Der Große Fall (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79930-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Große Fall -  Peter Handke
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Die Geschichte eines müßiggängerischen Schauspielers, an einem einzigen Tag, vom Morgen bis tief in die Nacht: Das Gehen durch eine sommerliche Metropole, von den Rändern bis in die Zentren. Die Begegnungen: mit den Läufern, den Obdachlosen, den Paaren, dem Priester, den Polizisten. Ein Weg mitten durch Nachbarnkriege, vorbei an überlebensgroßen Leinwandpolitikern, dann inmitten von Untergrundfahrern aus einer anderen Welt. Wetterleuchten in der Stadtmitte. Und das Gesicht einer Frau. - Gebundene Ausgabe mit Lesebändchen

<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (K&auml;rnten) geboren. Die Familie m&uuml;tterlicherseits geh&ouml;rt zur slowenischen Minderheit in &Ouml;sterreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach K&auml;rnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (K&auml;rnten) und das dazugeh&ouml;rige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im M&auml;rz 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschlie&szlig;enden Pr&uuml;fung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legend&auml;ren Theaterst&uuml;cks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als drei&szlig;ig Erz&auml;hlungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Ungl&uuml;ck</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linksh&auml;ndige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch &uuml;ber die M&uuml;digkeit</em> (1989), <em>Versuch &uuml;ber die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch &uuml;ber den gegl&uuml;ckten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Gro&szlig;e Fall</em> (2011), <em>Versuch &uuml;ber den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch &uuml;ber den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgef&uuml;hrt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter &uuml;ber <em>Der Ritt &uuml;ber den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvern&uuml;nftigen sterben aus </em>(1974), <em>&Uuml;ber die D&ouml;rfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wu&szlig;ten</em> (1992), &uuml;ber den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis da&szlig; der Tag euch scheidet </em>(2009) &uuml;ber das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die sch&ouml;nen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstra&szlig;e</em> (...

1


Jener Tag, der mit dem Großen Fall endete, begann mit einem Morgengewitter. Der Mann, von dem hier erzählt werden soll, wurde geweckt von einem mächtigen Donnerschlag. Das Haus, mitsamt dem Bett, wird erzittert und für einen langen Augenblick nachgebebt haben. Augenblick: das traf auf den Liegenden dort nicht zu. Aus dem Schlaf geschreckt, hielt er die Augen geschlossen und wartete, wie das Geschehen nun weiterginge.

Es regnete noch nicht, und durch das weit offene Fenster war auch kein Wind zu hören. Dafür blitzte es wieder und wieder. Die Blitze, sie schossen durch die geschlossenen Lider des Mannes mit einem geballten Blaken, und der trockene Donner darauf, in immer kürzerer Folge, brach sich verstärkt in den Ohren.

Geschreckt aus dem Schlaf: auch das traf auf den da Liegenden nicht recht zu. Nicht einmal überrascht schien ihn das Losschlagen des Gewitters zu haben. Er lag still und ließ es durch die Lider blitzen und durch das Schädelinnere donnern, als etwas Allmorgendliches, als etwas Alltägliches; als sei er es gewohnt, auf solche Weise geweckt zu werden; und nicht bloß gewohnt, sondern zu diesem besonderen Gewecktwerden auch berechtigt. Blitze und Donner wirkten als eine Weckmusik, welche ihn aus dem Tiefschlaf so jäh wie selbstverständlich überführte in eine vollkommene Geistesgegenwärtigkeit, und in noch etwas anderes: eine Bereitschaft; Bereitschaft, sich zu konfrontieren, zu stellen, einzugreifen. Erst einmal lag er hingestreckt in dem Tumult und hatte seine Freude daran.

Nach dem ersten Donnern wäre er fast aufgesprungen, um Fernseh- und Musik-Undsoweiter-Stecker herauszuziehen. Doch im selben Moment das Bewußtwerden: Er war nicht im eigenen Haus, lag in einem fremden Bett. Der Ort selber, an dem er geschlafen hatte, war ein fremder, fremd das ganze Land.

Seit sehr langem war das die erste Nacht fern dem eigenen Bett, fern den vertrauten Räumen gewesen. Noch bei geschlossenen Augen hatte er den Arm nach der gewohnten Zimmerwand ausgestreckt, die dann nicht da war. Er hatte ins Leere gegriffen. Und auch das schreckte ihn nicht, er wunderte sich bloß, bis ihm zu Bewußtsein kam: Ich bin ja unterwegs. Ich bin doch gestern von zuhause aufgebrochen. Zwar bin ich nicht erwacht im eigenen Bett, aber auch nicht in einem fremden.

Früher einmal, am ersten Morgen woanders, hatte ihm das Zuhause gefehlt. Schon an den Ankunftsabenden in dem anderen Land, schon am Flughafen dort zum Beispiel, blickte er mit einer Art Trennungsschmerz auf die Tafel, die den unmittelbaren Rückflug anzeigte. Am Morgen des Tages seines Großen Falls aber setzte ihm die Fremde nicht nur keinen einzigen Moment lang zu, sondern er fand sich in ihr auf der Stelle heimisch. Er wollte die Augen nie wieder aufmachen.

Donner und Blitz, Blitz und Donner waren es, die ihn fern von daheim jetzt gastlich aufnahmen. Und als sie dann allmählich schwächer wurden und sich verzogen, tat das der Regen. Ganz plötzlich schon in der Nachgewitterstille, schüttete es los, ein einziges, gleichmäßiges, andauerndes Schmettern. Von dem Schwall behütet, lag der Mann da, weiter mit geschlossenen Augen. Nichts konnte ihm geschehen. Selbst wenn das nun draußen die Sintflut wäre: Er fand sich in einer Arche, fand sich in Geborgenheit.

Von der gewiegt wurde er noch durch ein Drittes. Er hatte geschlafen und war erwacht im Bett einer Frau, die ihm gut war. Die ihn liebte? Zwar hatte sie ihm das während der Nacht einmal bedeutet. Aber er wäre nicht einverstanden gewesen damit, das hier so wortwörtlich niedergeschrieben zu sehen. Sie war mir gut: das war’s, was er sagen konnte.

Auch er war der Frau gut an jenem Morgen, stärker noch als in der Nacht, oder umfassender, aber anders. Sie hatte Bett und Haus sehr früh, schon vor dem Tagwerden, verlassen, für ihre Arbeit. Kaum ein Geräusch war dabei von ihr gekommen, und er, im Halbschlaf, war da erfüllt worden von einer wie kindlichen Dankbarkeit; hatte, das spürte er am ganzen Leib, die Dankbarkeit selber verkörpert. Er hätte es ihr nie und nimmer sagen können, aber wie er so ihrem durch die Räume des Hauses sich entfernenden Luftzug nachhorchte, da lag er und verehrte sie, diese Frau dort.

Eher wäre er mit sich als ihrem Verehrer einverstanden gewesen denn als ihrem Geliebten. Wie sie ihn einmal voll Stolz, kam ihm vor, so ansprach, hatte er, und nicht nur, weil er über das Alter, einen Geliebten darzustellen, hinaus war, die Brauen gehoben und woandershin geschaut.

Gehüllt in den gleichmäßig starken Regenschwall ohne Wind, schlief er noch einmal ein. Obwohl ihm einiges bevorstand, am heutigen Tag und besonders für den morgigen, war ihm, als habe er alle Zeit auf Erden, und zugleich als sei das schon Teil und Anfang der ihn erwartenden Konfrontation. Es war ein so leichter Schlaf, daß der Mensch da in ihm entschwebte. Wenn er noch etwas verkörperte, dann einzig den Schlaf. Fast immer erscheinen in den Filmen die Schauspieler, wenn sie Schlafende darstellten, und sei es noch so lebensecht, fragwürdig. Der da hingegen, mochte er auch, nach dem ersten Erwachen, ganz bei Bewußtsein bleiben, schlief wirklich, während er den Schlaf spielte, und schlief und schlief, und spielte und spielte. Und wenn er dabei träumte und dem Zuschauer etwas vorträumte, so wiederum allein das Schweben und Entschwebtsein. Es war ein Traum ohne Handlung, er konnte darin nicht etwa fliegen. Aber angeblich hatte auch das Traumschweben, gleich dem Fliegenkönnen, eine Bedeutung. Nur hatte er die vergessen, so wie er vieles im Lauf der Jahre entschlossen vergessen hatte.

Das ist der Moment, zu erwähnen, daß der Mann, von dem hier erzählt wird, in der Tat ein Schauspieler ist. Als ganz Junger hatte er, im kleinen Betrieb seines Vaters, ein Handwerk gelernt und, oft auch zusammen mit dem Vater, querhin durch die kleinhäuslerischen Vororte im Nordwesten von B. Fliesen verlegt. Das war ihm immer noch anzusehen, und nicht nur an den Händen, und vielleicht stärker noch anzumerken, an den Bewegungen – einem häufigen Zurücktreten, Rückwärtsgehen, wieder Vortreten –, an den tiefen Blicken – seinem Aufblicken vor allem, jäh, nach einem langen Starren bodenwärts, seinem Augenschmalwerden in manchen Filmszenen, für nichts und wieder nichts, ohne jede Pose, ohne angelernte Bedeutung wie nicht selten bei sonstigen Filmhelden. Bei ihm war das, wie sagt man, die zweite Natur geworden, oder überhaupt die Natur?

Wie, die Geschichte eines Schauspielers, an einem einzigen Tag, vom Morgen bis tief in die Nacht? Und eines Schauspielers nicht bei seinem Tun, sondern beim Müßiggehen? Solch einer als der Held, so oder so, einer Geschichte, einer dazu ernsten? – Niemand Gefährdeter, niemand Trittfesterer als ein Schauspieler, einer wie er. Niemand, der im Leben weniger Rollenspieler ist. Er, der Schauspieler, als »ich!«, das Mehr an weniger Ich. Ohne seine Darstellerarbeit – wenn er nicht spielt – tagelang ausgesetzt. So einer ist episch, auch erdenschwer. Es ist von ihm vielleicht eine Geschichte zu erzählen wie von kaum jemand sonst.

Seine ersten Jahre als Schauspieler waren auf dem Theater vergangen. Die Bühnen waren klein, seine Rollen aber immer die großen, von Anfang an. Und trotz seiner Jugend stellte er fast nur die Alterslosen dar, den Odysseus, den Engel, der den Tobias auf dessen Heilsuchreise für den Vater begleitet und führt, den Othello, ohne schwarze Schminke, den Bäcker in der »Frau des Bäckers«, der seine ehebrecherische Frau zuletzt verzeihend wieder aufnimmt, den Emil Jannings, wenn ihm entfährt, wie es so »schrecklich schmerzhaft« sei, »zugleich lebendig und allein zu sein«. Alterslose Helden, oder Idioten, wie etwa den Bennie in der Dramatisierung von William Faulkners »Schall und Wahn«, wo die winzige Vorstadtbühne unter dem Jammerblick des »Hausstocks« – wie die Zurückgebliebenen einmal hießen – sich zum Universum auswuchtete, oder Fastkinder und überhaupt Lebenslangkinder, wie den Parzival oder den Kaspar Hauser, in welcher Rolle er eine Mutter, zum ersten und so ziemlich letzten Mal im Theater zu Gast, an ihren verstoßenen Sohn, den Bauhilfsarbeiter hinter den sieben Bergen in seiner Baracke, gemahnt hat: So erbarmt hatte er, ihr Sohn, da auf der Bühne, daß sie sofort zu ihm fuhr und ihn zu sich heimholte, für eine Zeitlang. Nur den Faust, wenngleich oft dazu angestachelt, hatte er sich seit je zu spielen geweigert, und würde auch jetzt für dessen ewiges Tätigsein zum Gerettetwerden nicht einmal sein angedeutetes Ausspucken übrighaben.

Mit seinen Filmen war er zum Star geworden, ohne daß ihn auf den Straßen, die sein Element blieben, bis auf seltene Ausnahmen jemand erkannte. Alles an ihm, seine Gestalt, seine Haltung, seine Bewegungen, war unscheinbar, und er konnte sich darüber hinaus unsichtbar machen. Jedenfalls war das seine Gewißheit, und bis zum heutigen Tag hatte die gewirkt. Im Film dagegen, in gleich welchem, war er, werweißwarum, augenblicks zu erkennen, auch in einer Menge, und selbst im hintersten Hintergrund. Das war jeweils etwas anderes als ein bloßes Erkennen oder Wiedererkennen, und keine Frage des Lichts. Oder doch – nur eben nicht einer Beleuchtung – oder doch. Schon in der ersten Einstellung war er herauszuriechen, im Guten wie im Bösen, da noch durchdringender, man wollte so einem nicht auf der Straße begegnen, auch nicht am hellichten Tage. Zu Beginn seiner Filmzeit war er noch verglichen worden: ein mehr ins Düstere schlagender Richard Widmark; ein Marcello Mastroianni ohne dessen betonte Nationalität; ein Francisco Rabal, der nie so recht jung gewesen war. Später genügte er als er.

Seit ein paar Jahren war er nicht mehr...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Annäherung • Belletristische Darstellung • Großstadt • Schauspieler • Selbstreflexion • Zivilisationsflucht
ISBN-10 3-518-79930-4 / 3518799304
ISBN-13 978-3-518-79930-7 / 9783518799307
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