Frost (eBook)

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2013 | 1. Auflage
315 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78470-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frost -  Thomas Bernhard
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Ein Medizinstudent nimmt den Auftrag an, den Kunstmaler Strauch zu beobachten, der sich in das Gebirgsdorf Weng zurückgezogen hat. In seinen Aufzeichnungen hält er die Monologe und Visionen Strauchs fest, bis er entdeckt, daß diese Begegnung, die er bewältigen zu können glaubte, ihn selbst überwältigt.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Ober&ouml;sterreich). Er z&auml;hlt zu den bedeutendsten &ouml;sterreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 B&auml;nden.</p>

Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.

Cover 1
Informationen zum Buch 2
Impressum 4
Frost 5
Erster Tag 7
Zweiter Tag 8
Dritter Tag 16
Vierter Tag 26
Fünfter Tag 30
Sechster Tag 42
Siebenter Tag 49
Achter Tag 82
Neunter Tag 92
Zehnter Tag 106
Elfter Tag 115
Zwölfter Tag 123
Dreizehnter Tag 135
Vierzehnter Tag 144
Fünfzehnter Tag 162
Sechzehnter Tag 187
Siebzehnter Tag 197
Achtzehnter Tag 207
Neunzehnter Tag 218
Zwanzigster Tag 236
Einundzwanzigster Tag 245
Zweiundzwanzigster Tag 255
Dreiundzwanzigster Tag 271
Vierundzwanzigster Tag 277
Fünfundzwanzigster Tag 289
Sechsundzwanzigster Tag 301
Meine Briefe an den Assistenten Strauch 314
Siebenundzwanzigster Tag 328

DRITTER TAG


»Ich bin kein Maler«, hat er heute gesagt, »ich bin höchstens ein Anstreicher gewesen.«

Zwischen ihm und mir ist jetzt eine Spannung, die unter und über uns ihr Verhältnis zwischen uns herstellt. Wir waren im Wald. Wortlos. Allein der nasse, die Füße mit seinen Kilogewichten belastende Schnee redete, unverständlich zwar, doch dauernd, dazwischen. In das Schweigen. In die unhörbaren Wörter, die, gedacht, da und doch nicht da waren. Immer wieder will er, daß ich vorausgehe. Er hat Angst vor mir. Aus Geschichten und aus Erfahrung weiß er, daß einen junge Leute von hinten anfallen, ausrauben. Die Physiognomie täuscht oft über Mord- und Raubwerkzeuge hinweg. Die Seele, insofern man diese »Durchwanderin aller Gesetze« so zu bezeichnen aufgelegt ist, weil man einmal an sie glaubt, schreitet aus, aber der Verstand, aus Mißtrauen, Furcht und Argwohn zusammengesetzt, bleibt zurück, macht eine Falle unmöglich. Obwohl ich sage, ich kennte mich überhaupt nicht aus, läßt er mich vor sich her gehen. Ab und zu räumt ein Kommando wie ›links‹ oder ›rechts‹ mit meiner Meinung auf, er wäre allzuweit fort, in Gedanken. Diese Befehle führe ich völlig im dunkeln tappend und in Ungeduld aus. Merkwürdig war, daß ich überhaupt kein Licht sah, an dem ich mich hätte orientieren können. Es war wie ein Dahinrudern, auch des Geistes, und das Gleichgewicht ist da überall und auch nirgends. Was täte ich, wenn ich jetzt allein wäre? Das war so ein Gedanke, der plötzlich aufgetaucht ist. Der Maler ging hinter mir her wie eine ungeheuere Belastung meines Nervensystems: als zöge er hinter meinem Rücken fortwährend Konsequenzen. Er keuchte dann wieder und forderte mich auf stehenzubleiben. »Diesen Weg gehe ich täglich«, sagte er, »ich gehe ihn schon jahrzehntelang. Ich könnte ihn im Schlaf gehen.« Ich machte den Versuch, Näheres über den Grund, warum er jetzt in Weng ist, zu erfahren. »Meine Krankheit und alle Gründe zusammen«, sagte er. Ich hatte mir keine ausführlichere Auskunft erwartet. Ich beschrieb ihm, so gut ich konnte, in Stichworten, an die ich Lichtblicke oder auch etwas Trauriges heftete, mein Leben, wie es mich, meiner Ansicht nach, zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin – ohne zu verraten, wer ich, im Augenblick, wirklich bin –, und mit einer Offenheit, die mich selber überraschte. Aber es interessierte ihn gar nicht. Er interessiert sich nur für sich.

»Wenn Sie wüßten, wie alt ich dem Kalender nach bin, Sie würden erschrecken«, sagte er. »Sie stellen sich sicher vor, ich sei ein alter Mann, womit die Jungen ja schnell zur Hand sind. Es würde Sie vor den Kopf stoßen.« Es schien, als verfinstere sich sein Gesicht noch um einige Grade der Hoffnungslosigkeit. »Die Natur ist grausam«, sagte er, »am grausamsten aber ist sie gegen ihre schönsten, erstaunlichsten, von ihr selbst erwählten Talente. Sie zerstampft sie, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Er hält nicht viel von seiner Mutter, noch weniger von seinem Vater, und seine Geschwister seien ihm mit der Zeit so gleichgültig geworden, wie er ihnen, glaubt er, immer gleichgültig gewesen ist. Wie er das aber vorbringt, das macht klar, wie sehr er seine Mutter geliebt hat und seinen Vater und seine Geschwister. Wie er an ihnen hängt! »Alles ist immer düster gewesen für mich«, sagt er. Ich führte ihn ein Stück meine Kindheit entlang. Er sagte darauf: »Jede Kindheit ist gleich. Nur erscheint die eine in einem alltäglichen, die andere in einem milden, die dritte in einem teuflischen Licht.«

Im Haus begegnen sie ihm, wie mir scheint, mit der nötigen Hochachtung. Hinter ihm aber schneiden sie alle Gesichter.

»Man weiß von ihren Exzessen. Man riecht ihre Geschlechtlichkeit. Man fühlt, was sie denken, vorhaben, diese Menschen, man fühlt, was Unerlaubtes in ihnen sich ständig zusammenzieht. Ihre Betten stehen unter dem Fenster oder hinter der Tür, oder es handelt sich überhaupt nicht um Betten: in ihnen bringen sie sich von einem auf das andere Fürchterliche ... Wie mit einem gut zugeschlagenen Fleisch gehen die Männer mit ihren Frauen um und umgekehrt, die einen mit den anderen, wie mit untergeordnetem Schwachsinn. Das könnte man alles als große Verbrechen verrechnen. Das Primitive ist Allgemeingut. Manche reagieren auf Absprache, andere wissen alles so gut wie von Natur aus ... die Hosen, die ihnen zu eng sind, die Röcke machen sie wild in sich selber. Die Abende ziehen sich in die Länge: das geht nicht! Ein paar Schritte hinein, heraus, dahin, dorthin, um nicht erfrieren zu müssen ... Der Mund wird gehalten, das andere tobt sich aus ... der Morgen zieht einem übers Gesicht, daß man gar nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Das Geschlechtliche ist es, das alle umbringt. Das Geschlechtliche, die Krankheit, die von Natur aus abtötet. Früher oder später ruiniert es selbst tiefste Innigkeit ... bewirkt die Umwandlung von dem einen ins andere, von Gut in Böse, von da in dort, von oben in unten. Gottlos, weil der Ruin vor allem eintritt ... aus dem Moralischen wird dann ein Amoralisches, ein Modell für alles jemals Untergegangene. Doppelzüngigkeit der Natur, kann man sagen. Die Arbeiter, wie sie hier herumlaufen«, sagte er, »leben allein vom Geschlechtlichen, wie die meisten Menschen, wie alle Menschen ... leben einen fortwährenden bis an ihr Ende hinausgezogenen wilden Prozeß gegen Scham und Zeit und umgekehrt: der Ruin. Die Zeit versetzt ihnen Schläge, da ist dann ihr Weg nur mit Unzucht gepflastert. Die einen unterdrücken, bemänteln es besser, die anderen weniger gut. Wer geschickt ist, dem kommt man erst darauf, wenn schon alles umsonst ist. Es ist aber immer alles umsonst. Alle leben sie ein Geschlechtsleben, kein Leben.«

Wie lang ich in Weng bliebe, fragte er mich. Ich müsse, um mich auf einige im Frühjahr fällige Prüfungen vorzubereiten, schon bald nach Hause zurück, sagte ich. »Da Sie Jurisprudenz studieren«, sagte er, »ist es sicher ein leichtes für Sie, einmal eine Stellung zu finden. Juristen werden immer und überall angestellt. Ich hatte einen Neffen, der Jurist war, nur ist er verrückt geworden über Bergen von Akten und hat seine Staatsstellung liquidieren müssen. Er endete in Steinhof. Wissen Sie, was das ist?« Ich sagte, daß mir die Anstalt ›Am Steinhof‹ ein Begriff sei. »Dann wissen Sie ja, wie mein Neffe geendet hat«, sagte er.

Ich war auf einen schwierigen Fall vorbereitet, nicht auf einen hoffnungslosen. ›Charakterstärke, die zum Tod führt‹, dieses Wort aus einem schon früh gelesenen Buch fiel mir ein, leitete die Gedanken ein, die ich nachmittags über die Person des Malers anstellte: wie kommt es, daß ihn nur der Selbstmord beschäftigt? Darf Selbstmord einem Menschen soviel wie geheime Lust sein, ihm so zusetzen, wie er will? Selbstmord, was ist das? Sich auslöschen. Mit Recht oder nicht. Mit welchem Recht? Warum nicht? Alle meine Gedanken versuchten sich an einem Punkt zu vereinigen, wo Antwort ist auf die Frage: ist Selbstmord erlaubt? Ich fand keine Antwort. Nirgends. Denn die Menschen sind keine Antwort, können keine sein, nichts, was lebt, auch nicht die Toten. Ich vernichte etwas, an dem ich nicht schuld bin, indem ich Selbstmord begehe. Das mir anvertraut ist? Von wem anvertraut worden? Wann? War ich mir damals bewußt, daß das geschah? Nein. Aber eine Stimme, die einfach unüberhörbar ist, sagt mir, daß Selbstmord Sünde ist. Sünde? So einfach? Todsünde? So einfach wie Todsünde? Daß es etwas ist, das alles einstürzen läßt, sagt die Stimme. Alles? Was ist denn ›alles‹? Sein Losungswort, ob er wach ist oder in Schlaf versunken: Selbstmord! Darin erstickt er. Ein Fenster nach dem andern mauert er zu. Bald hat er sich eingemauert. Dann, wenn er nichts mehr sieht, weil er nicht mehr einatmen kann, ist er überzeugend: weil er tot ist. Mir kommt es vor, als stände ich im Schatten eines mir nahen Gedankengangs, des seinen: seines Selbstmords.

»Ein Gehirn ist ein Staatsgebilde«, sagte der Maler. »Plötzlich herrscht Anarchie.« Ich wartete in seinem Zimmer, bis er sich seine Schuhe angezogen hatte. »Die großen Attakkierer und die kleineren Attackierer unter den Gedanken« schlössen, wie unter den Menschen, oft Bündnisse, um diese Bündnisse von einer Stunde auf die andere zu brechen. Und »Verstandensein und Verstandenseinwollen ist ein Betrug. Auf allen Irrtümern der Geschlechter beruhend.« Die Gegensätze herrschten gleichsam in einer Nacht, die ewig währe, über den Tag, der nur scheinbar handle. »Die Farben, wissen Sie, sind alles. Also sind die Schatten alles. Die Gegensätze haben große Farbwerte.« Es sei in vielem so wie mit Kleidern, die man kauft und ein paarmal anzieht und dann ablegt und nie mehr anzieht, bestenfalls wieder verkauft, nicht verschenkt, sie im Kasten verkommen läßt. Sie wandern auf den Dachboden oder in den Keller. »Man kann im Abend den Morgen abschätzen«, sagte er, »aber der Morgen ist dann doch immer überraschend.« Eine Erfahrung gebe es nicht, im strengen Sinn: »keinen Ausgeglichenen, daher!« Allerdings gebe es Möglichkeiten, nicht mehr ausgeliefert zu sein, nicht mehr rettungslos zu sein. »Diese Möglichkeiten aber habe ich nie gehabt.« Im Augenblick verliere das, worauf es für das Leben ankomme, seinen ganzen Wert. »Die Bemühung zieht sich an der Enttäuschung hinauf«, sagte er. Wie das eine glänzend, so geschehe das andere brutal, noch brutaler als das vorher Geschehende. »Für den oben Angekommenen stellt sich jedenfalls heraus, daß es Oben nicht gibt. So jung war ich wie Sie, da beruhigte es mich schon längst, zu wissen, daß nichts einer Anstrengung wert ist. Und es beunruhigte mich. Heute erschreckt es mich wieder. In diesem...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bernhard • Bernhard, Thomas • Bremer Literaturpreis • Roman • ST 47 • ST47 • suhrkamp taschenbuch 47 • Thomas
ISBN-10 3-518-78470-6 / 3518784706
ISBN-13 978-3-518-78470-9 / 9783518784709
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