Der singende Baum (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
480 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-11202-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der singende Baum -  Tim Winton
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Einer der erfolgreichsten Autoren Australiens hat sein Meisterwerk geschaffen. Er erzählt von der Liebe zwischen zwei Menschen, die im Leben gestrandet und ohne Hoffnung sind und sich aneinander aufrichten. Und er erzählt von seinem Land, der Geschichte und der Gegenwart Australiens, vor allem der Landschaft - und man sieht sie vor sich: die windgepeitschte Westküste, die karge, rote Wüste, das spektakuläre Bergland und die unbarmherzige Wildnis der Tropen im hohen Norden. Ein Roman über große Themen und über ein großartiges Land. Eine Reise durch innere wie äußere Landschaften, grausam und schön.
Jetzt verfilmt! DVD-Release am 22. April 2021

Tim Winton wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren. Er hat zahlreiche Romane, Sach- und Kinderbücher sowie ein Theaterstück veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die Shortlist des Man Booker Prize, und viermal erhielt er den Miles Franklin Award, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, fast alles wurde für Bühne, Radio oder Film adaptiert. Tim Winton lebt mit seiner Familie in Westaustralien.

In einer Novembernacht, mal wieder eine, die zum Morgen geworden war, während sie einfach nur dasaß, hob Georgie Jutland den Kopf und sah ihr blasses und wütendes Gesicht im Fenster. Kurz zuvor hatte sie noch die Blaupausen einer zweiunddreißig Fuß langen Pain-Clark-Yacht von 1913 studiert, die ein Segelfan aus Manila in seine Website gestellt hatte, doch dann warf der Server sie raus, und unvermittelt packte sie eine so lächerliche Wut, daß sie sich fragen mußte, was da mit ihr geschah. Weder das Boot noch der Kerl in Manila bedeutete ihr irgend etwas; beide waren so unwichtig für sie wie jede andere Site, die sie in den letzten sechs Stunden besucht hatte. Genaugenommen hatte sie sogar Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wie sie die Zeit verbracht hatte. Sie war durch die Uffizien geschlendert, hatte aber den Bildern kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ein Tourist mit Blasen an den Füßen. Sie hatte das Livebild einer Kamera in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt von Perth angestarrt und den Frank-Zappa-Fanclub in Brasilien besucht, hatte Francis Drakes Nachttopf im Tower von London gesehen und war über eine Chatgroup von Leuten gestolpert, die sich danach sehnten, Amputierte zu sein.

Einloggen – was für ein Witz. Man hätte es Wegtreten nennen sollen. Wenn Georgie sich vor ihren Computer setzte, tauchte sie in ihrem Sessel ab wie Rentner am Spielautomaten, absolut unansprechbar. Nacht um Nacht hinein in diesen Wust aus nutzloser Information, um sich mit Menschen und Ideen zu beschäftigen, die ihr nichts gaben. Sie wußte nicht, warum sie es tat, außer daß es die Stunden fraß. Dennoch mußte man zugeben, daß es nett war, eine Zeitlang ohne Körper zu sein; es hatte etwas Berauschendes, ohne Alter, Geschlecht oder Vergangenheit zu sein. Eine unendliche Reihe sich öffnender Portale, Menüs und Korridore führten einen zu kurzen, schmerzlosen Begegnungen, und das, was man für Leben hielt, war nur teilnahmsloses Schaufensterbummeln. Welt ohne Folgen, Amen. Und in ihr fühlte sie sich leicht wie ein Engel. Außerdem hielt es sie vom Schnaps fern.

Sie drehte sich mit ihrem Sessel, griff nach der Tasse und schrak zurück, als ihre Lippen das kalte Sarkom berührten, das sich auf der Kaffeeoberfläche gebildet hatte. Hinter ihrem Spiegelbild im Fenster schien das mondhelle Meer zu erzittern.

Georgie stand auf und ging in die Küche, die vom Wohnzimmer durch eine glänzende Brustwehr aus Arbeitsflächen und Küchengeräten abgetrennt war. Sie holte eine Flasche aus dem Kühlschrank und goß sich eine solide Dosis Wodka ein. Dann stand sie eine Weile da und starrte in den riesigen Versammlungsraum des Wohnzimmers. Es war so groß, daß es nicht überfüllt wirkte, obwohl sich ein Eßtisch mit acht Stühlen, das Computereck und am anderen Ende der Fernseher mit drei vor ihm gruppierten Sofas darin befanden. Die gesamte dem Meer zugewandte Seite dieses Obergeschosses bestand aus Glas, und alle Vorhänge waren zurückgezogen. Zwischen dem Haus und der etwa hundert Meter entfernten Lagune gab es nur Rasen und ein paar mit Gestrüpp bewachsene Dünen. Georgie kippte den Wodka in einem Schluck hinunter. Es war alles Gefühl und kein Geschmack, wie eine Schwester sie selbst einmal beschrieben hatte. Sie lächelte und stellte das Glas zu laut auf das Abtropfblech. Jim schlief in seinem Zimmer nur einige Meter entfernt. Die Jungs waren unten.

Sie zog die Schiebetür auf und trat hinaus auf die Terrasse, wo die Luft kühl war und intensiv nach dampfendem Seegras roch, nach Salzwasser und kalkigem Sand, nach Fischköder und nach dem würzigen Aroma des Rundblättrigen Salzbusches. Die Terrassenmöbel waren taufeucht. Die Brise war nicht stark genug, um den gebogten Saum des Perrier-Sonnenschirms zu bewegen, aber Tau um diese Jahreszeit war ein Vorbote des Winds. White Point lag mitten in den Roaring Forties, den »Brüllenden Vierzigern«, dem Starkwindgebiet um den vierzigsten Breitengrad. Hier an der mittelwestlichen Küste war der Wind vielleicht nicht dein Freund, aber mit Sicherheit dein ständiger Nachbar.

Georgie stand länger draußen, als ihr guttat, bis ihre Brüste von der Kälte schmerzten und die Haare sich anfühlten, als würden sie schrumpfen. Sie sah den Mond über der Lagune untergehen, bis sein letztes Licht sich in Bugrelings und Sonnensegeln und Windschutzscheiben brach und Vertäuungsbojen in unruhig flackernde Sterne verwandelte. Und dann war er verschwunden, und das Meer war dunkel und leer. Georgie blieb auf dem kalten Schiefer stehen. So viel zur realen Welt; zur Zeit bereitete sie ihr genausoviel Vergnügen wie ein Löffel Lebertran in ihrer Kindheit.

Auf dem Strand blitzte etwas auf. Um vier Uhr morgens war es wahrscheinlich nur eine Möwe, aber sie erschrak trotzdem. Jetzt war es dunkler, als es die ganze Nacht gewesen war; sie konnte überhaupt nichts sehen.

Seeluft benetzte ihre Haut. Die Kälte brannte ihr auf der Kopfhaut.

Georgie war kein Morgenmensch, aber als Schichtarbeiterin hatte sie schon einige Morgendämmerungen erlebt. Wie all diese Morgen in Saudi-Arabien, als sie ins Lager der Ungläubigen zurückkehrte und draußen herumhing, lange nachdem ihre Kolleginnen zu Bett gegangen waren. In Strumpfsocken stand sie dann auf dem kostbaren Fleckchen Rasen und sog tief die Luft Dschiddas ein in der Hoffnung, daß ein Hauch reiner Seeluft über die hohe Umgrenzungsmauer wehte. Sentimentale Anhänglichkeit an eine Landschaft ärgerte sie zwar, viele Australier waren besessen davon, und die Westaustralier waren die Schlimmsten von allen, aber es ließ sich nicht leugnen, daß dieses alte frühmorgendliche Ritual nichts anderes war als stinknormales Heimweh, daß sie nach jener betörenden Mischung schnüffelte, an der man sich als Kind, das am Fluß in Perth lebte, jede Nacht berauschte, diesem merkwürdigen salzigen Moussieren der Flut, die in den Swan River, in seine Buchten und über seine Mündungsauen rollte. Aber in Dschidda bekam sie nie etwas anderes in die Nase als den rauchigen Gestank der Küstenstraße, die Abgasdämpfe von Cadillacs und das Freon, das Millionen Klimaanlagen aufs Rote Meer bliesen.

Und jetzt, Jahre später, stand sie hier, atmete die frische, klare Luft des Indischen Ozeans bewußt ein und kam sich erbärmlich vor. Auch wenn sie Seglerin, Taucherin und Anglerin war, wußte Georgie doch, daß die Herrlichkeiten der Natur sie inzwischen völlig kalt ließen.

Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, ins Bett zu gehen. In weniger als einer Stunde würde Jim aufstehen, und davor schlief sie bestimmt nicht ein, außer sie nahm eine Tablette. Was brachte es, sich hinzulegen, wenn Jim sich aufsetzte und den ersten stärkenden Seufzer des Tages ausstieß? Jim Buckridge brauchte keinen Wecker, er war von Natur aus Frühaufsteher. Er war der Fischer des Ortes, der als erster hinausfuhr und als letzter zurückkehrte, er gab das Vorbild, dem die anderen der Flotte nacheiferten. Vererbung, hieß es. Wenn er die Lagune bereits verlassen und die Durchfahrt im Riff mit der vogelschwirrenden Insel querab an Steuerbord passiert hatte, brodelte die Bucht vor Dieselmotoren und die anderen hielten Ausschau nach dem verlöschenden Phosphor seiner Kielwelle.

Um sieben würden die Jungs hereinpoltern, noch ein wenig benebelt und bereit fürs Frühstück, auch wenn sie in der nächsten Stunde immer weniger bereit für die Schule wurden. Sie würde ihnen Lunchpakete machen – Apfelsandwiches für Josh und fünf Vegemite-Brote für Brad. Dann würden sie schließlich zur Hintertür hinausstürzen, und Georgie würde vielleicht das Funkgerät einschalten und der Flottenkommunikation lauschen, während sie sich daranmachte, ein großes Haus in Ordnung zu halten. Und dann und dann und dann.

Es war keine Möwe, dieses Aufblitzen unten am Strand; es war das Funkeln von Sternenlicht auf nassem Metall. Dort unten, im Schatten der Vordüne am Rand der Bucht. Und jetzt das Geräusch eines Benzinmotors, acht Zylinder.

Georgie formte mit den Händen einen Tunnel vor den Augen und spähte in die Dunkelheit. Ja. Zweihundert Meter weiter unten am Strand wendete ein Transporter, um rückwärts zum Ufer zu fahren. Keine Scheinwerfer, was komisch war. Aber die Bremsleuchten verrieten ihn; sie zeigten ein rosa angestrahltes Boot auf einem Anhänger, eine Mittelkonsole. Klein, vermutlich weniger als sechs Meter. Kein professionelles Boot. Sogar die Boote der Meerschneckenfischer hatten große gelbe Kennziffern. Kein Sportangler ließ sein Boot so heimlich zu Wasser, und das eine Stunde bevor Jim Buckridge aufstand.

Georgie holte sich drinnen eine Windjacke und blieb dann einen Augenblick in der Diele stehen. Das Ticken der Uhr, ein Schnarchen, das Surren von Geräten. Der Wodka brannte noch immer in ihrem Bauch. Sie war zittrig vom Koffein und unruhig. Was soll’s, dachte sie. Einmal was Unerwartetes in White Point. Das mußte man sich einfach ansehen.

Der Rasen unter den Füßen war herrlich taufeucht und wärmer, als sie erwartet hatte. Sie lief über den gemähten Pelz bis zur Vordüne und dem Sandweg zum Strand. Auch ohne Mond war der weiße Sand der Lagune lumineszierend und pudrig. Wo die Flut ihn überspült und sich dann wieder zurückgezogen hatte, war der Strand hart und gerippt.

Irgendwo in der Dunkelheit sprang ein Außenbordmotor an. So satt, daß es ein Viertakter sein mußte. Kurz tuckerte er im Leerlauf, und dann sah sie für einen Augenblick die Andeutung einer weißen Kielwelle in der Lagune. Ob in betrügerischer Absicht oder einfach nur aus Rücksicht, das Ganze ging außerordentlich leise und schnell vonstatten. Die Flügel eines Vogels schlugen, unsichtbar, aber so dicht wie ein Flüstern; das Geräusch machte Georgie eine Gänsehaut.

Der Schemen eines Hundes lief über den Strand. Als sie näher kam,...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2013
Übersetzer Klaus Berr
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Dirt Music
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Australien • eBooks • Landschaft • Liebe • Liebesromane • Roman • Romane • Selbstfindung • Zerrissenheit
ISBN-10 3-641-11202-8 / 3641112028
ISBN-13 978-3-641-11202-8 / 9783641112028
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