Neue Zeit (eBook)

Mit einem Anhang: Briefe von Hermann Lenz

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
432 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-73102-3 (ISBN)

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Neue Zeit -  Hermann Lenz
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Peter Handke, der den »neben draußen« schreibenden Autor Hermann Lenz in den siebziger Jahren dem Publikum bekannt machte, hielt »Neue Zeit« für »poetischen Geschichtsunterricht«. Die »neue Zeit«, die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, ist für Hermann Lenz' Alter Ego Eugen Rapp eine Zeit der Ausgrenzung, des äußeren Zwangs. Der Münchner Kunstgeschichtsstudent, schon bald verlobt mit Hanne Trautwein, muss 1940 als Soldat zunächst den »Frankreichfeldzug« mitmachen, danach wird er nach Russland kommandiert. Ihn rettet allein sein stoisches Verhalten: nur das zu tun, was ihm ausdrücklich befohlen wird. »Neue Zeit«, 1975 zum ersten Mal erschienen, zählt zu den fesselnden Büchern innerhalb der Lenz'schen »Biographie des 20.Jahrhunderts«. Diese Ausgabe wird ergänzt durch bisher unbekannte Dokumente aus dem Nachlass von Hermann Lenz: Seine Verlobte und er haben sich während der zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft zahlreiche Briefe geschrieben: Eine Auswahl daraus, vorgenommen von Peter Hamm, beschließt den Band. So wird das Romangeschehen in ein neues, persönliches, authentischen Licht gerückt.

<p>Hermann Lenz wurde am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren und starb am 12. Mai 1998 in M&uuml;nchen. Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Lenz Theologie in T&uuml;bingen und anschlie&szlig;end von 1933 bis 1940 Kunstgeschichte, Arch&auml;ologie und Germanistik in Heidelberg und M&uuml;nchen. Von 1940 bis 1946 war er als Soldat in Frankreich und Russland stationiert und kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Seine schriftstellerische Arbeit begann Lenz 1946 in Stuttgart. Im selben Jahr heiratete er die Kunsthistorikerin Hanne Trautwein. Zu seinen Hauptwerken geh&ouml;ren die Romane <em>Andere Tage</em> und <em>Neue Zeit</em> um sein Alter Ego Eugen Rapp. Von 1951 bis 1971 war Lenz Sekret&auml;r des S&uuml;ddeutschen Schriftstellerverbandes.1972 begegnete er zum erste Mal Peter Handke. Ab 1975 lebte Lenz in M&uuml;nchen. Er erhielt zahlreiche Preise f&uuml;r seine Werke.</p>

ERSTER TEIL


Die Stadt wiedersehen, wo das Siegestor im Nebel näherrückte, das Siegestor, dessen Erzmedaillons die Marmorflanken schwärzten, weil über sie der Regen hundert Jahre lang herabgeflossen war. Dahinter regten sich die gelben Pappeln, schon fast ausgekämmt.

Wie früher umstanden Staketenzäune die Vorgärten der Schackstraße rechter und linker Hand, und immer noch war die Schackstraße kaum belebt, weshalb er dachte: bilde dir ein, man schriebe das Jahr neunzehnhundertsieben … obwohl vor dreißig Jahren jener Sessel bei Baronesse Vellberg nicht so abgewetzt wie heut gewesen wäre, sein Sammet aber schon zu jener Zeit die Farbe von trockenen Gräsern gehabt hätte; denn er entsann sich nun, als er wieder nach München kam, des Sessels, hoffte, daß er wieder in das Zimmer jener Baronesse einziehen könne, das im Hause Nummer sechs gelegen war, wo, ebenfalls wie vor drei Jahren, eine Tafel mit der Aufschrift ›Zimmer zu vermieten‹ hinterm Gitter der Haustüre und oben im dritten Stock am Fenster steckte; die Aufschrift hatte gotische Buchstaben.

Er ging hinauf und hörte, nachdem er geläutet hatte, die schnell hackenden Schritte der Baronesse und wie die Messingklappe hinterm gläsernen Türauge klickte, bevor sie öffnete, und er bemerkte, daß auch ihre runzelige Oberlippe noch dieselbe war. Es dehnte sich der dunkle Flur mit hohen Schränken, und sie sagte: »Sie haben doch schon mal bei mir gewohnt.« – »Dann kennen Sie mich also noch?« – »Natürlich«, antwortete sie, als wundere sie sich, und führte ihn zur Glaswand mit der nachgiebigen Klinke an der gedämpft klirrenden Türe, hinter der, wie früher, ein kindlicher Engel aus Raffaels Sixtinischer Madonna auf einem Pastellbild schwärmerisch nach oben blickte und der Schreibsekretär wie ehemals am Fenster stand.

Es fehlte nur der Sessel, und er sagte: »Ich vermisse Ihren Sessel. Sie hatten damals einen mit hellgrünem Plüsch; der war so breit; der hat mir so gefallen.«

Sie sagte, daß er im anderen Zimmer stehe, und später trug er ihn hinüber, weil der Mieter des anderen Zimmers damit einverstanden war. Sein eiserner Ofen rauchte, wurde aber schon am nächsten Vormittag geputzt; weshalb ihm nichts mehr fehlte, weil sogar der Klosettdeckel, ein bequemer und aus Eschenholz, sich nicht verändert hatte; sauber und ein bißchen rauh gescheuert, erwartete er ihn in dieser alten Wohnung. Und auch im Café Stefanie war es noch derselbe, wo alle dunklen Marmortische weiß geädert waren und die Kellnerin, die große mit dem dichten Haar, in dessen Blond sich ein paar helle Fäden eingewoben hatten, noch so elegant zerstreut wie früher aussah; wobei er wieder dachte, vielleicht habe sie ihre zerstreute Eleganz bei einem Maler als Modell gelernt.

Im Speiselokal ›Ceres‹ wußte die ältere Dame immer noch, was er gern aß (einen Gemüsescheiterhaufen für fünfundvierzig Pfennig), und ihr Gesicht war ebenso pferdähnlich und ein bißchen bärtig wie vor Zeiten, freilich bloß in den Mundwinkeln, wo weiße Härchen kaum auffielen. Als er zu ihr sagte: »Ja, ich war drei Jahre weg«, wunderte sie sich, weil das nun auch schon wieder lange her war.

 

Verschoben aber hatte es sich trotzdem, auch wenn die Marmortischchen im Café, die Möbel der Baronesse Vellberg, die Türklinken, die Trottoirs, ja auch die Häuser dieselben geblieben waren, in der Universität immer noch zwei gefesselte Sklaven aus Gips ihre muskulösen Schultern reckten und hinter ihnen das Messingschloß so laut aufschnappte wie zuvor. Und er ging hinein und wurde angemeldet beim Professor, einem schweren Mann, der aus den Augenwinkeln guckte, ein blinzelnder Eberkopf. – »Ich weiß ja nicht, wie Sie arbeiten …« sagte der. Und nach einer Schweigepause: »In Heidelberg muß es im Seminar unerfreulich gewesen sein.« – »Jawohl.« Mehr darfst du nicht erzählen, und Schweigen fällt dir sowieso nicht schwer … Und er erinnerte sich an die Unterschrift dieses Professors, deren tz tief nach unten zuckte (du kannst dir daran die Hand blutig reißen); und der Hakenkreuzwimpel am Volkswagen des Professors war so rot wie jeder andere. Trotzdem sprach er im Kolleg öfter über seinen Lehrer Adolf Goldschmidt, einen Juden; weshalb es nicht sein konnte, daß der meinte … Und also war der Wimpel mit dem Hakenkreuz für den Professor nur … Ja, was denn eigentlich?

Du weißt es nicht und kennst dich in dem Mann nicht aus, der dich immerhin aufgenommen hat ins Seminar, und du kannst froh sein … Und wieder saß er, während er von dem Professor wegging, gedankenweise im Café Schafheutle zu Heidelberg, wo Wieland, sein Freund und ein Student wie er, lächelnd, ein Zuckerstück in seinen Kaffee hatte fallen lassen, bevor er ihm mitteilte, Eugens Professor sei entlassen worden. Und später hatte der Professor (Grauerbach war sein Name) in der Hauptstraße zu ihm gesagt: »Jetzt müssen Sie sich einen andern Doktor-Vater suchen.« Lang und hager stand er da, nickte und war am Ende gar ein bißchen froh, daß er so glimpflich weggekommen war als ein älterer Herr, der noch zwei unmündige Kinder hatte; vielleicht, daß seine Frau und ihn die beiden unmündigen Kinder schützten, denn ohne Kinder mit einer Jüdin verheiratet zu sein, dürfte sich düsterer auswirken … Und du gedenkst der beiden Kinder, eines Mädchens, eines Buben, wie sie vor dir stehen, nachdem du Grauerbachs Mantel mit dem Pelz nach außen angezogen und einen Wattebart umgehängt hattest, in seine Skistiefel geschlüpft warst, und heute noch kommt's dir so vor, als ob du den Weihnachtsmann damals allzu schwäbisch, allzu räß und mürrisch gespielt hättest … Das Mädchen, die Manon, war nah am Weinen, während der Bub hernach zu seinem Vater gesagt hatte, er glaube, daß der Weihnachtsmann Herr Rapp gewesen sei.

 

Dich hinter deine Arbeit klemmen; sonst gilt hier nichts. Und weil er über die Apollodarstellungen Albrecht Dürers eine Arbeit machen mußte, wälzte er das dicke Buch eines Experten namens Flechsig um, bemühte sich, das dicht gewobene Gedankengespinst dieses Flechsig aufzudröseln, und meinte, daß ihm dies niemals gelingen werde. Zwischendurch kam es ihm freilich vor, als schriebe Flechsig lediglich von Dürers Art, nackte Männer mit Schraffuren und mit Häkchen darzustellen, was verdienstvoll war, weil dasselbe Häkchen- und Schraffurenmuster auf Dürers Porträtzeichnungen vorkam, die der Meister ums Jahr fünfzehnhundertfünfzehn gemacht hatte; weshalb behauptet werden durfte, diese Apollodarstellungen, auf denen Gott Apollo einmal eine Kugel, dann wieder eine Sonne mit stacheligen Strahlen in der ausgestreckten Hand hielt, seien ebenfalls um fünfzehnhundertzehn gemacht worden. Die Proportionen des menschlichen Körpers, falls derselbe harmonisch gebildet war, hatten Dürer damals auch interessiert, während Eugen Rapp, wenn er in Flechsigs Buch las, oft nach hinten horchte, wo ein Mädchen namens Treutlein am Fenster saß; oder sie kam nach dem Kolleg unter den anderen herein, flüsterte bayerisch mit einer rotbackigen blonden Schwäbin, war aber selbst schwarzhaarig und hatte große Augen.

 

Dann wieder diese Einsamkeit in München, von der er sich einredete, sie passe zu Novembernebeln und zu seiner Arbeit über die Apollodarstellungen Dürers.

Um ein Uhr nachmittags, wiederum das Café Stefanie, wenn es beinahe leer war und ihm die Kellnerin mit dem grau durchwobenem Haar nahezu wohlgestaltet vorkam, denn sie gehörte zum alten Café. Gerade noch stand das alte Café, als ob es warte, und auf was? Gerade noch paßte es zu den Menschen, obwohl es aus einer andern Welt als Überbleibsel in die Gegenwart hereinsah und sich als ein Überbleibsel fühlte. Doch so geziemte es sich fürs Café, dessen Kellnerin er ums Adreßbuch bat, weil er jetzt wissen wollte, ob darin die Eltern jenes Fräuleins Treutlein standen, die in der Mannheimer Straße Nummer fünf zu Hause war; er wußte dies aus einer Liste, die im Seminar gelegen hatte. Es paßte auch zum nassen Schnee am Nachmittag, daß er hinter breiten Scheiben saß und die Straße überschauen konnte. Vielleicht sah ihn hier einmal Fräulein Treutlein im Vorübergehen; und er stellte sich vor, wie sie dann mit erfrischtem Gesicht in der Winterkälte lächeln würde, die großen Augen unter dichten und über der Nasenwurzel einander berührenden Brauen, anders als die andern.

Er verließ das Café Stefanie, nachdem er aus dem Adreßbuch erfahren hatte, daß ihr Vater Professor war und ihre Mutter Marie Edith mit Vornamen hieß, ging über das benäßte Trottoir der Ludwigstraße am Odeonsplatz, wo neben ihm ein Fotograf seine Leica klicken ließ und sagte: »Einen Moment, der Herr!« Er gab ihm zwei Mark und bekam eine Karte mit der Adresse dieses Fotografen, wartete drei Wochen lang auf die Fotografie, jetzt schon neugierig oder ungeduldig, weil er allein lebte und im Zimmer bei Baronesse Vellberg immer wieder auf rote Blechdächer schaute, die im Regen glänzten. Und weil er seit vier Jahren den Zettel mit dem Namen und der Adresse einer namens Julie Geldmacher im Geldbeutel bei sich hatte, einen Zettel, auf dem ›Leopoldstraße 76/IV‹ stand und wo sich zwischen den Schriftzügen eine römische Münze patinagrün abgebildet hatte, fiel ihm ein, daß er nach der Geldmacher fragen könnte.

Es regnete, er nahm den Schirm, ging zwischen Pfützen neben vom Wind ausgekämmten Pappelbäumen hinterm Siegestor, dachte an Fräulein Treutleins Adresse (Mannheimer Straße fünf) und nahm sich vor, die Straße jetzt zu suchen; fand auch in einer Gegend, von der er meinte, früher hätten sich dort Schrebergärten ausgestreckt, nicht weit von einer...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Deutschland • Geschichte 1937-1946 • Junger Mann
ISBN-10 3-458-73102-4 / 3458731024
ISBN-13 978-3-458-73102-3 / 9783458731023
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