieg hin. In dem friedlichen Vorort, in dem wir wohnten, gab es weder Ruinen noch Besatzungstruppen. Unser Haus, das der Firma meines Vaters gehörte, war noch vor dem Krieg gebaut worden und etwas altmodisch, dafür aber großzügig angelegt. Im Garten standen große Kiefern, und es gab sogar einen kleinen Teich mit einer Steinlaterne.

In unserer Gegend lebten ausschließlich Angehörige der Mittelschicht, ja, sie war geradezu ein Musterbeispiel für solche Vororte. Alle in meiner Klasse, mit denen ich mehr oder weniger befreundet war, wohnten in netten, eigenen Häusern. Sie mochten unterschiedlich groß sein, hatten aber alle einen Eingangsbereich und einen Garten mit Bäumen. Die Väter meiner Freunde waren Firmenangestellte oder selbstständig. Berufstätige Mütter waren eine Seltenheit. Die meisten Familien hielten entweder einen Hund oder eine Katze. Ich kannte niemanden, der in einer gewöhnlichen Mietwohnung oder einem Apartmenthaus wohnte. Später zogen wir in ein anderes Viertel in der Nähe, das ganz ähnlich strukturiert war. So kam es, dass ich, bis ich nach Tokio auf die Universität ging, in dem Glauben lebte, jeder normale Mensch müsse in Schlips und Anzug zur Arbeit gehen, in einem Haus mit Garten wohnen und einen Hund oder eine Katze halten. Einen anderen Lebensstil konnte ich mir praktisch nicht vorstellen.

In meiner Welt hatte eine Durchschnittsfamilie entweder zwei oder drei Kinder. Sämtliche Freunde meiner Kindheit hatten ausnahmslos noch ein oder zwei Geschwister. Waren sie nicht zu zweit, dann waren sie zu dritt, wenn nicht zu dritt, dann zu zweit. Familien mit sechs oder sieben Kindern waren selten, aber längst nicht so selten wie solche mit nur einem Kind.

Ich war der Einzige, der keine Geschwister hatte. Ich war ein Einzelkind und hatte deshalb einen Minderwertigkeitskomplex. Ich war die Ausnahme in einer Welt, in der andere ganz selbstverständlich etwas besaßen, was mir fehlte.

In meiner Kindheit verabscheute ich nichts so sehr wie das Wort »Einzelkind«. Stets aufs Neue ließ es mich meine Unterlegenheit spüren. Es zeigte mit dem nackten Finger auf mich. »Du da«, sagte es, »dir fehlt was.«

In meiner Welt herrschte unerschütterlich und allgemein anerkannt die Meinung, Einzelkinder seien von ihren Eltern verwöhnt, schwächlich und egoistisch. Dies galt als eine Art Naturgesetz, ähnlich dem Umstand, dass Kühe Milch geben oder dass der Luftdruck fällt, wenn man auf einen hohen Berg steigt. Deshalb hasste ich es, nach der Anzahl meiner Geschwister gefragt zu werden. Jemand brauchte nur zu erfahren, dass ich keine hatte, und schon stellte sich bei ihm unwillkürlich der Gedanke ein: Sieh da, ein Einzelkind, verwöhnt, schwächlich und egoistisch. Diese stereotype Reaktion hing mir zum Hals heraus und kränkte mich nicht wenig. Was mich jedoch besonders kränkte und ärgerte, war, dass diese Annahme völlig den Tatsachen entsprach. Ich war wirklich ein verwöhnter, schwächlicher und ziemlich egoistischer Knabe.

Ein Kind ohne Geschwister war also eine echte Rarität. In den ganzen sechs Jahren meiner Grundschulzeit begegnete ich nur einem anderen Einzelkind. Deshalb erinnere ich mich auch sehr gut an sie. (Ja, es war ein Mädchen.) Wir freundeten uns an, denn wir konnten über alles reden. Zwischen uns herrschte eine Art inneres Einverständnis. Man könnte sogar sagen, dass ich dieses Mädchen liebte.

Sie hieß Shimamoto. Kurz nach ihrer Geburt hatte sie Kinderlähmung bekommen und zog deshalb das linke Bein etwas nach. Außerdem war sie erst gegen Ende der fünften Klasse neu auf unsere Schule gekommen. Allein deshalb muss sie unter weitaus größerem psychischem Druck gestanden haben als ich. Allerdings war sie durch diese Belastung stärker und selbstbewusster geworden, als ich es jemals hätte sein können. Nie kam auch nur ein Wort der Klage über ihre Lippen. Nie sah man ihr ihren Kummer an, und was auch geschah, ihr Lächeln versagte nie. Fast kam es mir so vor, als vertiefe es sich, je unerträglicher eine Situation wurde. Es war ein wunderschönes Lächeln, das mich oft tröstete und ermutigte. »Mach dir nichts draus«, schien es zu sagen. »Hab nur etwas Geduld, dann wird auch das vorübergehen.« Später war es vor allem dieses Lächeln, das meine Erinnerung an Shimamoto beherrschte.

Shimamoto war sehr gut in der Schule und behandelte andere stets fair und freundlich. Sie wurde respektiert. Obwohl sie ebenfalls ein Einzelkind war, benahm sie sich in dieser Hinsicht ganz anders als ich. Fraglich war allerdings, ob unsere Klassenkameraden sie wirklich vorbehaltlos mochten. Keiner ärgerte oder hänselte sie, aber Freunde hatte sie außer mir keine.

Vielleicht wirkte sie zu unnahbar und selbstbewusst. Manche fanden sie vielleicht zu kühl und anmaßend. Ich dagegen spürte immer wieder, dass sich hinter ihren Worten und in ihrer Miene eine gewisse Wärme und Verletzlichkeit verbargen, etwas, das entdeckt werden wollte wie ein Kind, das Verstecken spielt.

Da Shimamotos Vater häufig versetzt wurde, hatte sie immer wieder die Schule gewechselt. Welchen Beruf er ausübte, weiß ich nicht mehr genau. Sie hatte mir einmal ausführlich davon erzählt, aber wie die meisten Kinder interessierte ich mich nicht für das Berufsleben fremder Väter. Ich glaube mich zu erinnern, dass er irgendetwas bei einer Bank oder einem Steuerberater war. Sie wohnten in einem für eine Firmenwohnung recht großen Haus westlichen Stils. Es war von einer soliden, hüfthohen Mauer mit einer immergrünen Hecke umgeben, durch die man hier und dort einen Blick auf den Rasen im Garten erhaschen konnte.

Shimamoto war fast so groß wie ich und hatte markante Züge. Jahre später sollte sie zu einer hinreißenden Schönheit heranwachsen. Doch als ich sie kennenlernte, hatte sie noch nicht die äußere Erscheinung erreicht, die ihrem Wesen entsprach. Sie hatte damals etwas Unausgewogenes an sich, und die meisten fanden sie nicht besonders anziehend. Vielleicht lag es daran, dass das Erwachsene und das Kindliche an ihr einander widersprachen und dieses Ungleichgewicht den Betrachter verunsicherte.

Während ihres ersten Monats in der Klasse saß sie neben mir, weil ich am nächsten wohnte (ihr Haus lag buchstäblich nur einen Katzensprung von unserem entfernt). Es gehörte zu den Regeln unserer Schule, dass ein neuer Schüler von einem in seiner direkten Nachbarschaft wohnenden Kind betreut wurde. Bei Shimamoto galt dies einmal mehr, da sie gehbehindert war. Unser Klassenlehrer hatte mich eigens zu sich gerufen und mir den Auftrag erteilt, mich um sie zu kümmern. Ich hatte sie in die notwendigen Einzelheiten unseres Schulalltags einzuweihen: welche Unterrichtsmaterialien sie für die jeweiligen Fächer brauchte, wann die wöchentlichen Tests stattfanden, wie weit wir in den Lehrbüchern waren, wann man Putz- oder Essensdienst hatte. Wie es zwischen elf- oder zwölfjährigen Jungen und Mädchen, die sich nicht kennen, die Regel ist, waren wir bei unseren ersten Gesprächen noch ziemlich verlegen. Doch als wir erst einmal erkannten, dass wir beide Einzelkinder waren, wurde daraus rasch ein lebhafter und inniger Austausch. Beide waren wir nie zuvor einem anderen Einzelkind begegnet, und wir ergingen uns in leidenschaftlichen Erörterungen über unser Los. Wir hatten einander so unendlich viel zu sagen. Nicht jeden Tag, aber sooft es sich ergab, gingen wir zusammen von der Schule nach Hause. Während unseres etwa einen Kilometer langen Heimwegs (wegen ihres Beins konnten wir nur langsam gehen) redeten wir ununterbrochen und entdeckten dabei viele Gemeinsamkeiten. Wir lasen beide gern. Wir hörten beide gern Musik. Wir mochten beide Katzen. Uns fiel es beiden schwer, anderen unsere Gefühle zu zeigen. Die Liste der Nahrungsmittel, die wir nicht mochten, war lang. Wir lernten ohne Schwierigkeiten, solange der Stoff uns Spaß machte, aber die ungeliebten Fächer verabscheuten wir wie den Tod. Einen Unterschied gab es jedoch zwischen uns: Shimamoto bemühte sich viel disziplinierter darum, sich zu schützen. Sie lernte auch in den Fächern, die sie nicht mochte, und hatte ziemlich gute Noten. Anders als ich. Wenn es zum Mittagessen in der Schule etwas gab, was sie nicht mochte, aß sie es trotzdem auf. Anders als ich. So war der Schutzwall, den sie um sich errichtete, ungleich höher und stärker als meiner. Doch was sich dahinter befand, war auffallend ähnlich.

Ich gewöhnte mich sofort daran, mit ihr allein zu sein. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich. In ihrer Gegenwart verspürte ich nie die Nervosität und Befangenheit, die ich beim Umgang mit anderen Mädchen empfand. Ich ging gern mit ihr von der Schule nach Hause. Wegen ihres Beins mussten wir unterwegs immer auf einer Parkbank ausruhen. Was mich nicht im Geringsten störte, im Gegenteil, ich freute mich, weil wir dadurch länger brauchten.

Obwohl Shimamoto und ich viel Zeit zusammen verbrachten, kann ich mich nicht erinnern, dass die anderen Kinder über uns lästerten. Damals dachte ich mir...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2013
Übersetzer Ursula Gräfe
Sprache deutsch
Original-Titel Kokkyo no minami, tayo no nishi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Gefährliche Geliebte • gefährliche geliebte in neuer übersetzung • Japan Bestseller • Japanische Literatur • Kindheitsliebe • Literarisches Quartett • Marcel Reich-Ranicki • Sexualität • Sigrid Löffler • Skandal
ISBN-10 3-8321-8710-3 / 3832187103
ISBN-13 978-3-8321-8710-1 / 9783832187101
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