Lo und Lu (eBook)

Roman eines Vaters
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10865-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lo und Lu -  Hanns-Josef Ortheil
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Hanns-Josef Ortheil erzählt Geschichten aus dem Leben seiner beiden Kinder Lo und Lu - von Anfang an bis zu ihren ersten Jahren in der Schule. Als Schriftsteller-Vater, der zu Hause arbeitet, ist er ein guter Beobachter und Mitspieler bei den kleinen Geschichten und Begebenheiten, in denen die Kinder die Hauptrolle spielen. Ehe er sich anfangs darüber Gedanken machen kann, wie das Alltagsleben in der größer gewordenen Familie organisiert werden soll, haben schon die Kinder die Regie im Haus übernommen ...

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Das erste Mal


Heute bin ich zum ersten Mal mit Lu allein, denn am frühen Morgen kämmt La Mamma ihr schönes langes Haar, wählt die weiße Bluse und den weiten, knapp über dem Boden schwingenden Rock, legt die kleine Halskette an, greift nach ihrer schwarzen Aktentasche und verschwindet mit Lo, unserer Tochter, die gerade mal zwei Jahre alt ist. Lo wird den Vormittag bei einer Freundin verbringen, La Mamma aber wird ihr frisch gestrichenes und neu eingerichtetes Verlagsbüro mit dem blauen Fußboden beziehen und wieder mit der täglichen Verlagsarbeit beginnen. La Mamma ist Verlegerin und will es bleiben, auch wenn es neben Lo inzwischen auch Lu gibt, einen Sohn, der jetzt zwei Monate alt ist.

Lu liegt oben, im Kinderzimmer unseres Hauses, das wir nur das Gartenhaus nennen, weil es kein eigenes Haus ist, sondern ein Haus inmitten eines Gartens. Wenn man »Garten« sagt, stellt man sich darunter etwas Gebändigtes, Überschaubares vor, etwas mit schmalen Pfaden und Wegen, Rabatten und kleinen, nierenförmigen Teichen. So eine Art Garten ist unser Garten jedoch nicht, es ist vielmehr ein großes, überhaupt nicht zu bändigendes Stück Land, ein ehemaliger Weinberg, ein weites Gelände mit Obstbäumen und Wiesen, ein halber Bergrücken, hoch über der Stadt ... − aber was schreibe ich und was denke ich nach über Gärten?

Lu liegt oben, in seiner Wiege, die aus einem großen braunen Korb auf Rädern besteht, er liegt unter einem weißen Zelthimmel, von dessen Spitze ein Mobile zu ihm herab baumelt, er liegt in diesem Paradiesbett und schläft. Ich könnte die schmale Treppe zu ihm hinaufgehen, aber ich lasse das lieber, das Geräusch der knarrenden Holzstufen könnte ihn wecken.

Was aber mache ich? Ich könnte mich an meinen Schreibtisch setzen, um ein wenig zu arbeiten, aber auch das lasse ich lieber, weil ich für die Arbeit die Illusion brauche, zeitlich unbegrenzt arbeiten zu können, und weil allein der Gedanke daran, daß ich bei Lus ersten Regungen mit der Arbeit aufhören muß, das Arbeiten unmöglich macht.

Vielleicht gelingt es mir, etwas zu lesen, eine schwierige Lektüre darf es allerdings auch nicht sein, weil ich mich an diesem Morgen, an dem ich etwas aufgeregt und angespannt bin, nicht gut werde konzentrieren können. Eine leichte Lektüre also, vielleicht die Zeitung, das müßte gehen, aber als ich die Zeitung aufschlage, bemerke ich sofort, daß ich noch nie am frühen Morgen die Zeitung gelesen habe, sondern meist erst nach dem Essen am Mittag.

Die Stunde nach dem Essen am Mittag erschien mir immer als die ideale Stunde für meine Zeitungslektüre, denn am frühen Morgen möchte ich mir den Kopf nicht vollstopfen mit all den Meldungen und Kommentaren und den unterschiedlichen Themen, die sich am Mittag schon etwas gesetzt und beruhigt haben und bis zum Abend dann beinahe dramatisch altern.

Vielleicht sollte ich etwas aufräumen, in der Küche gäbe es reichlich Anlaß dazu, aber ein so frühmorgendliches Aufräumen, Wischen und Putzen würde mich sofort in die Rolle eines Hausmannes drängen. »Hausmann« ist ein schreckliches Wort, ich werde mich hüten, auch nur in die Nähe eines Hausmannsdaseins zu geraten, denn natürlich bin ich kein Hausmann, der kocht, putzt, wäscht, sondern ein Schriftsteller, der durch seine Arbeit ans Haus gebunden ist, aber nicht für das Haus, ausschließlich, als Hausmann, lebt.

Nun gut, ich sollte mich nicht zu sehr ereifern, ich werde mir einen zweiten Tee kochen, mich an den Eßtisch setzen und hinaus in den Garten schauen, der kein Garten ist, sondern ein Stück weiter Natur. Ich werde aus dem Fenster schauen, einfach so, lange habe ich nicht mehr ruhig und grundlos aus dem Fenster geschaut, weil es immerzu etwas zu tun, zu arbeiten, zu richten gibt, als bestünde das Leben aus lauter Aufräum- und Richtarbeiten, ein endloser Schwanz kleiner Erledigungen, die einen vom Wesentlichen nur abhalten.

Was aber wäre das Wesentliche, zum Beispiel? Ich werde mir einen zweiten Tee kochen und darüber nachdenken, was das Wesentliche ist. Ein ruhiges, langes Schauen in den Garten könnte zum Beispiel schon etwas Wesentliches sein, ein Sich-Abwenden vom Zufall der Tage, ein Sich-Hinwenden zum Dauerhaften und Unwandelbaren, nun ja, vielleicht sehe ich das etwas zu streng, ich muß noch genauer darüber nachdenken ...

Lu scheint wirklich gut und tief zu schlafen. Seit er am Morgen getrunken hat, schläft er nun bereits zwei Stunden, er kann also nicht mitbekommen haben, daß La Mamma nicht mehr im Haus ist, nein, ausgeschlossen, die Frage ist nur, ob er es bemerken wird, wenn er aufwacht. Was mache ich dann? Was mache ich, wenn er nach niemand anderem verlangt als nach La Mamma, wenn er an ihrem schönen, langen Haar ziehen und sich an ihre Brust flüchten will, während er nur das kurze, kratzende Vaterhaar zu fassen bekommt und eine frontale, spröde und unzugängliche Männerbrust, an der es nichts zu entdecken gibt?

Jetzt höre ich ihn, die Wiege bewegt sich, ein leises Seufzen, oder irre ich mich? Auf Zehenspitzen gehe ich die wahrhaftig leicht knarrenden Treppenstufen hinauf, da liegt er und schläft, er schläft also immer noch, anscheinend hat er sich nur im Schlaf bewegt, das kommt schon einmal vor, auch Erwachsene bewegen sich ja im Schlaf, Schlafforscher haben sogar herausgefunden, daß wir uns ununterbrochen im Schlaf bewegen.

Kein Grund zur Beunruhigung also, Lu schläft noch immer tief, vielleicht aber schläft er bereits etwas zu lang, obwohl es ja ein gutes Zeichen sein soll, wenn kleine Kinder ungestört schlafen. Lus Schlaf ergibt übrigens ein sehr schönes Bild, viel schöner als die Natur draußen vor unserem Eßtischfenster, vielleicht hat das Bild von Lus Schlafen ja etwas vom Wesentlichen, beinahe kommt mir das jetzt so vor.

Ich werde nicht mehr hinuntergehen, ich werde mich hierhin, in die Nähe seiner Wiege, setzen, um dieses Bild zu betrachten, Lus kleinen, etwas nach hinten gereckten Kopf, das feine Lächeln um seinen Mund, den inneren Frieden, der ein Bild der Beruhigung und Entspannung hinterläßt und der doch in vielem an den Frieden des gelassenen Alters erinnert, wie ja überhaupt dieses Gesicht auch Züge des Alters und einer vorweggenommenen Weisheit hat, das ist seltsam, man bekommt die Augen ja gar nicht fort von diesem Gesicht und den kleinen Trauben von Luftbläschen, die wie ein feiner Schaum zwischen den Lippen nisten.

So dauerhaft anstarren kann ich Lu aber auch nicht, nein, ich kann ihm nicht stundenlang beim Schlafen zuschauen, das gehört sich doch nicht, wer will schon beim Schlafen beobachtet werden, ich jedenfalls nicht. Ab und zu aber werde ich einen begeisterten Blick in sein Bett werfen, ja, das schon, einen solchen Blick erlaube ich mir, so daß es vielleicht am besten ist, wenn ich eine Weile in mich selbst hineinblicke und über das Wesentliche nachdenke, zwischendurch aber zu ihm hinüberschaue, so ein hin und her wandernder Blick könnte das Richtige sein, eine Art Blickwechsel, oder wie soll ich das nennen?

Es ist gar nicht so leicht, in Gegenwart eines tief schlafenden Kindes eine angemessene Position einzunehmen, auch darüber muß ich einmal nachdenken und mich fragen, welche Positionen überhaupt in Frage kämen, um notfalls gleich die richtige Wahl treffen zu können. Kleine Kinder stellen einen schon durch ihre bloße Gegenwart vor die seltsamsten Fragen, auf die man sonst niemals kommen würde. Plötzlich beginnt man, sich eine Frage nach der anderen zu stellen, während man zuvor doch auch gut ohne diese Fragen auskommen konnte. Und jetzt? Nur noch Fragen, von denen alles abhängt, die Zukunft, ein Menschenleben ...

Jetzt wacht Lu auf, es ist soweit, diesmal täusche ich mich nicht. Er wendet den Kopf mehrmals nach links und nach rechts, streckt sich, ein wenig zitternd, öffnet langsam die Augen, greift mit den Händen ins Leere und schluckt den Speichel herunter, während die Bläschen auf seinen Lippen sich auflösen. Ich sollte ihm Zeit lassen, zu sich zu kommen, und mich nicht sofort zeigen, ich könnte ihn sonst leicht erschrecken, zumal er ja vielleicht den Anblick von La Mamma erwartet, die aber jetzt in ihrem neuen Verlagsbüro sitzt und nichts von den Fragen ahnt, die sich mir stellen.

Die nächste Frage: Wie soll ich jetzt in Erscheinung treten, einfach aufstehen und mich über Lus Bett beugen, oder mich zunächst entfernen, um dann aus der Ferne näher zu kommen? Das plötzliche Aufstehen erscheint mir nicht richtig, Lu könnte den Eindruck bekommen, ich hätte die ganze Zeit neben seinem Bett auf sein Aufwachen gewartet, und damit vielleicht die Erwartung verbinden, daß ich von nun an immer neben seinem Bett auf sein Aufwachen warten werde. Vermuten könnte er auch, ich beobachtete ihn heimlich, obwohl ich nicht glaube, daß er bereits zu solchen Vermutungen und sich daran anschließenden Schlußfolgerungen fähig ist, aber was weiß ich schon, wozu er überhaupt in der Lage ist, vielleicht denkt es unaufhörlich in seinem Kopf, darüber sollte ich etwas wissen, allerdings lassen sich solche Fragen nicht durch bloßes Nachdenken beantworten, sie verlangen geradezu schreiend nach exaktem Wissen.

Warum denke ich aber gerade jetzt an exaktes Wissen, während doch die viel näherliegende Frage zu beantworten ist, wie ich mich Lu nähern soll. Ich könnte die knarrenden Treppenstufen auf allen vieren wieder hinunterkriechen und dann mit markantem, deutlichem Auftreten wieder hinaufgehen, das wäre eine Möglichkeit, obwohl es eine lächerliche Vorstellung abgäbe, auf allen vieren, geduckt, eine Treppe hinabzukriechen und sie auf beiden Füßen, hoch erhoben, wieder hinaufzugehen, ein heimlicher Beobachter könnte vermuten, ich spielte die Epochen der Evolution durch, vom Hüpfschritt zum...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • autobiografischerRoman • Beobachter • "Die Erfindung des Lebens" • eBooks • Familie • Kinder • Roman • Schulkinder • Vater
ISBN-10 3-641-10865-9 / 3641108659
ISBN-13 978-3-641-10865-6 / 9783641108656
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