Weite Welt (eBook)

Australische Geschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-11203-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weite Welt -  Tim Winton
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Eine australische Stadt am Meer, exotisch und vertraut zugleich
Das Leben an der Westküste Australiens kann hoffnungslos sein und voller Wunder. Keiner versteht es so meisterhaft wie Tim Winton, von der überwältigenden Landschaft seiner Heimat zu erzählen, von den Verletzungen und Sehnsüchten der kleinen Leute, von Fischern, alten Surfern, Frauen im Trailerpark, Schlägern, Schulmädchen und Polizisten. Seine Geschichten über die Küstenstadt Angelus sind so raffiniert miteinander verschränkt, dass man sie als Roman eines Landstrichs lesen kann.

Tim Winton wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren. Er hat zahlreiche Romane, Sach- und Kinderbücher sowie ein Theaterstück veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die Shortlist des Man Booker Prize, und viermal erhielt er den Miles Franklin Award, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, fast alles wurde für Bühne, Radio oder Film adaptiert. Tim Winton lebt mit seiner Familie in Westaustralien.

Weite Welt


Nach fünf Jahren High School kommt und geht der letzte November so plötzlich wie ein Frühlingssturm. Prüfungen. Abschlussfeier. Riesige Strandpartys. Biggie und ich, wir sind schon fiebrig vor Erwartung, wir bereiten uns vor auf ein teuflisches Vierteljahr. Aber nach den ersten paar Feiern passiert eigentlich nichts mehr, nicht einmal der Sommer. Wochenlang weht ein nebliger Nieselregen vom Meer herein. Wenn wir in der vergeblichen Hoffnung auf ein bisschen Action in der Stadt herumschleichen, perlt er in den Haaren und tropft von der Nase. Der Südhimmel drückt schwer, und die Strände und Buchten nehmen die Farbe schmutzigen Zinns an. Irgendwie wird unser beschissener Samstagsjob in der Fleischfabrik zur Vollzeitbeschäftigung, und dann kommt Weihnachten und damit die gefürchteten Prüfungsergebnisse. Keine guten Nachrichten. Ein paar von unseren Klassenkameraden packen ihre Sachen für die Universität und machen sich aus dem Staub. Cheryl Button hat sich für Medizin eingeschrieben. Vic Lang, der Polizistensohn, ist der Schulprimus und bleibt nicht mal für die Abschlussfeier. Und plötzlich trotten wir beide, Biggie und ich, im Januar unseres neuen Lebens jeden Morgen im kalten Wind zur Arbeit, noch immer in Jeans und Stiefeln und Flanellhemden, mit Beanie-Mütze auf dem Kopf und den Horizont um die Ohren.

Unsere Arbeit besteht vorwiegend darin, Blut von den Böden zu spritzen. Das Zeug fließt in den Hafen, und alte Männer sitzen da draußen in ihren Dingis und versuchen, in der Schlutze Heringe zu fangen. An manchen Tagen sehe ich Biggie und mich als alte Knacker ebenfalls da draußen sitzen, verankert in diesem Scheißkaff, für immer hier hängengeblieben. Unser Job in der Fleischfabrik soll eigentlich nur vorübergehend sein. Wir sparen auf ein Auto, den V-8 Sandman, den wir uns selber versprochen haben, seit wir vierzehn sind. Aluminiumfelgen, eine düster schrille Lackierung wie das Cover eines Yes-Albums, und hinten drin eine gigantische Matratze. Einen Tussi-Magneten, genau das wollen wir. Bis jetzt hatten wir nur eine Keksdose voller Zwickel und Fünfer, aber inzwischen verdienen wir richtig Kohle.

Das Problem ist, ich halt’s nicht aus. Ich weiß einfach, dass ich es nicht lange genug durchstehen werde, um mir dieses Auto leisten zu können. Es gibt da etwas, das ich Biggie in all den Jahren unserer Freundschaft nie erzählt habe. Dass ich davon träume auszureißen, mich in den Norden zu verziehen, um dort ein Stückchen blauen Himmel zu finden. Im Gegensatz zu ihm bin ich nicht wirklich von hier. Es ist nicht dieses Blutwegspritzen, das mir auf die Nerven geht – es ist Angelus selbst; ich werde hier noch verrückt. Bis jetzt habe ich das aus Loyalität für mich behalten, aber Anfang Februar bin ich bereits kräftig dabei, unseren alten Traum zu demontieren, und rede statt dessen davon, mit einem kalten Bier unter einem Mangobaum zu sitzen, mit einem Mädchen in einem dünnen Kleidchen durch eine Bananenplantage zu spazieren. Auf unseren langen Märschen nach Hause quassele ich davon, wie wir Ananas von Strünken schneiden und auf Palmen klettern, um Kokosnüsse zu holen. Kumpel, sage ich, kannst du dir nicht vorstellen, dass du auf dem Cable Beach den trägerlosen Rücken eines Mädchens mit Babyöl einschmierst? Nach Norden, Kumpel, krieg den Norden in dein Hirn! Ich weiß, dass Biggie diese Stadt liebt und der gemeinsamen Vision dieses Protzkarrens nachhängt, aber ich stichle Tag für Tag, bis es allmählich Wirkung zeigt.

In den letzten Februarwochen fängt Biggie an, die Welt mit meinen Augen zu sehen, er redet von weiten, offenen Landschaften und Pfaden ins Abenteuer, und ich bin der kleine Antreiber in seinem Ohr. Dann macht er eines grauen Tages den letzten Schritt. Man hat uns dazu verdonnert, Hautreste und Schlachtabfälle zu verpacken. Acht Stunden lang stehen wir am Fließband und stopfen glitschige Fetzen von Kuhhaut in Kisten, damit man sie als Hummerköder verkaufen kann. Unsere Arme sind voller Blut und beklebt mit orangen und schwarzen Rinderhaaren. Der Geruch ist nicht gut, aber er ist nichts im Vergleich zu dem Gefühl von all diesen abgeschnittenen Nüstern und Lippen und Ohren zwischen den Fingern. Ich gebe keinen Ton von mir, mache keine Mittagspause, kann nicht einmal ans Essen denken. Ich bin nur froh, dass alle diese Reste frisch sind, weil so wenigstens meine Hände warm bleiben. Biggies Gesicht neben mir wird immer düsterer, und als zum Schichtende die Hupe trötet, schleicht er davon, obwohl seine letzte Kiste noch gar nicht voll ist. Scheiß drauf, sagt er. Wir müssen hier raus. An diesem Nachmittag begraben wir die Sandman-Idee und kaufen uns von einem Hippie unten im Hafen einen Kombi. Für jeden zweihundert Dollar.

Wir hängen noch zwei Wochen in der Fleischfabrik dran und holen dann unseren Lohn ab. Wir stopfen den uralten VW mit Konservendosen und unserer ganzen Campingausrüstung voll und verduften, ohne irgend jemand was zu sagen. Am Montag morgen denkt jeder, wir sind unterwegs zur Arbeit, aber schon nach zehn Minuten haben wir die Stadtgrenze hinter uns und geben richtig Gas. Na ja, so viel Gas, wie ein 1967 er Kombi eben hergibt. Unser Fluchtfahrzeug ist ein Gartenhäuschen auf Rädern.

Es ist ein verrücktes Gefühl, so hoch oben zu sitzen, während die Straße unter einem vorbeizischt. Ein paar Stunden lang lachen wir nur, deuten nach draußen, schlagen uns auf die Schulter und furzen, und dann beruhigen wir uns ein bisschen. Wir werden still und horchen auf das Geräusch des Volkswagen-Motors, der hinter uns knattert. Ich kann nicht glauben, dass wir es getan haben. Wenn in den letzten zwei Wochen einer von uns irgendjemand was gesagt hätte, dann hätten wir es nie getan; wir hätten mit Sicherheit Schiss bekommen. Dann wären wir jetzt wie all die anderen armen, gestrandeten Versager, die in Angelus geblieben sind. Aber jetzt, da wir auf der Straße sind, ist es Zeit, alles noch einmal zu überdenken. Keiner sagt was, aber ich spüre es.

Wir haben vor, von irgendwo auf der anderen Seite von Perth anzurufen, wenn wir außer Reichweite sind. Ich will nicht, dass mir mein schlechtes Gewissen einen Strich durch die Rechnung macht – meine Mutter wird mir sicher was vorheulen  –, aber Biggie hat Schlimmeres zu befürchten. Sein Alter wird ihn windelweich prügeln, wenn er dahinterkommt. Jetzt können wir es uns nicht mehr anders überlegen.

Je länger wir fahren, desto weiter werden Himmel und Busch. Ab und zu schaut Biggie zu mir herüber und grinst. Er hat ein Gesicht, das nur eine Mutter lieben kann. Ein Auge schaut dich an, das andere sucht dich. Er ist irgendwie birnenförmig, aber du musst schon ziemlich mutig sein, um ihn Fettarsch zu nennen. Die Fäuste, die er hat. Um ehrlich zu sein, eigentlich ist er überhaupt nicht mein Typ, aber er ist mein bester Kumpel.

Stundenlang rauschen wir durch gutes Farmland nach Norden. Die großen, ordentlichen Weiden werden dabei immer brauner und trockener, und die Luft fühlt sich dick und warm an. Biggie fährt. Er hat die Angewohnheit, seine Sätze mit schnellen Tritten aufs Gaspedal zu akzentuieren, und obwohl der schlappe, alte Volkswagen nicht gerade die Power hat, einen bei jedem dieser Tritte in den Sitz zu pressen, reicht es doch, dass man auf Dauer Kopfschmerzen davon bekommt. Wir fahren durch die Überreste des Jarrah-Walds, und der kränklich aussehende Neuwuchs ist so ausgedörrt, dass er fast knistert, wenn man ihn anschaut.

Als Perth in Sicht kommt, die graubraune Ebene flirrend vor Hitze und die entfernten Türme lodernd im mittäglichen Sonnenlicht, werden wir ganz aufgeregt und kichern wie zwei beschwipste Korbballerinnen. Die große Stadt. Wir schauen uns an und lassen unsere Augenbrauen hüpfen, dass Groucho Marx blass geworden wäre vor Neid, aber wir halten nicht an. Biggie ist durch und durch ein Junge vom Land. Großstädte verwirren ihn, er kapiert nicht, wozu sie gut sein sollen. Er fragt sich aufrichtig, wie Leute es schaffen, so in den Hosentaschen des anderen zu leben. Der Gedanke ekelt ihn an und macht ihm sogar ein wenig Angst. Ich, ich liebe die Stadt, ich komme ja ursprünglich von hier. Ich habe wirklich gedacht, ich würde noch in diesem Monat hierher zurückziehen. Was ich jetzt natürlich nicht tun werde. Nicht, nachdem ich durch die Prüfungen gerasselt bin. Ich bin froh, dass wir nicht anhalten. Es wäre, als würde ich mit der Nase hineingestoßen. In meine Niederlage, will ich sagen. Ich kann das Biggie zwar nicht erzählen, aber dass ich jetzt nicht auf die Uni kann, tut wirklich weh. Als ich die Ergebnisse bekam, habe ich mir die Augen aus dem Kopf geheult. Habe sogar an Selbstmord gedacht.

Um an Perth vorbeizukommen, manövrieren wir durch die heruntergekommenen Viertel der Autohöfe und -Showrooms und elenden Wohnparzellen. Bald sind wir auf der anderen Seite wieder draußen und fahren durch Weingärten und Pferdeweiden, und der Himmel vor uns ist blau wie Mundspülung. Und dann endlich weite, offene Straße. Wir haben eine Welt erreicht, in der es nicht die ganze Zeit regnet, in der uns niemand kennt und niemand sich um uns schert. Nur wir und unsere Love Machine. Wir fangen an zu kichern. Wir drehen durch und hupen und johlen und werfen Karten und Burger-Kartons durch die Kabine. Zwei verrückte Jungs aus dem Süden, die im März noch immer Beanies tragen.

Ich lache. Ich trete gegen das Armaturenbrett. Der Schmerz ist immer noch in mir drin, aber so gut habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich die Ergebnisse bekommen habe. Dieses eine Mal tue ich nicht nur so. Ich schaue zu Biggie hinüber. Sein riesiges, hässliches Gesicht ist faltig vor Vergnügen. Ich weiß einfach, dass ich ihm nie erzählen kann, welche Hoffnungen ich mir für mein Leben gemacht hatte, und im Augenblick ist mir das alles auch...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2013
Übersetzer Klaus Berr
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Turning
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angelus • Australien • eBooks • Erzählungen • Geschichten • Küstenstadt • Landschaft • Sehnsüchte • The Turning • Träume • Westküste • Wünsche
ISBN-10 3-641-11203-6 / 3641112036
ISBN-13 978-3-641-11203-5 / 9783641112035
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