Jakobs Mantel (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-41876-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jakobs Mantel -  Eva Weaver
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Warschau 1939. Mika liebt seinen Großvater Jakob sehr. Gemeinsam lebt die Familie im Ghetto. Als Jakob stirbt, erbt Mika dessen geheimnisvollen Mantel und entdeckt darin eine Puppe. Jakob hatte sie gebastelt, ebenso wie das Krokodil, den König, den Narren. Mitten in einem Alltag bestimmt von Angst, Hunger und Tod, erfindet Mika neue Puppen. Der Prinz wird sein Liebling, und bald ist Mika im ganzen Ghetto für seine Puppenspiele bekannt. Trotz aller Gefahren spielt Mika immer wieder - bis ihn der deutsche Soldat Max erwischt. Der Prinz rettet ihn, doch dafür muss Mika von da an für die Deutschen spielen.

Eva Weaver, in Deutschland geboren, lebt seit vielen Jahren in England. Sie arbeitet als Trauma- und Kunsttherapeutin und hat sich als Performance-Künstlerin einen Namen gemacht. 'Jakobs Mantel' ist ihr erster Roman.

Eva Weaver, in Deutschland geboren, lebt seit vielen Jahren in England. Sie arbeitet als Trauma- und Kunsttherapeutin und hat sich als Performance-Künstlerin einen Namen gemacht. "Jakobs Mantel" ist ihr erster Roman.

Kapitel zwei


Warschau 1938

Ich war zwölf, als der Mantel geschneidert wurde, im letzten Jahr der Freiheit, das Warschau und uns noch blieb. Nathan, unser Schneider und guter Freund, hatte ihn in der ersten Märzwoche 1938 fertiggestellt.

Nathan wohnte in seiner kleinen Werkstatt am Ende der ulica Piwna, der Piwna-Straße, in der Altstadt, nicht weit von unserer Wohnung. Weil er für sein großes Können bekannt war, kamen die Leute aus allen Teilen der Stadt zu ihm. Er wurde Nadel und Faden nie leid und arbeitete wie eine fleißige Spinne, als kämen ihm die Fäden direkt aus den Händen. Tatsächlich lagen sie ordentlich in einem Regal, er besaß eine riesige Auswahl an Farben und Schattierungen: Hemden, Hosen, Mäntel und Jacken wurden von ihnen zusammengehalten, und wie sich herausstellte, vermochte Nathan mit ihnen nicht nur Säume und Größen zu ändern, sondern auch Menschenleben.

Ich erinnere mich an viele Besuche in Nathans Werkstatt, vor der Okkupation, zusammen mit Großvater. Das Licht war gedämpft, und es roch immer leicht muffig nach Stoff, der nicht gut gelüftet wurde. Es gab Baumwollgewebe aller Qualitäten und Farben, Wollstoffe und sogar Kaschmir. Im Fenster standen ein paar traurige, verstaubte Gummibäume, die überlebten, obwohl sie nie jemand zu gießen schien. Wenn wir eintraten, klingelte ein kleines Glöckchen über der Tür. Besonders lebhaft aber erinnere ich mich an Nathans strahlend grüne Augen, die mich in der Eintönigkeit der Werkstatt immer neu überraschten. Wie Smaragde leuchteten sie in seinem faltigen Gesicht. Seine knochigen Finger und unruhigen Hände bewegten sich ständig und kamen nicht eine Sekunde zur Ruhe. Nähte er auch in seinen Träumen?

Das war der Ort, an dem alles begann, diese kleine, staubige Schneiderwerkstatt. Nathan nahm Maß, und mein Großvater fuhr mit den Händen über die zahllosen Stoffe, die einer festlichen Tafel gleich vor ihn hingebreitet lagen. Behutsam ließ er seine Fingerspitzen den richtigen Stoff aussuchen. Er war im Monat zuvor zum Professor ernannt worden, und der maßgeschneiderte Mantel war seine Art, das zu feiern.

Großvater nannte mich Mika, was die Kurzform von Mikhael ist. Mikhael bedeutet »Geschenk Gottes«. Machte mich die Verkleinerung meines Namens zu einem kleineren Geschenk? Ich war dünn und nicht gerade groß für meine zwölf Jahre, aber schnell auf den Beinen und ein wissbegieriger Schüler. Überall in meinem Zimmer lagen Bücher, selbst unter dem Kopfkissen. Großvater liebte ich mehr als sonst jemanden auf der Welt. Nach dem Tod meines Vaters war er mein bester Kamerad geworden. Ich nannte ihn Tatuś, also Papa, und manchmal auch Opa. Wir waren eine seltsame Familie: Ich hatte keine Geschwister, mit denen ich streiten oder Streiche aushecken konnte, nur meine Mama und den alten Mann. Wir waren ein Dreigestirn aus drei Generationen.

Als wir eine Woche später wieder zu Nathan kamen, konnte Großvater es kaum erwarten, den neuen Mantel anzuprobieren. Es schien mehr als nur ein neuer Mantel zu sein, es war, als zöge er in ein neues, größeres, aufregendes Haus.

»Was sagst du, Mika?« Sein Gesicht verzog sich zu einem wunderbaren Lächeln, während er sich vor dem großen Spiegel drehte. Er erwartete keine Antwort.

»Gut gemacht, Nathan, mein Bruder. Was für eine Kunst! Was ist die Algebra schon, verglichen mit solch einem Geschick?«

Er klopfte dem Schneider auf die Schulter, bezahlte, und wir gingen nach Hause. Wir nahmen den längeren Weg. Großvater schritt stolz über die gepflasterten Straßen, die Hände tief in den Taschen des Mantels vergraben.

1938 konnten wir uns noch frei in der Stadt bewegen, einem blühenden Zentrum jüdischer Kultur. Es war eine schöne Stadt, unser Warschau. Aber das alles sollte bald schon ein brutales Ende nehmen.

Großvater war Professor für Mathematik an der Universität Warschau, ein kluger, stolzer Mann, der von seinen Studenten geliebt wurde. Seine runde Goldrandbrille und die ruhige, tiefe Stimme machten ihn zum Inbegriff eines Professors, seine Größe, sein kantiges Gesicht und das dichte schwarze Haar mit der dünnen weißen Strähne über der linken Schläfe verlangten Respekt. Er liebte die Klarheit der Zahlen und dass alles immer einen Sinn ergab, wenn man ihnen nur genug Zeit und Aufmerksamkeit schenkte. »Zahlen finden immer zu einem Ergebnis«, pflegte er zu sagen, doch ein paar Monate nach unserem Heimweg vom Schneider sollte ich noch eine andere Seite an ihm entdecken, die wenig mit Algebra, Logik und abstrakten Zahlen zu tun hatte. Und dabei lernte ich auch, dass uns Zahlen keinerlei Schutz zu bieten vermochten.

 

Der Krieg war ein Gespenst, das schon lange drohend über uns schwebte. Am 1. September 1939 dann fielen die ersten Bomben auf Warschau. Der Schulunterricht war ausgesetzt worden, und ich saß mit Mutter und Großvater zu Hause und kuschelte mich in unseren alten Ohrensessel im Wohnzimmer, um mich herum meine Physikbücher. Die erste Explosion hörte ich aus Richtung Stadtzentrum, ein dumpfer Schlag, und schon krachte es, als sei etwas Riesiges in tausend Stücke zerschellt. Splitter rissen Stein auf.

Ich lief ans Fenster. Draußen brach die Hölle los: Ein Schwarm Messerschmitts dröhnte heuschreckengleich über unsere schöne Stadt, warf Bombe um Bombe und tauchte den Himmel in ein unheimliches Orange und Phosphorgelb. Ich stand da, deutete hinaus und schnappte nach Luft, bis meine Mutter meinen Arm fasste und mich wegzog. In dieser Nacht schliefen wir kaum, und auch in den kommenden Nächten nicht.

Nach dem ersten Angriff fielen die Bomben Tag und Nacht, unerbittlich krachten sie auf Warschau nieder. Manche Angriffe dauerten Minuten, andere hörten über Stunden nicht auf. Ich konnte nicht anders, ich musste mir das tödliche Feuerwerk ansehen, besonders nachts. Auch nachdem wir die Fenster mit Vorhängen, Bettlaken und Zeitungen verdunkelt hatten, fand ich winzige Lücken, durch die ich hinaussehen konnte. Wie Kaninchen, die darauf warteten, geschlachtet zu werden, waren wir gefangen.

»Geh vom Fenster weg, du bringst uns noch alle um!«

Mama hatte Angst, wir könnten die Aufmerksamkeit der Flugzeuge auf uns ziehen, während ich der Meinung war, wenn ich die Dinger im Auge behielt, würden ihre Bomben nicht auf uns fallen. Vielleicht war es eine dumme Vorstellung, aber Tatuś stand in vielen Nächten neben mir. Was sonst konnten wir tun? Nach Tagen des Eingeschlossenseins in der Wohnung schmerzten Glieder und Augen, und wir fühlten uns wund vor Schlaflosigkeit.

Und dieser höllische Lärm! Ich hatte Angst, unser Trommelfell könnte platzen, doch wenn die Flugzeuge wieder weg waren, ängstigte uns die merkwürdige Leere der Stille noch mehr. Das war jedoch nur der Anfang. Ein paar Tage später kamen die Stukas, Deutschlands aggressivste Kampfflugzeuge, die mit ohrenbetäubenden Sirenen ausgerüstet waren, unseren Willen brechen und uns zur Aufgabe zwingen sollten. Ich hörte sie lange, bevor ich den ersten zu Gesicht bekam. Er kreiste über uns wie ein unheimlicher Raubvogel und zog Runde um Runde. Dann plötzlich fiel er wie ein toter Vogel vom Himmel, senkte die Nase und stürzte mit atemberaubender Geschwindigkeit und kreischendem Crescendo herab.

»Wir haben einen erwischt!«, schrie ich und drückte die Hände auf die Ohren. »Tatuś, komm, sieh doch!« Ich hüpfte wie wild auf der Stelle, aber meine Freude zerplatzte schnell wie eine Seifenblase. Eine Sekunde vor dem Aufschlag warf das Flugzeug seine Bomben ab. Unser Himmel war eine einzige Feuersbrunst, dicke, schwarze Wolken quollen auf, während das Flugzeug einer Lerche gleich zurück in die Lüfte stieg. Die Mistkerle hatten zugeschlagen und waren entkommen. Das war schlecht, sehr schlecht. Wenn ihnen so etwas gelang, was hatten sie dann noch alles im Ärmel? In dieser Nacht verließ ich das Fenster zum ersten Mal seit Tagen.

Unsere kleine Familie hielt fest zusammen. Mama schaffte es an den meisten Tagen immer noch, eine einfache Suppe oder einen Eintopf auf den Tisch zu bringen, und Großvater unterhielt mich mit Algebra und Geometrie. Manchmal verbrachten wir ein paar Stunden mit den Nachbarn, meist hielten wir jedoch den Atem an, spähten hinter unseren verdunkelten Fenstern hervor oder lauschten dem knisternden Radio. Es gab jetzt weniger Ankündigungen, dafür schwebten Chopins Polonaisen und Walzer durch den Äther und erinnerten uns an unseren polnischen Helden, unser Erbe und unseren Stolz. Manchmal wurde die Musik mittendrin unterbrochen, und es gab Nachrichten, aber die waren nie ermutigend.

Wir waren die Ersten, die Deutschlands neueste Erfindung zu spüren bekamen, den Blitzkrieg: Mit intensiver, übermächtiger Kraft überrannten sie uns und zwangen unser Land und seine herrliche Kavallerie in die Knie. Wir kämpften so tapfer, doch was konnten Pferde und Gewehre gegen die dröhnenden Kampfflugzeuge ausrichten, gegen Panzer und weitreichende Mörser? Die Menschen starben wie Fliegen unter dem Ansturm, wurden zerfetzt, unter dem Schutt ihrer Häuser begraben oder von Maschinengewehrgarben aus Flugzeugen niedergemäht, wo sie doch nur Wasser holen und etwas zu essen besorgen wollten.

Am 29. September, nach einem Monat des Bombardements, war die Stadt übersät mit schwelenden Ruinen, und es gab kein Wasser zum Löschen mehr. Warschau ergab sich.

Als ich das Haus verließ, betrat ich eine andere Welt. In der ulica Pawia 46, wo die Krotowskis lebten, begrüßte mich nur noch eine hässliche, ausgebrannte Fassade. Die Karsinskis hatten zwei ihrer Kinder verloren, und das Haus meines Freundes Jakob war völlig ausgebrannt, eine verkohlte Ruine, der...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2013
Übersetzer Werner Löcher-Lawrence
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte gesellschaftskritische Romane • Ghetto • Judenverfolgung • New York • Puppenspieler • Puppentheater • Überleben • Warschau • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-426-41876-2 / 3426418762
ISBN-13 978-3-426-41876-5 / 9783426418765
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 707 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99