Die Eisläuferin (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
256 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41681-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Eisläuferin -  Katharina Münk
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»Liebes, da ist übrigens etwas, das du wissen musst: Du bist Regierungschefin.« Während ihrer Urlaubsreise mit der Transsibirischen Eisenbahn kommt einer Regierungschefin das Gedächtnis abhanden. In Omsk fällt ihr ein Bahnhofsschild aufs Haupt und stiehlt ihr fortan zwanzig Jahre ihres Lebens und jeden Tag aufs Neue ihre Erinnerungen. Ihr engster Beraterkreis und ihr Mann sind sich einig, diese Unpässlichkeit vorerst geheimzuhalten und die Chefin Tag für Tag neu »auf Schiene« zu setzen. Der Plan funktioniert - allerdings mit einigen Nebenwirkungen: Sie regiert plötzlich, als gäbe es kein Morgen, spontan, unvoreingenommen, ja geradezu leidenschaftlich. Und auf der Suche nach ihrem Gedächtnis kennt sie kein Pardon ...

Katharina Münk ist neben ihrer Autorentätigkeit Personal Coach für Fach- und Führungskräfte und lebt mit ihrem Mann in Hamburg. Ihr erster Roman >Die Insassen< (2009) wurde ein Bestseller. Ihr Name ist ein Pseudonym. 

Katharina Münk ist neben ihrer Autorentätigkeit Personal Coach für Fach- und Führungskräfte und lebt mit ihrem Mann in Hamburg. Ihr erster Roman ›Die Insassen‹ (2009) wurde ein Bestseller. Ihr Name ist ein Pseudonym. 

Nostalgisch reisen


Barcelona, 25 Grad Celsius, sonnig. Zumindest bekam man durch die Glasscheiben des Terminals eine Ahnung davon.

Fürst Wassili trat zu Anna Pawlowna heran, küsste ihr die Hand, wobei er ihr den Anblick seiner parfümierten, schimmernden Glatze darbot, und setzte sich dann in aller Seelenruhe auf einen Lehnensessel.

Das Handy summte wieder. Sie klappte das Buch zu und schaute zu ihrem Mann, der neben ihr eingeschlafen war, zu seinen Füßen ein Stapel Zeitungen.

»Chefin, ich werde jetzt den Sicherheitsapparat in Berlin informieren müssen. Bod«

»Ich verstehe Sie. Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Aber wir machen das anders. Gruß, die Ihrige«

»Noch einmal: WO SIND SIE? Bod«

»Ich reite gerade mit Fürst Andrei die Truppenlinien ab. Gruß, die Ihrige«

»Wie? Bod«

»Mit Tolstoi, in Krieg und Frieden, Seite 228. Gruß, die Ihrige«

»Achten Sie auf die Aktivierung Ihres Krypto-Chips! Bod«

»Herr Bodega, wer bin ich denn? Natürlich tausche ich mich mit Ihnen verschlüsselt aus!«

»Sie tun das aber mit Worten! Werden Sie mir jetzt endlich sagen, wohin die Reise geht? Bod«

»Kannst du nicht mit dem Getippe aufhören? Die Leute gucken ja schon.« Ihr Mann war wach geworden.

»Ich sage ganz klar, ich tue das alles für uns. Die SMS an und für sich ist eine sehr interessante, zeitsparende Form der Kommunikation, und außerdem muss ich dafür sorgen, dass Bodega keinen Unfug anstellt. Im Flieger muss ich das Gerät sowieso abstellen.«

»Eben. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich einfach mit einem eingebauten Peilsender durch die Welt zu schicken. Hat es bei deiner Kontrolle nicht gepiept?«

Sie schaute etwas säuerlich und ging jetzt aufs Ganze: »Herr Bodega, ich bin auf dem Weg nach Moskau und werde mich in den kommenden sechs Tagen im geschlossenen Abteil der Transsibirischen Eisenbahn aufhalten – also in Sicherheit, aber eben ohne Sie. Andere Leute müssen das auch schaffen. Gruß, die Ihrige«

»Warum hat man mich nicht informiert? Bod«

»Weil dies Urlaub und kein Versteckspiel ist. Jedenfalls betrachte ich das so.«

»Ich muss den Organisationsstab informieren.«

»Gar nichts müssen Sie. Gehen Sie eine Runde schwimmen.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich können Sie schwimmen. Es gilt, sich den Herausforderungen, die vor uns liegen, zu stellen. Gruß, die Ihrige«

»Das kann mich meinen Job kosten. Bod«

»Ich klappe jetzt zu und schalte ab.«

Also Krieg und Frieden: Sie hatte lange überlegt, ob sie die knapp eintausendfünfhundertsechzig Seiten durch halb Europa tragen sollte, aber es war das im wahrsten Sinne schwerste und anspruchsvollste Buch, das sie auf die Schnelle hatte finden können. Man musste etwas Abwechslung ins Leben bringen, fand sie. Es schien ihr zudem die passende Lektüre zu sein für eine Reise durch die alten Landschaften Russlands, und das Werk würde sich auf dem Mahagoni-Klapptischchen ihres Abteils sicher gut machen.

Und dann würde sie ganz bei ihnen sein: bei Andrej, dessen Familie ihn tot wähnt, und seiner Frau, schwanger mit seinem Sohn, ach. Und als sie in den letzten Wehen liegt, kommt der tot geglaubte Andrej tatsächlich zurück und muss zusehen, wie seine Frau im Kindbett stirbt. Manchmal sprang sie vor auf diese Stelle im Buch.

»Mussten es denn unbedingt eintausendfünfhundert Seiten sein, Liebes?« Ihr Mann hatte die Schuhbänder gelockert und die Beine auf das Bordgepäck gelegt. »Sollen wir nicht ein bisschen reden? Weißt du, ich bin ja schließlich auch kein unbeschriebenes Blatt.« Sie schaute auf: »Sicher, ich kann wahrlich nicht sagen, dass es in meinem Leben einen Mangel an Intrigen, Bündnissen, Hoffungen und Enttäuschungen gäbe, den ich durch Lektüre kompensieren müsste, aber weißt du, es ist ganz gut, sich die Systematik dieser Dinge nochmals in ihrer ganzen Dimension vor Augen zu führen und sozusagen Napoleon über die kleine Schulter zu gucken, wenn er in Russland einmarschiert. Man weiß nie, wofür das gut ist.«

Er fing wieder an, tief ein- und auszuatmen, sein Kopf war nach vorne weggekippt, und sie las weiter.

»Ich liebe euch alle; ich habe niemandem Böses getan; wofür leide ich? Helft mir doch!«, sagten ihre Augen. Sie sah ihren Mann; aber sie begriff nicht, welche Bedeutung es hatte, dass er jetzt vor ihr stand. Fürst Andrei ging um das Bett herum und küsste sie auf die Stirn.

Und so verbrachte sie lesend die Stunden auf dem Flug nach Moskau, an so mancher Stelle durchaus um völkerfreundliche Neutralität bemüht, was ihr nicht immer ganz gelang.

Es war bereits halb sieben Uhr morgens, als sich die Kutusowsche Armee, die bei Olmütz lagerte, zu einer Truppenschau vor den beiden Kaisern, dem russischen und dem österreichischen, für den nächsten Tag zurecht machte und sie endlich in Moskau landeten.

Die Erleichterung über den bisher so unkomplizierten Verlauf der Reise schlug langsam um in diebische Freude, denn was ihnen nun bevorstand, war eine wirkliche Verheißung von Freiheit. Ungestörtsein war eine Sache, aber wirklich Verschwinden eine andere.

Am späten Nachmittag standen sie auf dem roten Teppich. Es war offensichtlich eine dünne Auslegeware, die an den äußeren Kanten flatterte und tiefe, dunkle Spuren an den Stellen hatte, wo sich alle Reisenden mit einem letzten Schritt in den Zug beförderten. Eine kleine Musikkapelle spielte russische Folklore, es wurde Krim-Sekt gereicht, und seine Frau sagte: »Das ist ein schöner Teamgedanke und stimmt ein auf die Reise.« Er musste an die Frauengruppe auf der Fähre denken und schob sie galant Richtung Abteil, bevor sich irgendjemand näher mit ihrem Gesicht beschäftigen konnte oder gar sie sich mit den Mitreisenden.

Im Innern roch es nicht nach Zug, sondern tatsächlich noch nach Eisenbahn, als hätte jemand ein Raumspray »Transsibirischer Orient-Express« oder »Charme der Zwanziger Jahre« versprüht. Er holte tief Luft, denn Charme konnte nie schaden, und strich im Vorbeigehen mit der flachen Hand über die Mahagoni-Verkleidungen der Abteiltüren. Gepflegte Patina, wohin er auch blickte. Es roch auch schon ein wenig nach deftiger russischer Küche, die mit Sicherheit serviert werden würde, noch bevor sie das Moskauer Umland hinter sich gelassen hatten.

Er hatte an nichts gespart, hatte lange geschwankt zwischen der Abteilkategorie »Nostalgie-Komfort« in einem Wagenteil, der unter Nikita Chruschtschow für die sowjetische Regierung gebaut worden war, und eben jener Bolschoi-Kabine, in der sie jetzt standen. Das war zwar die modernere, aber vor allem höchst zweckmäßige Variante, mit Kleiderschrank, eigener Dusche und genügend 220-Volt-Steckdosen für Fön und Handy-Aufladung. Der eigens für sie abgestellte Servicemitarbeiter war mit einer entsprechenden finanziellen Zuwendung zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Man war ja schließlich nicht irgendwer, auch wenn man so tat.

Er schaute zu ihr hinüber: »Na, wie gefällt es dir?«

»Oh, dies wird eine Reise voller Höhepunkte werden, und wir dürfen auf ihren Verlauf gespannt sein.« Sie stand noch ein wenig verloren in der Mitte des Abteils und schaute unschlüssig auf die sich gegenüber liegenden Sitzplätze. Er kannte das. Bevor sie gedanklich beim Worst-Case-Szenario (vorwärts fahren) ankommen würde, musste er sie unterbrechen. »Versuch dich doch einfach auf die positiven Aspekte eines Sitzes in Fahrtrichtung zu konzentrieren.«

»Also, ich mag Rückwärtsfahren auch ganz gern. Hm.«

Für solche Fälle gab es einfache Lösungsmöglichkeiten. Er nahm eine Münze und warf sie. Kopf. Sie würde vorwärts fahren müssen.

Sie wusste, dass Bodega und sein Team so schnell nicht würden nachreisen können. Er würde es wahrscheinlich auch gar nicht wagen, wenn sie es nicht wollte, denn absolute Transparenz erforderte absolute Loyalität im engsten Kreis. Das gesamte innere System hätte sonst gar nicht funktionieren können. Doch er war europaweit gut vernetzt, hätte die Staffel an seine russischen Kollegen abgeben können, für die allerdings die Transsibirische Eisenbahn mit einer inkognito reisenden Regierungschefin darin zu schön gewesen wäre, um wahr zu sein. Nein, so dumm würde er nicht sein. Und die Wege Sibiriens waren weit. Doch sie würden kürzer werden, wenn sie sich sie vornahm.

»Herr Bodega, hallo? Schwimmen Sie noch? Gruß, die Ihrige«

»Sie fahren aber nicht weiter in die Mongolei oder gar bis Peking? Bod«

»Mongolei? Putscht die Opposition daheim? Gibt es Aufstände von sogenannten Parteifreunden, die sich in der Sommerpause in rote Sessel unter freiem Himmel setzen, sodass ich in der Mongolei Exil suchen müsste?«

»Wo genau werden Sie den Zug verlassen?«

»Also, ich glaube, es muss dann entschieden werden, wenn es entschieden werden muss. Gute Nacht, Herr Bodega!«

»Gute Nacht, Chefin. Ich erwarte morgen früh weitere Informationen von Ihnen. Wer passt auf Sie auf? Bod«

»Mein Mann.«

»Hat er eine Nahkampfausbildung? Bod«

»Ja, Herr Bodega, die hat er. Gute Nacht.«

Sie nahm ein Glas Wein, das Barchef Anatol ihr im Halbdunkel serviert hatte, blickte aus dem Fenster und gab sich dem gleichförmigen Takt der Zugräder auf...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amnesie • eBook • Gedächtnisverlust • Liebes • Politsatire • Satire • Schlüsselroman • Unterhaltung • Verfilmte Bücher
ISBN-10 3-423-41681-5 / 3423416815
ISBN-13 978-3-423-41681-8 / 9783423416818
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