Das wird mein Jahr (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0531-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das wird mein Jahr - Sascha Lange
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Vom Abhauen und Ankommen.

Spätsommer 1989. Friedemann ist 18. Alles, was der Gärtnerlehrling aus Leipzig vom Leben will, ist ein bisschen Rock 'n' Roll und Anke. Doch dann sind Anke und die Mauer plötzlich weg. Und Friedemann braucht einen neuen Plan. Was läge da näher, als im Westen zum Cannabis züchtenden Hausfrauentröster zu werden? 

Dieses Buch ist turbulente Wendekomödie, Roadmovie und Love-Story in einem.

'Ein hervorragender Türöffner für eigene Erinnerungen.' 'Die Welt' über 'DJ Westradio'.



Sascha Lange, geboren 1971 in Leipzig, Musiker, Autor und Historiker mit Schwerpunkt Jugendkulturen im zwanzigsten Jahrhundert. Er ist außerdem wissenschaftlicher Berater für Museen, Medien und Theater.
Im Aufbau Verlag erschien von ihm 'DJ Westradio' und 'Das wird mein Jahr', bei Blumenbar gemeinsam mit Dennis Burmeister 'Depeche Mode : Monument', die bislang größte Werkschau über die britische Band.

1. Primary


Als ich aus dem Haus kam, lag Andi immer noch unter seinem fünfundzwanzig Jahre alten Wartburg und schraubte und fluchte. Seit heute Mittag werkelte er an dieser alten Kiste. In zwei Stunden wollten wir in unseren ersten gemeinsamen Auslandsurlaub starten.

Letzten Sommer waren wir zelten an der Müritz, mit ein paar Kumpels und Millionen von Mücken, doch dieses Jahr, zum Abschluss unserer Lehrzeit, sollte es schon mal was Besonderes sein. Darum nach Ungarn, die westliche Perle des Ostblocks. Außerdem fuhren wir nicht allein, Katrin und Anke aus unserer Clique wollten mitkommen und wir freuten uns diebisch.

Aber da war noch was, das uns vier seit einigen Wochen verband. Wir waren »The Innocent Disco«, die erste New-Wave-Band aus Leipzig-Grünau. Andi am Schlagzeug, Katrin am Keyboard, Anke am Mikro und ich an der Gitarre. Wir waren die neueste, coolste Band, die es in Grünau gab. In ganz Leipzig. In der gesamten, verdammten Zone! Alle wertvollen Essenzen von zehn Jahren englischer New-Wave- und Independent-Musik hatten wir aus zahllosen Kassetten für unsere Songs herausgefiltert. Wir probten im Keller der Rakete, unserem Jugendclub im Viertel, und teilten uns das Kabuff mit einer Heavy-Metal-Band, die regelmäßig für das klischeehafte Flair eines echten Proberaumes sorgte: verschüttetes Bier, Zigarettenqualm, leere Schnapsflaschen. Perfekt. Unser erster und bislang einziger Song hieß »Stinos On The Dancefloor«. Die Musik sollte klingen wie irgendwas zwischen Billy Idol, Siouxsie & the Banshees, Joy Division und The Smiths. Davon waren wir noch meilenweit entfernt. Schließlich hatten wir erst dreimal geprobt.

»Mensch, Andi, was ist denn los? Ich hab dich aus dem Küchenfenster beobachtet. Alles klar?«

»Nichts ist klar, klar?«, tönte Andis gestresste Stimme blechern aus dem geöffneten Motorraum zurück. »Gib mir lieber mal den Hammer.« Eine fordernde, ölverschmierte Hand tauchte neben dem linken Radkasten auf. Ich angelte aus dem Werkzeugkasten besagten Hammer und reichte ihn runter. Unter dem Wagen ging es jetzt richtig zur Sache. »Komm endlich, du Scheißding!« Andi hämmerte ohne Pause und ließ sich noch eine Menge andere Schimpfwörter einfallen.

Ich stand etwas hilflos neben dem Wagen, den er sonst immer nur liebevoll »mein Warti« nannte und blickte zu den Fenstern der Neungeschosser am Ende der Straße. Hier in unserem Neubaugebiet war der Block, in dem Andi und ich wohnten, mit fünf Stockwerken einer der kleinsten. Im Haus gegenüber wohnte die alte Frau Dietrich. Den anderen Omis im Viertel erzählte sie manchmal, dass sie mit Marlene Dietrich verwandt sei und fast auch ein UFA-Filmstar geworden wäre. Was auch immer davon stimmte oder nur ihrer Fantasie entsprungen war – die Realität hatte aus ihr jedenfalls eine Verkäuferin in einer Konsum-Kaufhalle gemacht, und nun als Rentnerin saß sie den ganzen Tag rauchend an ihrem offenen Wohnzimmerfenster im zweiten Stock, gestützt auf ein besticktes Kissen und beobachtete, wie Andi an seinem Warti schraubte. Natürlich auch jetzt.

Ich nickte ihr grüßend zu, und sie nickte zurück. In der Straße hieß sie nur »Frau Fensterguck«. Wenn Andi mal nicht zu Hause war, brauchte ich nur zu ihr rüberrufen: »Guten Tag, Frau Dietrich, wann ist denn der Andreas Wuttke aus dem Haus?«, und schon gab sie bereitwillig und ausführlich Antwort. Meist hatte die Gute sich schon anhand der Klamotten oder des Gepäcks überlegt, wo Andi hingegangen sein könnte. Ihr entging nichts, und auch wenn sie manchmal rummeckerte, weil wir abends vor dem Haus zu laut waren, gehörte sie zur Straße wie die Müllabfuhr.

Die Schwalben donnerten ohne Pause durch die Häuserschluchten des Viertels und tschirpten allen in die Ohren, dass schon August war. Bald würden sie nach Süden aufbrechen. Genau wie wir. Nur, dass die Schwalben noch weiter durften. Bis nach Italien oder sogar Afrika.

Aus Andis Auto kam plötzlich ein »Plong« und unter dem Wagen hörte man es seufzen. »Na endlich!« Andi kam hervorgekrochen und blinzelte mich zufrieden an. Sein wasserstoffblond gefärbter Billy-Idol-Strubbelkopf war nicht gerade in Topform, und von der Stirn tropfte ihm der Schweiß. »Na, Friedemann, alter Kunde, schon gepackt?«

»Klar. Probleme mit dem Warti?«

Andi war aufgestanden und klopfte sich den Staub der Straße vom T-Shirt. »Die Trommelbremse hat ’ne Macke, muss ich austauschen. Ich hol nur ’n Ersatzteil aus dem Keller, und in null Komma nichts ist die Karre fit für unseren Urlaub.« Andi fuhr sich mit der ölverschmierten Hand über die Stirn und hinterließ eine graubraune Kriegsbemalung. »Mensch, Friedemann, das wird großartig. Ungarn! Wir beide und die Mädels! Und mein Bruder lädt uns zum Essen ein!« Den letzten Satz hatte Andi verschwörerisch geflüstert. Er lachte und ging ins Haus.

Friedemann. Andi nannte mich immer noch bei meinem Vornamen, dabei war ich für die meisten nur »Blume« – von Blumenstrauß. Ausgerechnet mein Vater hieß so. Bei so einem Nachnamen gab es für mich nach der zehnten Klasse eigentlich nur eins: Gärtner werden, denn in einem Blumenladen zu arbeiten, war doch mehr was für Mädchen.

Mein Vater Horst hatte meiner Mutter 1967 sofort einen Heiratsantrag gemacht, als sie sagte, sie hieße Rosemarie. Das war bei einer Betriebsfeier im Kirow-Werk. Er war damals Schlosser, und sie arbeitete als Sekretärin in der Verwaltung. Später ist mein Vater dann in die Planung aufgestiegen. Mit eigenem Büro. Und nachdem ich 1970 geboren wurde, arbeitete meine Mutter nur noch dreißig Stunden die Woche.

In den ersten Schuljahren hatten mich meine Mitschüler manchmal wegen des Nachnamens aufgezogen. In der fünften Klasse war ich darum in einen Kanuverein eingetreten und hatte mir auf dem, nach chemischen Abwässern stinkenden, Elsterflutbett einige Muskeln antrainiert. Deshalb gab es eines schönen Tages nach einer unvorsichtigen Bemerkung von Sven, der einen Kopf größer war als ich, ein paar Ohrfeigen, und seitdem war endlich Ruhe. Nur meinen Spitznamen Blume, den wurde ich nicht mehr los.

Andi kannte ich, seit meine Eltern 1981 mit mir nach Grünau ins »WK 1« gezogen waren. Zuvor hauste unsere Familie in einer runtergekommenen Bude in Lindenau mit nur einem Waschbecken und Klo auf halber Treppe. Jetzt lebten wir in einem »Wohnkomplex«. Sechzig Quadratmeter mit Bad und Heizung, wir im zweiten Stock, Andi im vierten. Grünau – das klang dörflich, so nach grüner Idylle. In Wirklichkeit wohnten in diesem aus dem Boden gestampften neuen Stadtteil von Leipzig 85.000 Menschen, und Grün war hier eher wenig zu finden. »Arbeiterschließfach« nannten manche das Viertel. In der ersten Zeit verfuhren sich immer die Krankenwagen, weil die neuen Straßen im Zickzack verliefen. Das war auch der Grund, warum Andi schon als Teenie einen alten Wartburg 311er Kombi erbte, denn Andis Vater hatte im Mai 1984 einen tödlichen »Getränkeunfall« gehabt. Er war besoffen auf das Flachdach eines der Hochhäuser geklettert, um sich einen »Überblick« zu verschaffen, war die Kante entlang balanciert – und runtergefallen. Das stand sogar in der Zeitung, und Andi hatte den Artikel an seine Wand gepinnt. Aber näher darüber gesprochen haben wir nie, er wollte das irgendwie nicht.

Neben dem Zeitungsausschnitt hing ein Bild von Billy Idol. Andi vergötterte ihn wie sonst niemanden. Sogar beim Tanzen verzog Andi seine Oberlippe wie Billy und ballte dazu die Fäuste – falls er beim Luftgitarrespielen gerade eine Hand frei hatte. Beim Trommeln am Schlagzeug machte er das ähnlich. Mann, waren wir cool.

Und wir hatten den Warti. Weil Andis Mutter keine Fahrerlaubnis besaß und Jens, sein großer Bruder, 1987 dauerhaft und offiziell in den Westen ausgereist war, gehörte der Warti ihm. Er war der King von Grünau, und wir machten mit unseren sechzehn Jahren die ersten Spritztouren durch die Gegend. Das Fahren hatte ihm noch sein Bruder auf dem nahe gelegenen Garagenhof beigebracht. Die Fahrerlaubnis, die Andi zwei Jahre später bei der vormilitärischen Ausbildung während seiner Lehre zum Maschineninstandhaltungsmechaniker machte, war dann nur noch Formsache.

Die technischen Daten kannte ich mittlerweile auswendig, weil Andi sie mir immer wieder vorgebetet hatte: Wartburg 311 Camping – das war die Kombivariante, Baujahr 1964, 45 PS, Dreizylinder-Zweitaktmotor, 991 Kubikmeter Hubraum, Viergang-Lenkradschaltung, Pumpenumlaufkühlung mit Thermostat, Zahnstangenlenkung mit geteilter Spurstange, Lichtmaschine mit temperaturkompensiertem Spannungsregler, Anlasser mit elektromagnetischem Schubschraubtrieb, Höchstgeschwindigkeit bei voller Ladung 100 km/h. Das Ding war gut in Schuss, denn wenn sein Vater nicht gerade stockbesoffen von der Arbeit gekommen war, hatte er viele Stunden an diesem Oldtimer gebastelt.

Andi kam zurück mit einem verdreckten runden Teil aus Gusseisen in der Hand, das er mit einem ebenfalls nicht ganz sauberen Lappen putzte. »Ein Glück, dass mein alter Herr so viele Ersatzteile gebunkert hat. Ich könnte mir die Karre komplett noch zweimal aufbauen.« Er kroch wieder unter den linken Radkasten. »Schwester: Zange und Tupfer!«, rief er mir gut gelaunt zu.

Katrin und Anke kannten wir seit der Schulzeit. Sie gehörten zu unserer Clique, die sich seit drei Jahren in der Rakete traf, ein kleiner Flachbau gleich neben der Schule. Wir waren bislang nur »gute Freunde« und Bandkollegen. Aber Andi und ich wollten das ändern. Bei ABBA hatte es das doch auch gegeben, zwei Pärchen in einer Band. Als Andi sie darum letzte Woche bei der Disco in der Rakete ziemlich besoffen, aber mit ironischem Unterton fragte: »Sagt mal,...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2012
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1989 • Cannabis • Humor • Komödie • Liebe • Männer • Mauerfall • Roadmovie • Rock 'n' Roll • Roman • Unterhaltung • Wende
ISBN-10 3-8412-0531-3 / 3841205313
ISBN-13 978-3-8412-0531-5 / 9783841205315
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