Sepia (eBook)

Roman

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
391 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0475-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sepia - Helga Schütz
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Der poetische Blick auf die sechziger Jahre. Mit 17 wird es Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen, findet Eli. Gelegenheit dazu bietet das Studium der Kinematographie in Potsdam. Was es damit auf sich hat, muss sie freilich noch herausfinden. Man schreibt das Jahr 1958, und Eli, die gelernte Gärtnerin, wird unter all den Intellektuellen »die proletarische Perle in der goldenen Krawattennadel«. Nach und nach begreift sie, dass es außer um Filme auch um Haltungen geht in einer Welt, die sich immer schärfer in zwei Lager teilt. Selbst als genau vor der Hochschule die Mauer hochgezogen wird, löst Eli ihre Konflikte nicht nach ideologischen Vorgaben, sondern nach moralischem Gefühl und gesundem Menschenverstand - naiv, dickköpfig, listig. »Dass man Schweres mit leichter Hand aufschreiben kann, hat Helga Schütz mit all ihren Büchern bewiesen.« Sächsische Zeitung.

Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 Umsiedlung nach Dresden. Nach einer Gärtnerlehre Arbeit als Landschaftsgärtnerin. ABF. Nach dem Studium an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg wurde sie freie Autorin und schrieb Drehbücher und Szenarien zu Spiel- und Dokumentarfilmen, später auch Romane und Erzählungen. Em. Professorin an der Hochschule für Film und Fernsehen. Sie lebt in Potsdam. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Zuletzt erschienen: Grenze zum gestrigen Tag (Roman, 2000); Dahlien im Sand. Mein märkischer Garten (2002); Knietief im Paradies (Roman, 2005); Sepia (Roman, 2012); Die Kirschendiebin (Erzählung, 2017);  Von Gartenzimmern und Zaubergärten (2020).

 

Der wilde Weg über den Neumarkt war in diesen Tagen hartgefroren.

In den Spuren splittert das Eis.

Eli zieht einen Handwagen, beladen mit guter Kohle, heute die siebente Fuhre, schwarzsilberne Brocken vom Bunker am Elbhafen für die Orangerie im Botanischen Garten, für die Palmen und die anderen frostempfindlichen Gewächse, Zitronen, Lorbeerbäume, unter Glas und in südlicher Wärme.

Sie tritt, rechts, links, in die betonfesten Abdrücke ihrer Filzstiefelsohlen, der Wagen läuft in der eingefahrenen Spur, es ist die kürzeste Strecke.

Sie ist siebzehn Jahre alt, braunäugig, unter einer aus bunten Wollresten gestrickten Mütze steckt ein Nest blonder Haare.

Die siebente Fuhre. Das soll die letzte sein. Für heute und für immer.

Eli wird nicht von einem Lehrmeister mit Schimpfe strafversetzt, vom Zitronenhain zum Heidefriedhof, dieses Mal nicht, sie wird auch nicht fortgelobt, vom besagten Heidefriedhof, wo sie die Anlage um einen neuen Gedenkstein überraschend vorbildlich gestaltet hat, in die fachlich anspruchsvolle Himalajaregion des Botanischen Gartens.

Die Arbeit im Strafrevier auf dem Friedhof hatte sich unter der Hand als paradiesische Zeit erwiesen, das Lob dagegen erweist sich als Fessel. Der Himalaja, das weiß jeder, das ist eigentlich das Höchste, das Lob hatte sie an eine Endstation katapultiert.

Eli will gehen. Sie ist fest entschlossen.

Sie hat in der Verwaltung ein Formular ausgefüllt und unterschrieben. Vor Anstrengung, vor lauter Erwartung glänzt die Stirn. Schweißperlen. Der Atem gefriert. Kristalle hängen an den Wimpern. Heiß und kalt. Die kürzeste Strecke ist lang.

Es hat angefangen, zu schneien. Eine saubere Decke liegt jetzt über den aufgeräumten Trümmern der Stadt. Weiße Rahmen zeichnen die Fensterhöhlen des Schlosses. Barrieren sichern den Weg über ein weißes Feld. Sperrgitter. Auf dem Steinhaufen der Frauenkirche spießen rote Blumen aus dem Schnee, Kranznelken vom Jahrestag der Bombennacht. Große Flocken schweben herab. Eli zieht den Wagen. Sie hat sich aus einer Sofadecke eine Jacke genäht, der Rücken und die Vorderteile sind mit Stoffresten gepolstert. Die Jacke wärmt und macht Mut. Schnee liegt nun über dem Eis. Flocken fallen auf die bunte Mütze. Eli liegt in den Deichselgurten, sie stemmt das Geschirr. Der Weg ist holprig und nun auch glatt, die Kohle ist schwer. Die Gedanken fliegen. Das soll die letzte Fuhre sein.

 

Im großen Bassin der Orangerie blüht die Victoria regia, die Riesenwasserrose. Sie blüht nur zwei Nächte, man muss sich beeilen, wenn die Knospe am ersten Abend ihre weißen Blätter entfaltet, duftet es im Glashaus, die Alten sagen: nach Ananas. Dieses Mal haben die Dresdner Naturfreunde wegen der niedrigen Temperaturen im Warmhaus wochenlang warten müssen. Es ist in der Zeitung bekanntgemacht worden. Die Verzögerung aus technischen Gründen und endlich das Ereignis. Interessierte Einwohner sind herzlich eingeladen, der Botanische Garten öffnet über Nacht seine Tore.

Gartenmeister Henn hat sich aus diesem Anlass rasiert, er hat ein Hemd angezogen und einen Schlips umgebunden. Ein Mitarbeiter wird die Tür zum Warmhaus bewachen, und Henn wird für Fragen zur Verfügung stehen und für Fotos, falls ein Fotograf kommt, um von der Blüte eine Aufnahme zu machen. Die Blüte und er, Henn, als Gartenmeister.

Eli hat das Schauspiel, die Victoriablüte, die erste Nacht weiß, die zweite Nacht rosa, schon einmal im vorigen Jahr erlebt. Sie hockt nun abseits auf einer freien Stellage, die Füße in Socken auf den Heizungsrohren, es ist die von Eli herbeigekarrte Kohle, die in der Orangerie für Wärme sorgt. Die Filzstiefel hat Eli mit Zeitungspapier ausgestopft. Sie trocknen inzwischen auf dem heißen Hauptrohr.

Der Gartenmeister hat viel zu tun. Eigentlich gilt er als stiller und ernster Mann, aber nun breitet er seine Kenntnisse aus.

Eine Besuchergruppe hat sich um ihn versammelt. Dann wird ein Mikrophon vom Rundfunk aufgebaut, und Henn erzählt alles noch einmal. Über den abenteuerlichen Weg der Pflanze. Fehlschläge, Hindernisse, Humboldt und sein Bonpland hatten seinerzeit kein Glück, erst viele Jahre nach der Entdeckung der Regia in einem Nebenarm des Amazonas hat es mit der Kultur dieses Blütenwunders mit den Riesenblättern in einem botanischen Garten Europas geklappt, und heute können wir uns freuen. Henn weist feierlich in Richtung Bassin, wo die Knospe sich allmählich öffnet. Er entschuldigt sich noch einmal, nimmt die Regia in Schutz, eine Verspätung kann ja mal vorkommen, statt November im Februar. Oder eine Verfrühung. Jetzt macht Henn sogar einen Scherz. Unser Wunder blüht schon im Februar statt erst im November. Die Besucher zeigen Verständnis, doch man hört auch andere Stimmen. So ein Durcheinander gab es nicht mal im Krieg.

Schließlich gewinnen die Schönheit und der köstliche Duft. Eli hat die Palmwedel vorsichtig beiseitegeschoben, sie beobachtet die Aktion von ferne, wundert sich über den Gartenmeister. Wie er sich für die Regia ins Zeug legt. Eli hat kaum je so viele Worte von ihm gehört und so freundliche. Seerose müsste man sein.

Henn ist dagegen, dass Eli fortgeht. Für einen Gärtner gehört sich das nicht. Ein Gärtner bleibt am Platz und hütet sein Revier.

Es ist Elis felsenfester Entschluss. Sie wird die aufgeräumte Stadt und den Botanischen Garten mit seiner gepflegten Himalajaregion samt den prächtigen Tränenkiefern verlassen.

Sie ist alt genug, es sind so viele Jahre vergangen, seit Großvater Anton sie als Überlebenskind im Sammelheim an der Elbe gefunden hat.

Eli hat unterdes den Gesellenbrief, Grund- und Fachschulabschlüsse und ein Zeugnis von einem Schreibmaschinenkurs in der Tasche, alles mit dem Siegel der Stadt. Henn hat, obwohl er dagegen ist, eine Empfehlung geschrieben.

Wo willst du denn hin?

Woanders, wo es schön ist. Henn zuckt die Achseln, wie soll es denn woanders schön sein, er gibt Eli den Brief.

 

Beurteilung für Fräulein Rafaela Reich

Eli ist bis zum heutigen Tag, wenn es um das Überleben ging, durchgekommen. Auf ihrer Laufbahn wurde viel erschlagen, verbrannt, erschossen. Manch einer ist neben ihr auf dem Fluchtkarren verhungert oder erfroren. Unzählige sind bei den Fliegerangriffen auf unsere Stadt umgekommen. Eli jedoch hat in der Schornsteinecke des Luftschutzkellers überlebt. Danach ist sie in die Schule gegangen und in die Lehre, anschließend in den Botanischen Garten.

Nun ist sie siebzehn geworden.

Nun will sie wissen, was sonst noch möglich ist.

Hochachtungsvoll

Henn, Gartenmeister

 

Eli hat im Jugendmagazin gelesen, dass es in Potsdam eine Schule gibt, die den Lernenden Mittagessen zur Verfügung stellt. Außerdem Betten und sogar Bettwäsche. Daraufhin hat Eli den ganzen Artikel gelesen. Man studiert dort vier bis fünf Jahre Kinematographie. Am Ende muss man wissen, was zu machen ist, damit sich das Auge des Zuschauers nach und nach im Kino wie die Linse einer Kamera fühlt. Auf und ab, hin und her. So bewegen sich nicht nur die Körper im Raum, sondern der Raum selbst dreht sich. Der Raum zerfällt. Motto: Der feste Sessel im Kino ist eine Täuschung. Eli vergewissert sich noch einmal. Mittagessen, Bett, sogar Bettwäsche.

Wo gibt es denn so was.

Eli geht an der Hochschule für Musik vorbei. Das neu gebaute Haus liegt am Wege, nicht weit vom Botanischen Garten. Hier hat Eli auf der Bühne der Aula Dekoration gestellt, eine Doppelreihe Farne in sechzehner Töpfen. Eli weiß, wo das Büro ist.

Die Frau hinter dem Schreibtisch kann Auskunft geben. Talent ist Fleiß, sagt sie, es steht alles in unseren Broschüren. Sie überreicht Eli ein Anleitungsheft und Bewerbungspapiere.

Das meiste ist überall gleich, für manche Schulen muss man Aufnahmeprüfungen machen, in Potsdam wird man zu einem Eignungsgespräch bestellt. Den Unterschied, Eignungsgespräch/Aufnahmeprüfung, kann die Frau hinter dem Schreibtisch nicht genau erklären, aber die Sache mit den Betten ist richtig. Es stimmt, sagt sie, manche Schulen bieten den jungen Leuten ein Unterkommen. Wir leider nicht, aber du, wenn du bei uns Student sein würdest, du hättest gleich einen Vorteil, du brauchst keine Zuweisung für ein Bett, weil du schon ein Bett und ein Zuhause hast, hier in unserer Stadt. Wir suchen noch Nachwuchs im Fach Komposition. Du hättest als Frau und als eine, die kein Bett braucht, bei uns gute Chancen. Eli dankt und seufzt innerlich. Zuhause, das ist eine Kammer neben Großvater Antons Küche. Und außerdem gibt es wahrscheinlich schon genug Musik, Großvater Anton hat eine ganze Kiste voll Platten.

Eli steckt die Papiere ein, Fragebögen, Fortbildungsadressen.

 

Eli macht jetzt jeden Tag halt vor der Schauburg. Sie versucht, nach der Arbeit zur 18-Uhr-Vorstellung zurechtzukommen. Eli bereitet sich vor. Der Sonnabendfilm bloß zum Spaß genügt jetzt nicht mehr. Eli hat herausgefunden, Kinematographie ist alles mit Kino und Filmkunst.

Die erste Woche sitzt Eli bei den meisten Vorstellungen ganz allein im Saal. Man spielt Das Lied von Sibirien. Ein Naturfilm, wo eine Landschaft darauf wartet, dass der Mensch vielleicht einmal wieder von der Erde verschwindet. Wunderbare Wälder, gespenstische Fabriken, verletzte Krieger, Helden. Manchmal spricht Eli mit der Platzanweiserin, einmal hat der Filmvorführer Zeit, ihr die Vorführgeräte, die Projektoren, zu erklären. Er streckt Eli zur Begrüßung die linke Hand entgegen. Ich mache alles mit links, sagt er, der rechte Arm liegt im Donezbecken. Eli verbirgt ihr Ungeschick, verwirft ein Bedauern, denn sie sieht sofort, dass hier ein Zauberer waltet.

In der Woche darauf steht...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2012
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960er Jahre • 20. Jahrhundert • 60er Jahre • BRD • DDR • Deutsche Teilung • Deutschland • Film • Kinematografie • Potsdam • Roman • Studium
ISBN-10 3-8412-0475-9 / 3841204759
ISBN-13 978-3-8412-0475-2 / 9783841204752
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