Das Kind, das nicht fragte (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
432 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10473-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kind, das nicht fragte -  Hanns-Josef Ortheil
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An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich auf das Frage- und Antwortspiel, auf das er sich gründlich vorbereitet, damit er mit den Einheimischen ins Gespräch kommt. Allerdings muss er große Hemmungen überwinden, um diese Gespräche auch tatsächlich zu führen. Denn Benjamin Merz ist zwar ein kluger Ethnologe, aber ihm fällt es ungeheuer schwer, das zu tun, worauf seine ganze Arbeit aufbaut: Fragen zu stellen. Und das hat seinen Grund.
Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

3


EIN WENIG kenne ich Mandlica schon, denn ich war in den letzten Jahren schon zweimal jeweils eine Woche dort. Ich habe es als neugieriger Tourist besucht, um vor Ort zu erleben, ob die Herstellung der verschiedensten Dolci die Stadt wirklich zu jenem Süßspeisen-Paradies gemacht hat, von dem in beinahe jedem Reiseführer in den höchsten Lobestönen die Rede ist. Dann aber hat mich neben der tatsächlich verschwenderischen und hinreißenden Art, wie der Ort seine Dolci in angeblich genau fünfzig Cafés und unzähligen Pasticcerien präsentiert, vor allem die besondere geographische Lage der Stadt angezogen.

 

Mandlica besteht nämlich aus einer Unter-, einer Mittel-und einer Oberstadt und erhebt sich in diesen drei sehr unterschiedlichen Zonen von der Meeresküste bis hinauf zur Hügelregion, die auf ihrer obersten Kuppe von einem mächtigen Kastell gekrönt wird. In der Oberstadt leben die meisten Einwohner. In kleinen, steil hinauf bis zur Höhe hin ansteigenden, sehr schmalen und labyrinthisch angelegten Gassen, in denen man sich fast nur zu Fuß bewegt und sich als Fremder leicht verirrt, haben sie ihr Zuhause. In der Mittelstadt führt die breite Hauptstraße mit ihren Läden, Cafés, Pasticcerien und Restaurants um die große Piazza mit dem barocken Dom herum und bildet so das eigentliche Zentrum, während die Unterstadt aus einer Hafenregion mit kleinen Hotels und bis in die tiefe Nacht frequentierten Fischlokalen besteht.

 

Eine ähnlich vielfältige und interessante Topographie gibt es in Sizilien nur selten. In Mandlica kann man in der Stille der Oberstadt wohnen, sich im lebhaften Trubel der Mittelstadt tagsüber mit den Einheimischen unterhalten und in der Hafenstadt den Abend und die Nacht bei gutem Essen und noch besserem sizilianischen Wein ausklingen lassen. Genau diese Art Leben habe ich während meiner beiden ersten Aufenthalte auch zu führen versucht, bin damals allerdings noch an meiner Unfähigkeit, Kontakte zu knüpfen, gescheitert. So kam ich über ein einsames Leben in der Oberstadt, einsame Spaziergänge ohne Begegnungen mit den Einheimischen in der Mittelstadt und einsame Nächte am Meer in überfüllten Fischlokalen der Unterstadt, unterhalten lediglich von ein paar Zeitungen und Büchern, nicht hinaus.

 

Wenn ich nicht als Ethnologe im Einsatz und dadurch geradezu gezwungen bin, mich mit den Menschen meiner Umgebung zu unterhalten, verharre ich nämlich leider Gottes nicht selten in einem mir selbst verhassten Einzelgängertum, dessen ruhige Zurückhaltung ich in solchen Daseinsmomenten mir selbst gegenüber fälschlicherweise als einen besonderen Genuss deklariere und preise. Ich mache mir dann nur zu gerne vor, dass ein allein eingenommenes Abendessen mir besser gefällt und erheblich mehr zusagt als ein verschwatztes und mit zehn unruhigen und meist sehr abgelenkten Personen geteiltes. Und ich sitze kurz vor Mitternacht nicht selten, scheinbar übertrieben glücklich summend, am letzten noch besetzten Tisch des Lokals und tue so, als hätte ich in der Begleitung meiner Bücher und Zeitungen einen fantastischen, unterhaltsamen Abend erlebt.

 

Bin ich aber mit meinen ethnologischen Studien beschäftigt, so sind die Unterhaltungen mit den Einheimischen, die mir sonst sehr schwerfallen und fast immer eine Last für mich sind, gut vorbereitet. Ich habe mir die Fragen, die ich stellen werde, genau überlegt, und ich gerate mit jeder Frage und jeder auch nur halbwegs interessanten Antwort weiter in Form und in Schwung. Unangenehm ist es nur, wenn ich in solchen Situationen dann selbst etwas gefragt werde. Eine solche Gegenfrage verstößt gegen die Regeln des ethnologischen Forschungsgesprächs und sorgt dann meist für ein peinliches Schweigen von meiner Seite oder sogar für den gänzlichen Abbruch des Gesprächs. Ich gerate ins Schwitzen, denn ich möchte keineswegs als Privatmensch, sondern ausschließlich als Forscher betrachtet und auch behandelt werden.

 

Als Forscher frage und erkundige ich mich leidenschaftlich, als ginge es um mein Leben. Mein eigenes Leben dagegen darf nicht zum Thema werden, denn es soll höchstens für mich, nicht aber für die Befragten von Interesse sein. So jedenfalls schreibt es der ethnologische Kodex vor, der ausdrücklich festlegt, dass ein guter und zurückhaltender Ethnologe sich selbst unbedingt aus dem Spiel des Fragens und Antwortens herauszunehmen hat. Sein Leben und Dasein ist nicht von Belang, um der exakten Forschung willen ist er lediglich Übersetzer, Verstärker und Interpret all der Texte, die ihm von außen angeboten werden.

 

Während der Anfahrt auf Mandlica erinnere ich mich an meine verpatzten ersten beiden Aufenthalte, summe aber dennoch leise vor mich hin, als sei ich sicher, wegen meiner diesmal monatelangen, intensiven Vorbereitungen auf die Gespräche in dieser Stadt erheblich mehr Erfolg zu haben. Als ich von der Küstenstraße abbiege und schließlich auf Mandlica zufahre, gerate ich sogar in eine regelrecht euphorische Stimmung. Ich habe eine CD mit den Canti della Sicilia der großen sizilianischen Sängerin Rosa Balistreri eingelegt, ich lasse alle Fenster meines durchgeschüttelten Fiats herunter und höre zu, wie Rosas raues und tiefes Schluchzen sich wie eine majestätische Tonflut nach außen, in die schon leicht verbrannte Graslandschaft, ergießt.

 

An der nächsten Kreuzung will ich dem Hinweisschild Mandlica folgen und die restlichen drei Kilometer bis hinauf zur Oberstadt besonders langsam fahren, als ich das Handy klingeln höre. Ohne auf das Display zu schauen, weiß ich, dass mein ältester Bruder mich anruft. Ich könnte hohe Wetten darauf abschließen, dass genau er es ist, der mich in diesem Moment meines euphorischen Abhebens stört und aus dem Glücksrhythmus der sizilianischen Lieder bringt. Ich lasse es eine Weile klingeln und fahre dann noch langsamer, um nun wirklich einen Blick auf das Display des Handys werfen zu können. Richtig, Georg, mein ältester Bruder, ruft an, und ich ahne auch bereits, was er von mir will.

 

Georg ist Anwalt und führt im Kölner Stadtteil Lindenthal eine große Kanzlei in einer beeindruckenden Villa, in der er mit seiner Familie auch wohnt. Neben Georg habe ich noch drei ältere Brüder, Martin, Josef und Andreas, die ebenfalls alle in Köln mit ihren Familien leben. Martin arbeitet als Arzt an den Universitätskliniken, Josef hat eine Apotheke und Andreas ist Studiendirektor für Griechisch und Latein an einem Kölner Gymnasium.

 

Alle vier sind erheblich älter als ich, eigentlich war meine Existenz wohl auch gar nicht mehr vorgesehen, dann aber kam ich doch noch acht Jahre nach dem vierten Sohn meiner Eltern als fünftes und letztes Kind auf die Welt. Meine Eltern nannten mich Benjamin, und ein echter Benjamin wurde dann auch aus mir. Während der Familienmahlzeiten saß ich zwischen Mutter und Vater und gab den schweigenden Nachkömmling, der den oft lauten Debatten am Tisch nicht folgen konnte. Meine vier älteren Brüder dagegen legten sich bei solchen Gelegenheiten ins Zeug, sie redeten und redeten, sie stritten und gaben den Ton an, während die Eltern sich auf einige Nachfragen oder ein knappes und manchmal ironisches Kommentieren der Tischgespräche beschränkten. Vor allem mein Vater war ein Meister der ironischen Bemerkung, die das Debattieren bei Tisch sogar dann und wann zum Erliegen brachte. Ich bemerkte oft, wie sehr auch ihm die Art meiner Brüder, sich in Szene zu setzen, auf die Nerven ging, doch er sagte niemals etwas offen und direkt gegen diese Unsitte, sondern unterlief das Gespräch höchstens auf feine, diskrete Art mit ein paar trockenen, ironischen Hinweisen und Sätzen.

 

Von Beruf war er Ingenieur, während meine Mutter als Bibliothekarin im Historischen Institut der Universität Köln arbeitete. Beide sind vor etwa einem Jahrzehnt kurz hintereinander gestorben und haben uns Brüdern das große Wohnhaus in Köln-Nippes hinterlassen, in dem wir – zusammen mit vielen Mietern, verteilt auf vier Stockwerke – unsere Kindheit verbracht haben. Es ist ein sehr schönes, noch zu Lebzeiten der Eltern renoviertes Haus, das an einem weiten, ovalen Platz mit hohen Pappeln und vielen Rosenbeeten liegt. Im ersten Stock dieses Hauses haben wir fünf Kinder mit den Eltern gewohnt, heute lebe ich als einziger Nachkomme noch immer in unserem Elternhaus.

 

Ich wohne sehr bescheiden unter dem Dach, in drei kleinen Zimmern mit schrägen Wänden, aber ich wohne genau dort, wo ich unbedingt wohnen möchte. Ich habe nie woanders als in diesem Haus gelebt, ich habe ihm und meiner Familie die Treue gehalten. Selbst während meines Studiums kam es für mich zu keinem Zeitpunkt in Frage, dieses Haus zu verlassen, damals habe ich die kleinen Zimmer unter dem Dach bezogen, und manchmal kam mein guter Vater die Treppen zu mir hinauf und setzte sich in meine Küche, um mit mir ein Kölsch zu trinken und sich nur mit mir allein zu unterhalten.

 

Natürlich zahle ich meinen Brüdern keine Miete, sie lassen mich mietfrei wohnen und unterstützen mich sogar mit der Hälfte der monatlichen Mieteinnahmen aus dem gesamten Haus, die meinen eigentlichen Lebensunterhalt bilden. Ich bin zwar Privatdozent an der Kölner Universität, erhalte aber kein nennenswertes Gehalt, so dass ich auf diese finanzielle Hilfe angewiesen bin.

 

Ich gebe zu, dass es mir peinlich ist, mich nicht selbständig ernähren und von einem gescheiten Gehalt leben zu können. Aber es ist mir – schon allein wegen meiner Scheu und meines extrem zurückhaltenden Wesens...

Erscheint lt. Verlag 21.12.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Der Stift und das Papier • Die Berlinreise • Die Erfindung des Lebens • Die Moselreise • eBooks • Italien • Italien, Sizilien • Roman • Romane • Sizilien
ISBN-10 3-641-10473-4 / 3641104734
ISBN-13 978-3-641-10473-3 / 9783641104733
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