Die Woll-Lust der Maria Dolors (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
280 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41695-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Woll-Lust der Maria Dolors -  Blanca Busquets
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Zwei rechts, zwei links und bloß keine fallen lassen    Still sitzt sie in ihrer Ecke und strickt emsig vor sich hin. Seit einem Schlaganfall lebt Maria Dolors bei ihrer Tochter Leonor und deren Familie. Fast alle Familienmitglieder behandeln die 85-Jährige wie ein Möbelstück, denn sie hat ihre Sprache verloren. Aber Dolors ist weder blind noch taub geworden und hat einen scharfen Verstand. Während sie einen Pulli für ihre Enkelin strickt, erinnert sie sich an ihr bewegtes Leben - zugleich entgeht ihr nichts von dem, was in ihrer scheinbar normalen Familie vor sich geht. Jeder hütet hier ein Geheimnis, auch Dolors selbst ... 

Blanca Busquets, 1961 in Barcelona geboren, arbeitet seit 1986 als Fernseh- und Radiojournalistin für Televisió de Catalunya und Catalunya Ràdio, wo sie diverse Kulturprogramme moderiert. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und ihrem Romandebüt >Presó de Neu< (2003) hat sie mit >Die Woll-Lust der Maria Dolors< die Herzen aller Generationen erobert.

Blanca Busquets, 1961 in Barcelona geboren, arbeitet seit 1986 als Fernseh- und Radiojournalistin für Televisió de Catalunya und Catalunya Ràdio, wo sie diverse Kulturprogramme moderiert. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und ihrem Romandebüt ›Presó de Neu‹ (2003) hat sie mit ›Die Woll-Lust der Maria Dolors‹ die Herzen aller Generationen erobert.

  Die Idee


»Los, komm schon rein. Es ist niemand zu Hause.«

Unterdrücktes Lachen.

»Meine Alten arbeiten. Nur meine Oma ist da, und die kriegt ohnehin nichts mehr mit. Komm endlich.«

Die Wohnungstür fällt geräuschvoll ins Schloss. Schritte auf dem Parkett, die Dielen quietschen, so wie immer. Und dann wieder eine Tür, die auf- und zugeht. Sandras Zimmertür, zweifellos.

Ach, die Kleine. Seufzend blickt die alte Frau auf ihre runzeligen Hände, doch augenblicklich erhellt sich ihr Gesicht wieder: Bald werden sie nicht mehr untätig im Schoß ruhen, sondern wieder mit den Nadeln klappern, so wie früher. Auf jeden Fall soll es eine Überraschung werden. Und Leonor muss ihr dabei helfen. Dolors muss sich nur etwas einfallen lassen, wie sie ihre Tochter bitten kann, ihr die Wolle zu besorgen, schöne, kuschelige Wolle, in modischen Farben.

Die Idee ist ihr erst vor ein paar Tagen gekommen. Seitdem kribbelt es ihr in den Fingern, und sie überlegt unablässig, nach was für einem Muster sie ihrer Enkelin den Pullover stricken soll. Soll sie ihn mit Rippen machen? … Oder mit Zöpfen? … Patent? … Oder gar mit einem dieser schwierigen Norwegermuster? … Hm, und die Bündchen … und der Ausschnitt … Und wenn sie ihr einen Rollkragenpullover …?

Wann immer sie Sandra seither zu Gesicht bekommen hat, hat sie sie unauffällig gemustert. Dabei hat sie festgestellt, dass die Hemdchen, die das Kind untendrunter trägt – wie nennt man die heutzutage noch gleich? Erst heute beim Frühstück hat Leonor das Wort doch noch erwähnt … ach ja, Tops –, ausnahmslos über dem Bauchnabel enden; es ist wohl gerade modern, den Nabel zur Schau zu stellen. Und die Schultern gleich mit.

Jetzt im Winter ist es dafür eigentlich viel zu kalt. Aber ein junges Mädchen muss natürlich jede Mode mitmachen, so unsinnig sie auch sein mag. Leonor lässt auch keine Gelegenheit aus, Sandra deswegen auszuschimpfen. Sie erreicht damit aber nur das Gegenteil. Je mehr sie schilt, desto weniger zieht die Kleine an. Sandra ist sechzehn, und Sechzehnjährige sind nun mal störrisch und uneinsichtig, das war schon in Dolors’ Jugend so.

Unglaublich, dass Leonor das nicht kapiert. Etwas schwer von Begriff war Dolors’ jüngste Tochter ja von jeher, doch in letzter Zeit wird es immer schlimmer mit ihr. Für vieles ist sie neuerdings blind und taub. Und obendrein sieht sie ständig so abgespannt aus …

Gern würde Dolors sie darauf ansprechen und ihr sagen, gönn dir doch mal ein bisschen Ruhe, Kind, und nimm die Dinge etwas leichter, nur: Sie kann ja nicht mehr reden. So muss sie hilflos zusehen, wie Leonor langsam dahinwelkt. Dabei ist sie noch gar nicht so alt. Herr im Himmel, gerade mal fünfzig!

Heutzutage ist man mit fünfzig doch noch jung! Ja, als Dolors in dem Alter war, da kam man nicht umhin, sich alt zu fühlen, richtig alt. Zu jener Zeit sahen die Jüngeren einen an, als gehörte man schon zum alten Eisen und nicht mehr zu denen, die dafür sorgen, dass die Welt sich weiterdreht; mit fünfzig kam man sich so vor, als hätten sie einen auf einen Balkon verbannt, von wo aus man nur noch zuschauen durfte und am Lauf der Dinge nichts mehr ändern konnte. Mein Gott, wie weh dieser überhebliche Blick der nachfolgenden Generationen doch getan hatte …

Wenn Dolors ihre Tochter heute mit dieser düsteren Miene herumlaufen sieht, würde sie sie zu gern damit trösten, dass auch sie eines Tages darüber lachen wird, dass sie sich durch spitze Bemerkungen hat verletzen lassen, die die anderen nicht ernst gemeint, sondern nur aus Scherz, zum puren Zeitvertreib ausgeteilt haben, vir… virtuell, wie man das heutzutage nennt.

Virtuell, ja genau. Das Wort hat sie erst vor kurzem gelernt. Oma, virtuell heißt, dass etwas nicht existiert, nicht echt ist, es sieht nur so aus, als ob, hatte Martí ihr erklärt. Ihr Enkel will sie nämlich in die »virtuelle Realität« einführen. Wenn Oma sich schon nicht mehr unterhalten kann, ist der Computer für sie sicher eine willkommene Abwechslung, hatte er vor ein paar Tagen zu seiner Mutter gesagt, als diese Großmutter und Enkel vor seiner Maschine überraschte. Lass sie in Ruhe, hatte Leonor leise geantwortet und dabei den Kopf geschüttelt, siehst du nicht, dass das für sie ein Buch mit sieben Siegeln ist? Aber Oma ist doch nicht blöd! Ihr Kopf funktioniert noch einwandfrei, sie kapiert das bestimmt. In ihrer Ecke langweilt sie sich sonst noch zu Tode, hatte Martí seine Großmutter verteidigt. Von ihrem Sessel ins Bett und vom Bett in den Sessel: Mein Gott, Mama, was ist denn das für ein Leben! Lass sie in Ruhe, hatte ihre Tochter nur starrsinnig wiederholt, Oma ist vollkommen zufrieden damit, dass sie nicht allein, sondern im Kreise ihrer Lieben ist, mehr braucht sie nicht, um glücklich zu sein. Nein, das glaub ich nicht, hatte Martí Leonor energisch widersprochen, Oma ist eine blitzgescheite Frau, die will nicht einfach nur dasitzen und Däumchen drehen.

Dolors muss schmunzeln, wenn sie an die Diskussion zurückdenkt. Er ist unheimlich nett, ihr Martí, und er behandelt sie auch nicht so wie all die anderen, so als wäre sie nicht mehr ganz bei Trost. Für ihn ist sie ein Mensch wie jeder andere auch, Punktum.

Martí hat es sich jedenfalls in den Kopf gesetzt, seiner fünfundachtzigjährigen Großmutter beizubringen, wie man mit einem Computer umgeht. Und das mit einer Engelsgeduld, wie sie nur wenige junge Leute haben. Komm, Oma, komm mit ins Arbeitszimmer, das macht dir sicher Spaß, sagt er, sobald seine Mutter weg ist und er ein bisschen Zeit hat, um ihr wieder etwas von seinen Zauberkünsten zu erklären. Dolors hüpft jedes Mal das Herz vor Freude, wenn er ihr dann aus dem Sessel im Wohnzimmer aufhilft, sie liebevoll am Arm nimmt und in Jofres kleines Arbeitszimmer führt, wo diese Apparatur steht, die einen Bildschirm hat wie ein Fernseher, nur kleiner, auf dem man aber trotzdem alles wunderbar erkennen kann, und das sogar in Farbe. Und Tasten hat sie auch, wie eine Schreibmaschine, sie machen aber kein Geräusch, und kaum drückt man eine, geschieht direkt vor einem ein Wunder.

Ganz am Anfang hatte Martí ihr gleich eines gezeigt, von dessen Anblick sie ganz überwältigt war. Das ist die Maus, Oma, hatte er erklärt und auf ein kleines graues Gerät gedeutet, sie heißt so, weil sie wie eine Maus wirkt, findest du nicht auch? Das Kabel ist der Schwanz. Und jetzt schau mal, was passiert, wenn du hier draufdrückst.

Und da war auf der Mattscheibe auf einmal wie aus dem Nichts ein Kätzchen aufgetaucht, ein so niedliches Tierchen, dass Dolors vor Rührung fast die Tränen kamen. Das Kätzchen spazierte von einer Seite zur anderen, stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz herum, tat hin und wieder einen eleganten Sprung oder machte einen Buckel, und manchmal setzte es sich auch hin und leckte sich hingebungsvoll die Pfoten.

Ganz hingerissen hatte Dolors ihm zugesehen, bis Martí erklärte, sie sollten sich lieber mit etwas Ernsthaftem befassen. Er nahm die Maus, und plötzlich waren nur noch Zahlen und Buchstaben zu sehen gewesen. Wo ist die Katze hin?, wollte sie ihren Enkel aufgeregt fragen, aber natürlich gehorchte ihr ihre Zunge nicht, sodass sie nur ein paar kehlige Laute herausbrachte. In ihrer Not riss sie Martí deshalb die Maus aus der Hand und hämmerte verzweifelt auf die Tasten. Doch es nützte nichts: Das Kätzchen blieb verschwunden, und stattdessen erschienen immer mehr Zahlen und Buchstaben.

Da hatte Martí seine Hand beruhigend auf ihre gelegt und sie zärtlich angesehen: Ich seh schon, Oma, du magst lieber mit dem Kätzchen spielen. Dabei bist du so eine kluge Frau, die zeitlebens so neugierig war und immer noch mehr lernen wollte. Aber vielleicht will man ja irgendwann einfach nur noch seine Ruhe haben … Mit diesen Worten hatte er auf ein paar Tasten gedrückt und das Tierchen wieder herbeigezaubert. Das Kätzchen heißt übrigens Fèlix, hatte er noch gesagt und sie dann allein gelassen.

Während Fèlix auf dem Bildschirm auf und ab spaziert war, war sie an jenem Tag zu der Erkenntnis gelangt, dass es tatsächlich übernatürliche Kräfte gab und das, was sie da sah, ein Wunder oder Zauberei sein musste! Und das passierte ausgerechnet ihr, die ein Leben lang eine Skeptikerin gewesen war und immer für alles eine vernünftige Erklärung gesucht hatte. Nicht zu fassen, dass sie jetzt, mit Mitte achtzig, keinerlei Erklärungen mehr brauchte, jetzt war Zauberei einfach Zauberei. Bloß dass man heutzutage dazu »virtuelle Realität« sagte; aber alles ist nun mal dem Wandel unterworfen, inklusive der Bezeichnungen dafür.

Nach einer Weile hatte Martí sie an jenem ersten Tag dann zurück ins Wohnzimmer zu ihrem Sessel geführt, und als sie wieder in ihrer Ecke saß, hatte sie ihn mit leuchtenden Augen angesehen. Denn das kann sie noch: Es ist ihre Art, danke zu sagen. Jetzt, da sie kein verständliches Wort mehr herausbringt, kann sie immerhin noch lächeln. Und sie weiß, dass Martí sich sehr darüber freut. Es macht mich froh, wenn du so lächelst, Oma, sagt er dann immer.

Aus dem Zimmer der Kleinen sind jetzt Geräusche zu hören. Anhaltendes Stöhnen. Was ist da bloß los? … Oh … oh … Schlagartig geht Dolors ein Licht auf, und sie muss kichern. Großartig! Genau wie wir früher, nur macht man es heute eben, ohne vorher geheiratet zu haben … Und natürlich hinter dem Rücken der Eltern: Sandra hat diesen Jungen – es ist ein Junge, sie hat vorhin eine männliche Stimme gehört – nämlich an einem Tag eingeladen, da weder Leonor noch Jofre zu Hause sind. Und auch Martí ist nicht da. Keiner ist da. Nur die Oma. Und die kriegt ja scheinbar nichts mehr...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2012
Übersetzer Ursula Bachhausen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Barcelona • eBook • Familiengeheimnisse • Familiengeschichte • Familienroman • Frauenroman • Lebensgeschichte • Liebe • Stricken • Unterhaltung • Unterhaltungsroman
ISBN-10 3-423-41695-5 / 3423416955
ISBN-13 978-3-423-41695-5 / 9783423416955
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