Geschichten aus Tel Ilan (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
190 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73930-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichten aus Tel Ilan -  AMOS OZ
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Der Wandel kommt in kleinen Schritten: Tel Ilan ist ein Dorf im Norden Israels. Ein Ort, ein wenig unentschlossen zwischen Gestern und Morgen, aufsehenerregende Ereignisse sind selten. Doch plötzlich verwischt die Grenze vom Gewöhnlichen zur Merkwürdigkeit. Gilli Steiner wartet mit wachsender Verzweiflung auf ihren Neffen, Pessach Kedem hört komische Geräusche, und der Immobilienmakler Jossi Sasson wird in einem alten Haus von einer jungen Frau verwirrt - und verirrt. Dabei geschieht eigentlich nichts Besonderes. Oder doch? Amos Oz entwirft in seinen Geschichten aus Tel Ilan einen kleinen Kosmos. Er erzählt von Menschen und ihren Sehnsüchten, von ihrem nur auf den ersten Blick durch und durch alltäglichen Leben. »Erbarmungslos, brillant. Oz ist zurückgekehrt zu seinen Kammerspielen.« Inge Kämmerer, Hessischer Rundfunk

<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>

Erben


Der fremde Mann war kein Fremder. Etwas in seiner Erscheinung stieß Arie Zelnik schon auf den ersten Blick ab und fesselte ihn zugleich. Falls das überhaupt der erste Blick war: Arie Zelnik kam es vor, als würde er sich an dieses Gesicht erinnern, an die langen Arme, die fast bis zu den Knien reichten, es war eine verschwommene Erinnerung, wie aus einer Zeit, die so lange zurücklag wie ein ganzes Leben.

Der Mann parkte sein Auto direkt vor dem Hoftor. Es war ein staubiges beigefarbenes Auto, auf dem Rückfenster und sogar auf den Seitenfenstern erstreckte sich ein Wortgitter aus bunten Aufklebern mit Ausrufezeichen, Verlautbarungen, Warnungen, Slogans aller Art. Er schloß das Auto ab und rüttelte an einer Tür nach der anderen, um zu kontrollieren, ob sie wirklich alle verschlossen waren. Dann klopfte er einmal und noch ein zweites Mal leicht auf die Motorhaube, als wäre das Auto ein altes Pferd, das man an einem Zaunpfahl festbindet und dem man mit einem freundlichen Klaps bedeutet, daß das Warten nicht so lange dauern wird. Danach öffnete der Mann das Tor und ging auf die vordere, von Weinranken beschattete Veranda zu. Er hopste etwas beim Gehen und trat nur vorsichtig auf, als würde er barfuß über heißen Sand laufen.

Von seinem Platz auf der Hollywoodschaukel in der Ecke der Veranda, von wo aus er alles sah, selbst aber nicht gesehen wurde, beobachtete Arie Zelnik den Besucher von dem Moment an, als dieser aus seinem Auto gestiegen war. Doch so sehr er sich auch bemühte, es fiel ihm nicht ein, wer dieser nichtfremde Fremde war. Wo war er ihm begegnet, wann war er ihm begegnet? Auf einer seiner Reisen ins Ausland? Beim Reservedienst? Im Büro? An der Universität? Oder vielleicht noch in der Schule? Ein Ausdruck von Verschlagenheit lag auf dem Gesicht des Mannes, er strahlte, als habe er jemandem einen Streich gespielt und sei nun voller Schadenfreude. Hinter dem fremden Gesicht oder darunter lag die verschwommene Andeutung eines bekannten Gesichts, eines, das Beklemmung und Beunruhigung auslöste. Das Gesicht eines Menschen, der dir schon einmal übel mitgespielt hat? Oder umgekehrt: dem du irgendein bereits vergessenes Unrecht angetan hast?

Wie ein Traum, von dem neun Zehntel versunken sind und nur der letzte Rest noch hervorblitzt.

Arie Zelnik beschloß daher, nicht zu Ehren des Besuchers aufzustehen, sondern auf der Hollywoodschaukel sitzen zu bleiben und ihn hier zu empfangen, auf der Veranda vor dem Hauseingang.

Der Fremde hopste eilig den Weg entlang, der vom Tor zu den Verandastufen führte, seine kleinen Augen flitzten ununterbrochen nach rechts und nach links, als fürchte er, zu früh entdeckt zu werden oder ein wütender Hund könne jeden Moment aus dem Dickicht von Bougainvilleabüschen auf beiden Seiten des Wegs hervorspringen und ihn attackieren. Seine schütteren gelblichen Haare, sein faltiger roter Truthahnhals, seine hin- und herflitzenden wäßrigen Augen, die wie hastig wühlende Finger die Umgebung erkundeten, die langen Schimpansenarme – das alles erweckte eine dumpfe Beklemmung.

Von seinem verborgenen Beobachtungsposten aus, auf der Hollywoodschaukel im Schatten der Weinranken, musterte Arie Zelnik den großen Körper des Mannes, der schlaff wirkte, als habe er gerade eine schwere Krankheit überstanden, als sei er vor gar nicht langer Zeit noch kräftig gewesen und erst vor kurzem in sich zusammengesunken. Auch das Sommerjackett, das der Mann trug, ein Jackett in der Farbe von schmutzigem Sand mit ausgebeulten Taschen, sah zu weit aus und schlotterte um seine Schultern.

Obwohl es Spätsommer war und der Weg trocken, blieb der Fremde vor den Verandastufen stehen und streifte seine Schuhe gründlich auf der Matte ab. Dann hob er erst den einen Fuß, dann den anderen und kontrollierte, ob die Sohlen sauber waren. Nachdem er beruhigt war, stieg er die Stufen hinauf, und erst nachdem er ein paarmal höflich an die mit Fliegengitter bespannte Tür geklopft hatte, ohne daß irgendeine Reaktion erfolgte, wandte er endlich den Blick und entdeckte den Hausherrn, der wie angewurzelt auf seiner Hollywoodschaukel saß, in der Ecke, zwischen großen Blumentöpfen und Farnkästen, unter den Weinranken, die ihn und die ganze Veranda beschatteten.

Sofort setzte der Besucher ein breites Lächeln auf, fast hätte er sich verbeugt, er räusperte sich, bevor er verkündete: Wie schön ist es doch hier bei Ihnen, Herr Zelkin! Atemberaubend! Das ist wirklich Israels Provence! Was heißt da Provence? Toskana! Was für eine Landschaft! Das Wäldchen! Die Weinberge! Tel Ilan ist einfach das schönste Dorf in diesem levantinischen Land. Sehr angenehm! Guten Morgen, Herr Zelkin. Entschuldigen Sie. Ich hoffe, ich störe nicht etwa? Arie Zelnik sagte trocken: Guten Morgen, dann merkte er an, sein Name sei Zelnik und nicht Zelkin, und leider würden sie hier nie etwas von Vertretern kaufen.

Sie haben recht, und wie recht Sie haben, beteuerte der Mann, während er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte, wie kann man wissen, ob man wirklich einen Vertreter vor sich hat und nicht einfach einen Betrüger? Oder, behüte, vielleicht sogar einen Verbrecher, der gekommen ist, um den Ort für eine Bande von Einbrechern auszuspionieren? Aber ich, Herr Zelnik, bin zufällig alles andere als ein Vertreter. Ich bin Bittsteller.

Wie bitte?

Bittsteller. Wolf Bittsteller. Rechtsanwalt Bittsteller von der Kanzlei Lotem-Pruzhinin. Sehr angenehm, Herr Zelnik. Ich suche Sie auf, betreffs, wie soll ich sagen, aber vielleicht sollten wir gar nicht erst versuchen, das Thema zu definieren, sondern sofort zur Sache kommen. Darf ich mich bitte setzen? Was wir zu klären haben, ist mehr oder weniger eine Privatangelegenheit, nicht was mich betrifft, behüte, wegen einer Privatangelegenheit meinerseits hätte ich niemals gewagt, ohne Voranmeldung hier einzudringen und zu stören. Wiewohl wir es versucht haben, wir haben es in der Tat versucht, wiederholt haben wir es versucht, aber Ihre Telefonnummer ist nirgends verzeichnet, und auf unsere Briefe haben Sie nicht die Güte gehabt zu antworten. Deshalb haben wir beschlossen, unser Glück mit einem unangemeldeten Besuch zu versuchen, und wir entschuldigen uns aufrichtig für diese Störung. Es ist wirklich nicht unsere Art, in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen, insbesondere nicht, wenn dieser Mensch am schönsten Ort des ganzen Landes zu Hause ist. So oder so, wie gesagt, es handelt sich keineswegs nur um eine Privatangelegenheit unsrerseits. Nein, nein, absolut nicht. Eher im Gegenteil: Es handelt sich, wie ließe es sich vorsichtig formulieren, vielleicht so: Es handelt sich um eine Privatangelegenheit, die Sie betrifft, mein Herr, und nicht nur uns. Genauer gesagt, eigentlich betrifft es Ihre Familie, die Familie im allgemeinen und im besonderen, eines Ihrer Familienmitglieder, Herr Zelkin, ein ganz bestimmtes Familienmitglied. Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns hinsetzen und uns ein paar Minuten unterhalten? Ich verspreche Ihnen, ich werde mich nach besten Kräften bemühen, daß die Angelegenheit nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch nehmen wird. Obwohl das eigentlich nur von Ihnen abhängt, Herr Zelkin.

Zelnik, korrigierte ihn Arie Zelnik. Dann sagte er: Setzen Sie sich. Und fügte sofort hinzu: Nein, nicht hier. Dort.

Denn der Dicke oder ehemals Dicke sank zuerst auf die Hollywoodschaukel, direkt neben seinen Gastgeber, so daß sich ihre Oberschenkel berührten. Wie ein Gefolge umgab den Besucher eine dichte Geruchswolke, Gerüche von Verdauung, Strümpfen, Talkum und Achselhöhlen. Darüber lag ein feines Netz von scharfem Rasierwasserduft. Arie Zelnik erinnerte sich plötzlich an seinen Vater, der seine Körpergerüche auch immer mit einem scharfen Rasierwasserduft zu überdecken pflegte.

Als ihm beschieden wurde, nicht hier, sondern dort, stand der Besucher sofort auf, schwankte leicht, drückte die Affenarme stützend an die Knie, entschuldigte sich und ließ seinen Hintern in den zu weiten Hosen nun auf die Holzbank auf der anderen Seite des Gartentischs sinken. Es war ein rustikaler Tisch aus Holzbrettern, die nicht glatt gehobelt waren und Eisenbahnschwellen glichen. Arie war es wichtig, daß seine kranke Mutter auf keinen Fall von ihrem Fenster aus diesen Besucher sah, noch nicht einmal seinen Rücken oder seine Silhouette auf der Veranda im Schatten der Weinranken. Deshalb hatte er ihm einen Platz zugewiesen, der vom Fenster aus nicht einzusehen war. Und vor dessen öliger Vorbeterstimme würde sie ihre Taubheit schützen.

Vor drei Jahren war Na’ama, Arie Zelniks Frau, zu ihrer Freundin Thelma Grant nach San Diego gefahren und nicht zurückgekommen. Sie hatte ihm nicht ausdrücklich geschrieben, daß sie ihn verlassen hatte, sondern es anfangs nur behutsam angedeutet: Ich komme vorläufig nicht zurück. Ein halbes Jahr später hatte sie geschrieben: Ich bleibe noch bei Thelma. Und noch später: Du brauchst nicht mehr auf mich zu warten. Ich arbeite mit Thelma in einem Verjüngungsstudio. Und in einem anderen Brief: Mir und Thelma geht es gut miteinander, wir haben ein ähnliches Karma. Und in einem weiteren Brief: Unser spiritueller Lehrer findet es richtig, daß Thelma und ich nicht aufeinander verzichten. Dir wird es gutgehen. Du bist nicht böse, nicht wahr?

Hila, ihre verheiratete Tochter, hatte ihm aus Boston geschrieben: Papa, ich rate Dir zu Deinem eigenen Besten, Mama nicht zu bedrängen. Finde für Dich ein anderes Leben.

Und weil zwischen ihm und Eldad, seinem Erstgeborenen, schon lange jeder Kontakt abgebrochen war und weil er auch sonst niemanden hatte, der ihm nahestand, hatte er im...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2012
Übersetzer Mirjam Pressler
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Tmunot me-chajej ha-kfar, 2009
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Belletristische Darstellung • Dorf • Einwohner • Israel • ST 4209 • ST4209 • suhrkamp taschenbuch 4209 • Tourismus
ISBN-10 3-518-73930-1 / 3518739301
ISBN-13 978-3-518-73930-3 / 9783518739303
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99