Frühling auf dem Mond (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
252 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73078-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frühling auf dem Mond -  Julia Kissina
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Kiew, späte Breschnewzeit. Julia, ein so verträumtes wie rebellisches Mädchen, wächst im Milieu der bürgerlichen jüdischen Intelligenz heran. Während ihr Vater, der in ständiger Angst lebt, denunziert zu werden, Texte für eine Zirkusrevue schreibt, unterhält sie sich nachts mit den Führern des Weltproletariats. Ein älterer Herr, der sich als Pole ausgibt und Werke über die französische Küche verfasst, zeigt ihr das Anatomische Theater aus zaristischer und weißgardistischer Zeit. Das in Gärten versteckte Gebäude, die Aura des Todes und der materiellen Auflösung ziehen sie magisch an. Hier lauert ein Wissen, der »Lunatismus«, eine im Mondlicht gesteigerte Selbstwahrnehmung, mit dem sie sich den Zumutungen einer bedrängenden Realität entziehen kann. Traurig, wütend, mit visionärer Sprachkraft begabt, beschreibt Julia Kissina ihre sowjetische Kindheit vor dem Hintergrund des physischen und ideellen Zerfalls der Stadt Kiew und ihrer Bewohner. Die Museen und Parkbänke, die verschlungenen Gässchen und Hinterhöfe der Altstadt mit ihrem dahinsiechenden Abendlicht in den schmutzigen Pfützen, bleiben dem Leser unvergesslich.

<p>Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. 2005 erschienen auf Deutsch <em>Vergiß Tarantino</em> sowie das Kinderbuch <em>Milin und die Zauberkreide</em>. Sie lebt in New York und Berlin.</p>

IM EMPFANGSSAAL DES HERRN


Wir alle sitzen im Empfangssaal des Herrn und warten auf unsere Stunde. Sein Empfangssaal ist riesig, dort stehen für die Wartenden Bänke. Solche Bänke stehen vorzugsweise auf Boulevards und in Parks. Durch den Empfangssaal führen lange Korridore, dort gibt es auch Meere und Ozeane, Städte und Inseln. Während du im Empfangssaal sitzt, sitzt du scheinbar auch nicht dort. Du gehst deiner Beschäftigung nach und vergisst sogar manchmal, dass irgendwann dein Name aufgerufen wird. Du solltest aber jede Minute damit rechnen, dass es geschieht. Wie es geschehen wird und wo, das weiß niemand. Vielleicht wirst du einmal vor einer riesigen, schlecht gestrichenen Tür stehen, hinter der ein Licht aufblitzt. Es blendet dich, überrascht dich, erwischt dich eiskalt. Und dann wirst du dich dafür verantworten müssen, was du all diese Jahre getan hast, vielleicht musst du sogar dein Leben ganz von Anfang und in allen Einzelheiten erzählen. Aber es gibt eine einfache Regel, wie du durch diese Tür treten und ohne Stocken antworten kannst. Leider hat sie noch keine lebendige Seele befolgen können:

Während du sprichst, während du etwas tust, musst du unentwegt die Pferde bändigen, wenn du sie nämlich nicht bändigst, dann vermehren sich diese unbändigen Pferde, fliegen in ganzen Trauben während der Fahrt in die Luft, und die Hufe schießen nach allen Seiten und hinterlassen perforierten Schlamm und einen versengten Streifen Weg. Denn von diesen Pferden gibt es ganze Händevoll, ganze Felder oder Fächer, und das Fuhrwerk spuckt diese Pferde nicht nur aus, sondern kann auch selbst verschluckt werden von diesen Pferden, und sie heißen – Gefühle, ungezügelte, wilde, aber vergebens hat man das Fuhrwerk in sie eingespannt, denn sie streben in unterschiedliche Richtungen, diese Hecht-Pferde mit arabischen Schwanenhälsen unter dem Gold der seidigen Felle. Und vergebens herrscht ringsum Frost – soviel stürmisches Leben und feurige Lüge ist in ihnen.

In diesem Moment steht über dem Garten Eden die Sonne. Diese Sonne ist orange und unnahbar. Solch einen Zustand nennt man Dämmerlicht, ein Licht wie im Garten Eden, das heißt dort, wo schon alle gestorben sind. Und das Licht strömt und strömt ohne Ende, weil ja die Quelle des Lichts keineswegs die Sonne ist, sondern das Glimmen des Lebens. Aber das Licht dort ist sehr gleichmäßig und, wie es heißt, unbeschreiblich, es birgt also eine Menge unterschiedlicher Gefühle, die sich tatsächlich nicht alle ausdrücken lassen, zumindest nicht gleichzeitig, und wenn man doch versuchen wollte, sie auszudrücken, dann immer eins nach dem anderen, und anfangen muss man mit den Gefühlen, die in der Magengrube ziehen beim Anblick dieses Lichts.

Schon in der Schule dachte ich, dass ich mit diesem Licht besser würde umgehen können als die anderen, nicht etwa, weil der Tod mich weniger schreckte als sie, sondern weil ich viel mehr Angst hatte als alle und weil ich mich ihm von Anfang an, schon auf der Schulbank, genähert habe. Das machte der rötliche Berg vor unserem Haus. Rötlich, weil dort immer Herbst war – ein eiserner Herbst mit kupfernen Laubsystemen, der mal zu Kobalt oxydierte in allen Schattierungen des Vitriol, mal zu rostigem Blätterwinter unter dem Schnee, in dem meine Knie versanken, wenn ich mit nassen Füßen herumlief in den alten Straßen mit den halbzerfallenen Häusern, über die haarfeine Risse krochen. Und dieser Geist eines unvergänglichen Vergehens und dieser unvergängliche Geist eines unaufhaltsamen Zerstörens und Zerschrundens, in dem schon ein neues Leben lebte – ein äußerlich vielleicht völlig anderes, als wir uns das Leben vorstellen –, er, dieser Geist, nahm mich an der Hand und wirbelte mich durch die Höfe und die Zimmer und dann wieder hinunter und wieder den Berg hinauf, oder er tanzte als Karussell kleiner Kreisel, was nur jene Blätter sichtbar machten, die ganz am Rand dieser Wirbel und Pirouetten des Windes trudelten.

Meine ganze Kindheit spielte sich in diesen Schrunden der verschlungenen Straßen ab. Aber das Schlimmste war gar nicht die Kindheit. Das Schlimmste war das Bedauern, das später kam. Diese Kindheit war beherrscht von Skeletten und dem schaurigen Anatomischen Theater, in dem in Spiritus weiße und rote Offiziere, Handlungsgehilfen, Wäscherinnen und Krämer aus dem vorigen Jahrhundert standen. Man denke nur, Anatomisches Theater, das ist ja vollkommen unvereinbar – Theater und Anatomie. Das ist genauso unvereinbar wie Borschtsch und Saturn.

Dennoch existierte in unserer Stadt eine Anstalt solchen Namens, und sie befand sich an der Kreuzung Funduklejew- und Pirogow-Straße.

In Sachartschenkos Reiseführer von 1888 heißt es, neben den Hörsälen und allen für das Studium der Medizin notwendigen Einrichtungen verdiene im Anatomischen Theater das Museum Beachtung, in der oberen Etage, vom Haupteingang über zwei Treppen zu erreichen. Die Präparatesammlung des Anatomischen Museums besteht aus drei Teilen:

  1. Der aus Wilna überstellte Teil umfasst 1530 Exponate und enthält alles Notwendige für den Unterricht in Anatomie. Gut die Hälfte dieser Sammlung, 881 Exponate, besteht aus Präparaten der Knochenentwicklung und stellt die einzige Kollektion dieser Art in ganz Europa dar. Diese Sammlung ging nach Auflösung der Wilnaer Akademie an die Universität des Hl. Wladimir und wurde unter der Aufsicht von Professor W.A. Karawajew nach Kiew überführt.
  2. Die Sammlung von Professor Walter besteht aus Präparaten, die die Wilnaer Sammlung ergänzen, ferner aus Wachspräparaten zur Entwicklungsgeschichte unterschiedlicher Embryonen sowie einer Schädelsammlung.
  3. Die Sammlung von Professor W.A. Betz besteht aus anatomischen und histologischen Präparaten des Gehirns; die Sammlung umfasst an die 10000 Exponate und ist ebenfalls die einzige dieser Art in Europa.

Jahre später entdeckte ich einen ähnlichen Ort in Palermo, aber er war nicht anatomisch, sondern auf die Unsterblichkeit zur Stunde der Auferweckung spezialisiert, das heißt zu jener Stunde, wenn man dich endlich zum Empfang aufruft. Das waren Katakomben von Kapuzinermönchen. In langen Korridoren lagen Tausende Mumien, über das Geheimnis ihrer Mumifizierung schweigt der Orden. Bekannt war nur, dass man zur Konservierung große Mengen Essig brauchte, was wiederum die sizilianischen Kellermeister nicht vergaßen. Einmal in fünfzig Jahren wurden die Mumien in frische Gewänder nach der neuen Mode umgekleidet, denn auch die Toten sollen nicht hinter dem Fortschritt zurückbleiben.

Auch in Kiew gibt es so eine Nekropole. In die Hügel über dem mächtigen Fluss gehauen liegen die Katakomben des Kiewer Höhlenklosters. Früher ging man mit Kerzen hinein. In meiner Kindheit wurde Strom gelegt. Zu sowjetischer Zeit schlichen dort Diebe umher; beim Kloster erwarteten sie schon die findigen Händler heiliger Reliquien. In unseren Katakomben liegen nur Mönche, und sehen kann man sie auch fast nicht. Manchmal zeigt sich unter dem vermoderten Stoff unter trübem Glas eine trockene Hand. Es heißt, dass die Gerechten hier nicht verwesen. Einmal hatte man einen Gottlosen beigesetzt – ihn fraßen die Ratten.

Über das Anatomische Theater aus Zaren- und weißgardistischen Zeiten sprachen alle mit dekadenter Schwermut, und genauso tönte mit einem besonderen silbernen Tenor der Schürzenjäger und Freund meines Vaters Ju.A., der mehrere Kochbücher über die französische Küche verfasst hatte und absichtlich mit polnischem Akzent sprach. Er gab sich als Pole aus, denn in Kiew gaben sich viele als Polen aus, besonders die, die tatsächlich Polen waren oder das Glück hatten, einen polnischen Nachnamen mit Zischen und Schnalzen zu tragen. Und obwohl sie keine halbkapitalistischen westlichen Polen waren, verlieh ihnen das einen beinahe ausländischen Chic, denn von Warschau nach Paris ist es ein Katzensprung. Diese Leute kleideten sich extravagant, trugen dünkelhaft irgendwelche flachen Strohhüte und Halstücher mit Rautenmuster und wiederholten ständig: »Ein Huhn ist kein Vogel, kein Ausland ist Polen.« Lauter falsche Barone, die »Küss das Händchen« näselten.

Wie auch immer, einer von ihnen, Ju.A., war Weinkenner, und das in einer Gegend, in der kein Wein wuchs, sondern vor allem Rüben und Sonnenblumen, und in der man Kühe und Schweine für Speck züchtete. Aber zu den Schweinen haben die Städter ein sehr distanziertes Verhältnis, denn neben einem Schwein »Küss das Händchen« zu sagen oder sich wie ein Österreicher oder polnischer Adliger zu benehmen ist zumindest sonderbar. Dafür redete Ju.A. alle mit »Pan« oder »Pani« an.

Einmal, als ich gerade den Schewtschenko-Boulevard hinunterging und auf den Kreschtschatik einbiegen wollte, stieß ich auf Ju.A. Es war entsetzlich heiß. Im Ultraviolett wirkten die Pappeln tot und silbrig; träge, dem Fahrplan hinterher hechelnde Busse rollten zum Bahnhof. Auf dem Boulevard keine Menschenseele. Vor Hitze vergehend unter dem Rohseiden-Anzug und sich den Schweiß von der Stirn wischend, trug Ju.A. einen dicken Packen Manuskripte unter dem Arm. Er kam gerade von der Stenotypistin, die nun schon zum dritten Mal sein kulinarisches Werk abgetippt hatte. Ju.A. erkundigte sich fürsorglich, wie es bei mir zu Hause geht, fragte nach, wie sich meine Schulangelegenheiten entwickeln, und erkundigte sich, ob ich Maschinenschreiben gelernt habe. Dann beklagte er sich über die Hitze. Genauer, er verwünschte sie mit einem gutmütigen Lächeln und fragte unvermittelt:

»Pani Julia, wie alt sind Sie eigentlich?«

»Zwölf«, antwortete ich, mir ein Jahr zugebend, um älter und seriöser zu erscheinen.

...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Vesna na lunje
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • Erzählung • Erzählungen • Kiew • Roman • Romane • Ukraine
ISBN-10 3-518-73078-9 / 3518730789
ISBN-13 978-3-518-73078-2 / 9783518730782
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