Der fernste Ort (eBook)

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74045-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der fernste Ort - Daniel Kehlmann
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Julian, ein junger Mann, mit sich selbst und seiner Tätigkeit als Versicherungsangestellter unzufrieden, nutzt einen Schwimmunfall, um sich davonzumachen. Daß man ihn für tot halten muß, scheint ihm die ultimative Chance zu sein. Noch einmal läßt er seine Erinnerungen Revue passieren: die Kindheit, die zähen Anstrengungen, neben dem hochbegabten Bruder zu bestehen, den Zerfall der Familie und die immer wieder gescheiterten Versuche, die eigene Mittelmäßigkeit zu überwinden.
Nun, plötzlich, liegen verführerische neue Möglichkeiten greifbar vor ihm; er kann ganz von vorne beginnen. Doch die Umstände gestalten sich unerwartet schwierig: Ereignisse aus seiner Vergangenheit begegnen Julian in der Gegenwart wieder, immer mehr wird ihm die Realität zweifelhaft. Ist vielleicht alles nur ein Traum? Und wenn ja - was für eine Art von Traum? Schließlich besteigt er einen Zug, der ihn endlich aus seiner Heimatstadt und in die Freiheit bringen soll.
Daniel Kehlmann erzählt die Geschichte eines Fluchtversuchs aus dem alltäglichen Leben. Kann ein Mensch aus seinem Dasein ausbrechen, kann er ein anderer werden, als er ist? Raffiniert verknüpft der Autor diese Fragen mit einer bis zur letzten Seite spannenden Geschichte.



<p>Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren. Er lebt in Wien, studierte dort Philosophie und Literaturwissenschaft und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion. International bekannt wurde er mit seinem Roman <em>Ich und Kaminski</em>, der 2003 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Kehlmann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Thomas Mann-Preis der Stadt Lübeck und den Per Olof Enquist-Preis.</p>

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren. Er lebt in Wien, studierte dort Philosophie und Literaturwissenschaft und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion. International bekannt wurde er mit seinem Roman Ich und Kaminski, der 2003 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Kehlmann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Thomas Mann-Preis der Stadt Lübeck und den Per Olof Enquist-Preis.

I


»Seien Sie vorsichtig!« Der Mann an der Rezeption sah Julian neugierig an. »Voriges Jahr ist jemand ertrunken. Einfach nicht zurückgekommen. Man bemerkt es nicht gleich, aber die Strömungen ...«

»Sicher«, sagte Julian, »sicher!«

»Er wurde nie gefunden.«

Julian nickte zerstreut und legte das Handtuch über seinen Arm. Die Drehtür setzte sich surrend in Bewegung und gab ihn frei. Die Sonne stand bereits niedrig. Ein Mann mit einem Strohhut ging gebückt vorbei, ein dickes Kind warf mit beiden Händen einen Fußball nach dem Stamm einer Palme, verfehlte ihn und sah hilflos zu, wie der Ball den Hang hinabrollte. Julian preßte das Handtuch an sich und folgte dem Weg, der sich in eine weit geschwungene Serpentine legte. Es war verwirrend, Mitte Oktober an einem Ort zu sein, wo es noch so warm war.

Der See, hell und reglos, spannte sich bis zu den Schemen der Hügel am Horizont, eine einzelne Möwe zog träge darüber hin. Eine Weile starrte Julian hinab, ohne sich zu bewegen. Es kam nicht oft vor, daß Tagungen von Versicherungsleuten an solchen Orten stattfanden. Meist waren es Provinzstädte oder verregnete Dörfer; noch nie hatte er sich auf solch eine Reise gefreut.

Trotzdem, er hatte noch immer keine Ahnung, was er in zwei Stunden sagen würde, wenn sein Vortrag über Elektronische Medien in der Risikokalkulation an der Reihe war. Er hatte nur eine vage Vorstellung, was Risikokalkulation war, er wußte nichts über elektronische Medien, und er hatte kein einziges Wort vorbereitet.

Vor der Abreise hatte er es hinausgeschoben, es gab so viele Gründe dafür: Formulare, die durchgesehen werden mußten, der ständig abstürzende Computer im Büro, die Verhandlungen mit der Kreditabteilung der Bank, die wechselnden Launen seines Vorgesetzten Wöllner. Er hatte beschlossen, sich erst im Flugzeug darum zu kümmern. Aber dort hatte er bloß verträumt dagesessen, an seinem Rotwein genippt und versucht, über die Schulter seines Nebenmannes einen Blick auf die Berggipfel und die Schatten der Wolken auf dem Erdboden zu werfen, und der ungewohnte Alkohol hatte ein Gefühl träger Schwere auf ihn gelegt; er hatte sich vorgenommen, den Vortrag noch in der Nacht zu schreiben, gleich nach dem Abendessen. Doch das hatte länger gedauert als erwartet, zweieinhalb Stunden lang hatten ihn die bleichen Gesichter, Brillen, schuppigen Haare und viel zu bunten Krawatten der Menschen umgeben, die seine Kollegen waren, und neben ihm hatte eine Frau ohne Unterlaß über Golfregeln gesprochen, über einen Abschlag vom dritten Loch, über Handicaps, über ein Hole-in-One, das ihr irgendwann gelungen war, ohne ihm ein einziges Mal die Chance zu geben, das Thema zu wechseln; danach hatte er nur mehr nach dem sich langsam drehenden Bett tasten können, erstmals seit langem unfähig, wach zu bleiben, und war Sekunden später in eine Dunkelheit ohne Träume gefallen. Heute morgen hatte er den von trockenen Hustenanfällen unterbrochenen Begrüßungsworten des Gastgebers zuhören müssen, dann hatte es Mittagessen gegeben, und jetzt hätte er endlich Zeit gehabt ... Jetzt! Er preßte das Handtuch an sich und schüttelte den Kopf. Es galt als Auszeichnung, daß Wöllner ihn mitgenommen hatte. Wenn sie sich blamierten, würde er ihm nicht verzeihen.

Unschlüssig drehte sich Julian nach dem Hotel mit seinen Markisen, Balkonen und altmodischen Vordächern um. Dann blickte er zum See. Für morgen, Sonntag, war Regen vorausgesagt, übermorgen mußten sie abreisen. Es war seine letzte Chance.

Das dicke Kind lief schwerfüßig über den Weg und bückte sich nach dem verbeulten Ball. Auf dem Boden lagen Zigarettenkippen, die Wurzeln einer Platane drangen wie braune Adern aus der Erde, eine Eidechse huschte davon und verschwand im Gras. Julian atmete den Geruch der Algen ein. Italien, dachte er; dann noch einmal: Italien. Er rückte seine Brille zurecht und wartete darauf, daß er irgend etwas empfand.

Aber dafür mußte er es fertigbringen, nicht an den Mann von der Kreditabteilung und die Schulden bei der Bank zu denken, nicht an Wöllner, nicht daran, daß er einen Beruf hatte, den er nicht mochte, nicht an Andreas Stimme, als sie ihm gesagt hatte, daß er nicht mehr anrufen sollte. Er wischte sich den Schweiß ab. Er hörte ein dumpfes Geräusch, dann rollte ihm langsam der Ball vor die Füße: gefleckt und schlecht aufgepumpt. Er blickte auf das Kind, das mit hängenden Schultern unterhalb des Weges stand. Dann auf den Ball. Dann ging er weiter.

Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Sein Vortrag. Alle würden ihn anblicken, und er würde aus den Augenwinkeln Wöllners Glatze sehen, die Stirn ungeduldig gerunzelt, und dann würde er Luft holen und auf ein Wunder warten, das nicht eintreffen würde, und die Stille würde sich ausdehnen, und fast würde er glauben, es schon hinter sich zu haben, um plötzlich zu erkennen, daß es noch nicht Erinnerung war, daß der Augenblick noch währte ... Er blieb stehen. Der Weg endete in einem lehmigen Platz am Ufer.

Kein Mensch war zu sehen. Auf dem Boden lagen ein schmutziges Handtuch, eine flachgetretene Blechdose, weggeworfene Zigaretten. Im Wasser, etwa zwanzig Meter vor ihm, hob und senkte sich eine Boje. Die Wellen rollten träge heran, zogen sich zurück, kamen wieder, zogen sich zurück. Julian zögerte. Dann begann er sich auszuziehen.

Ein Luftzug berührte kühl seinen Rücken, instinktiv zog er die Schultern zusammen. Sein Bauch und seine Brust waren bleich; er bemerkte es mit einem Gefühl von Scham und war froh, daß niemand ihn sah. Als er einen Moment lang nackt war, klopfte sein Herz, fast erwartete er, daß jemand auftauchen und ihn anstarren würde, aber schon war es vorbei, und er trug seine Badehose, und natürlich war niemand gekommen. Er faltete seine Kleider, legte sie vorsichtig auf den Boden und nahm die Brille ab.

Wie immer, wenn er das tat, lief ein Zittern durch die Welt, die scharfen Konturen zerliefen zu einem Nebel von Farben und unklaren Bewegungen. Plötzlich wäre er am liebsten wieder zurückgegangen, er hatte immer noch Zeit, ein paar Schlagworte aneinanderzureihen, neue Medien, nicht zu unterschätzende Bedeutung, mit der Zeit gehen, unterschiedliche Techniken der Kalkulation, zunehmende Bedeutung des Virtuellen, ganze Wirtschaftszweige neu entstanden, irgend etwas in dieser Art, es würde peinlich werden, er würde wohl stottern und ein paarmal von vorne beginnen müssen, Wöllner würde es übelnehmen, aber es würde doch besser sein als gar nichts! Er legte die Brille auf das Hemd und zog seine Schuhe aus. Es war nicht leicht, die Schleifen zu öffnen, wenn man sie nicht sah. Er schob seinen Zimmerschlüssel tief in den rechten Schuh.

Es fiel ihm schwer, barfuß zu gehen. Der Boden war sandig und nachgiebig, etwas stach in seine Ferse, er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er fühlte sich lächerlich. Dünn und bleich, nicht gewöhnt an die Nacktheit, halb blind. Wieder fiel ihm Wöllner ein, wieder der Mann von der Bank, Andreas heisere Stimme am Telefon. Er machte einen großen Schritt und spürte die Kälte des Wassers an den Knöcheln, den Waden, den Knien und – er hielt die Luft an – am ganzen Körper. Er ging in die Knie, streckte die Arme vor und stieß sich ab.

Sein Körper schnellte nach vorne. Er beugte den Kopf zurück, aus irgendeinem Grund kam es ihm wichtig vor, daß seine Haare trocken blieben; er schwamm mit gleichmäßig festen Bewegungen, schon wurde die Kälte erträglich. Eine grundlose Freude stieg in ihm auf, sinnlos und stark, nicht zu unterdrücken, fast hätte er laut gelacht. Das Wasser um ihn wurde dunkler und auch kälter. Aber das machte ihm nichts mehr aus, sein Körper hatte sich daran gewöhnt. Das Ufer war schon weit entfernt. Vielleicht täuschte er sich auch, seine Augen waren nicht mehr verläßlich. Aber war da nicht eine Boje gewesen?

Er legte sich auf den Rücken.

Der Schatten eines Vogels zog mit langsamen Flügelschlägen vorbei. Die Sonne blendete, er schloß die Augen. Und übermorgen mußte er wieder nach Hause, in den Regen und den Herbst, für nächste Woche hatte der Wetterbericht sogar den ersten Schnee angekündigt; auf einmal erschien ihm das kaum mehr vorstellbar. Er bewegte langsam die Füße, spürte, wie seine Hände auf dem Wasser lagen, die sanfte Kraft, die ihn trug und tragen würde ...

Was? Er rieb sich die Augen und blickte um sich. Worüber war er erschrocken? Das Ufer war kaum noch zu sehen, er mußte fast in der Mitte des Sees sein; er hatte nicht gemerkt, daß er so weit hinausgeschwommen war. Wie spät war es? Er wollte auf die Uhr sehen, aber dann fiel ihm ein, daß er sie im Hotelzimmer gelassen hatte. Er überlegte, kniff die Augen zusammen und schwamm los. Die Sonne stand bereits niedriger als vorhin, auch blendete sie stärker, er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war.

Das Ufer näherte sich nicht. Seine Schultern und Arme taten weh, in seinen Atem hatte sich ein pfeifender Ton gemischt. Hinter den Hügeln sah er einen spitzen Berg, der ihm noch nicht aufgefallen war; er blinzelte und konnte ihn schon nicht mehr finden. Der Schmerz in seinen Armen war stärker geworden. Er mußte langsamer schwimmen, er durfte keinen Krampf bekommen; ein Krampf, das hatte er gelesen, war gefährlich. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er hörte sich keuchen. Etwas griff nach seinem Fuß.

Aber es war nur eine kalte Strömung. Trotzdem kam er aus dem Rhythmus, das Wasser schlug über seine Augen, sein Atem ging hastig. Er schwamm mit aller Kraft und fühlte, daß etwas ihn festhielt. Das Ufer...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Konferenz • Leistungsdruck • ST 3627 • ST3627 • suhrkamp taschenbuch 3627 • Wissenschaftler
ISBN-10 3-518-74045-8 / 3518740458
ISBN-13 978-3-518-74045-3 / 9783518740453
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