Sommerstück (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
233 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73325-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sommerstück -  Christa Wolf
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Einen Sommer auf dem mecklenburgischen Land erlebt die Schriftstellerin Ellen, zusammen mit Familie und Freunden. Der gesellschaftliche Stillstand ist Ende der siebziger Jahre deutlich zu spüren, aber für die Dauer einiger weniger Monate, die in der Erinnerung einmalig und endlos scheinen, entsteht hier eine lebendige Gemeinschaft. Sommerstück ist die Geschichte eines Jahrhundertsommers und zugleich der Abgesang auf eine politische Utopie.

<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Sommerstück 5
Motto 7
Widmung 8
1. 9
2. 13
3. 22
4. 28
5. 35
6. 44
7. 55
8. 62
9. 80
10. 94
11. 109
12. 123
13. 136
14. 151
15. 172
16. 180
17. 193
18. 209
19. 217

1.


Es war dieser merkwürdige Sommer. Später würden die Zeitungen ihn »Jahrhundertsommer« nennen, trotzdem würde er von einigen seiner Nachfolger noch übertroffen werden, infolge gewisser Veränderungen der Strömungsverhältnisse über dem Pazifik, die zu einem »Umkippen« des Ozeans und noch unabsehbaren Verschiebungen in der Großwetterlage über der nördlichen Halbkugel geführt hätten. Davon wußten wir nichts. Wir wußten, wir wollten zusammensein. Es kam vor, daß wir uns fragten, wie wir einmal an diese Jahre denken, was wir uns und anderen über sie erzählen würden. Aber wirklich geglaubt haben wir nicht, daß unsere Zeit begrenzt war. Jetzt, da alles zu Ende ist, läßt sich auch diese Frage beantworten. Jetzt, da Luisa abgereist, Bella uns für immer verlassen hat, Steffi tot ist, die Häuser zerstört sind, herrscht über das Leben wieder die Erinnerung.

Es sollte nicht sein.

Damals, so reden wir heute, haben wir gelebt. Wenn wir uns fragen, warum der Sommer in der Erinnerung einmalig erscheint und endlos, fällt es uns schwer, den nüchternen Ton zu treffen, der allein den seltenen Erscheinungen angemessen ist, denen das Leben uns aussetzt. Meist, wenn der Sommer zwischen uns zur Sprache kommt, tun wir so, als hätten wir ihn in der Hand gehabt. Die Wahrheit ist, er hatte uns in der Hand und verfuhr mit uns nach Belieben. Heute, da die Endlichkeit der Wunder feststeht, der Zauber sich verflüchtigt hat, der uns beieinander und am Leben hielt – ein Satz, eine Formel, ein Glauben, die uns banden, deren Schwinden uns in vereinzelte Wesen verwandelte, denen es freisteht, zu bleiben oder zu gehen: Heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte jenes Sommers in uns lebendig zu erhalten.

Was sehen wir denn, wenn wir die Augen schließen? Ein paar Figuren, hingeworfen auf einem in leuchtenden Farben gehaltenen Grund, darüber ein Himmel, hochgewölbt, tiefblau, wolkenlos, gegen Abend goldgetönt, schließlich nachtschwarz, bestückt mit einer Unzahl von Sternen. Jetzt! schrie alles uns an. Wie ein Hetzruf, der einem ins Blut geht: Jetzt! Jetzt! So schrien die Dinge uns um Erlösung an. Wir sollten so stark wir selbst sein, wie sie sie selbst sein mußten. Es konnte bedrohlich werden, ja. Mitten auf der Wiese der Kirschbaum in seinem unvernünftigen Blütentaumel, das war Ende Mai. Der Kirschbaum, der sich Ellen in die Netzhaut einritzte, kein anderer wird sein Bild je verdrängen. Oder die beiden Eichen, die ihr Astwerk ineinandergeschlungen haben und deren eine, rechte, für sie weibliche, auch dieses Jahr um ein, zwei Wochen später grün wurde als die andere, männliche – ein Vorgang, den Ellen als Sinnbild nahm. Oder die nestersuchenden Schwalben, die sich unter dem überhängenden Rohrdach einrichteten, unter dem Jan, kaum waren sie angekommen, die dicken Spinnwebplacken abfegte. Der unentzifferbare Code, den sie mit ihren pfeilschnellen Flügen gegen den blassen Morgenhimmel, mit ihren sanften Bögen gegen Abend auf brandroten Grund schrieben. Nie waren die Spinnen so schlimm wie dieses Jahr. Nie war der Himmel unentrinnbarer in seinem herrischen Blau. Und die Sterne letzte Nacht? Habt ihr das Gefunkel gesehen? Habt ihr gesehn, wie der Abendstern immer größer wurde, je länger man ihn ansah? War dir auch so, als würde er dich in sich hineinreißen? – Solche Fragen stellte Luisa durchs Telefon.

Nein. Nein Luisa. Die Sterne waren oben, und ich war unten, himmelweit von ihnen entfernt, und falls etwas an mir riß, meine ungestillte Gier nach den Sternen war es nicht.

Luisa und Ellen sind nicht aus dem gleichen Stoff gemacht. Aber merkst du nicht, wie es dich treibt, daß du keinen Augenblick versäumen darfst. Weil bald etwas Schlimmes passiert.

Was meinst du, Luisa.

Merkst du nicht, wie alles zum Zerreißen gespannt ist.

Luisa dachte, das Himmelszelt werde eines Tages reißen und die Weltraumkälte könnte bei uns einströmen. Oder die Erde werde unter der Hitze bersten und sich bis zu ihrem rotglühenden Kern vor unseren Füßen auftun. Oder dieses Leuchten und Brennen und Flimmern werde das für unsere menschlichen Körper erträgliche Maß überschreiten. Merkst du nicht, wie du dich auflöst.

Nein, Luisa. Ellen blieb fest, wahrte ihre Konturen. Das war keine Fähigkeit, sondern ein Unvermögen, das sich als Fähigkeit tarnte. Das eingefleischte Unvermögen zur Selbstaufgabe. Wie lange, fragte sie sich, würde sie es halten können, noch halten wollen?

Und hast du keine Angst vor dem Ton, den das Himmelsgewölbe hervorbringen wird, wenn jemand jetzt daran schlägt? Spürst du nicht, mittags, wie dieser Ton dicht davor ist, auszubrechen und uns die Ohren zu zerreißen.

So Tag um Tag.

Wir wollten zusammensein. Manche Tiere haben diese Witterung, lange ehe man sie zur Schlachtbank führt. Vergleiche, nicht zu rechtfertigen, auch nicht zurückzunehmen. Wir wußten nichts, es gab keine Anzeichen. Unter nichtigen Vorwänden suchten wir jeder die Nähe des anderen. Ein Alleinsein würde kommen, gegen das wir einen Vorrat an Gemeinsamkeit anlegen wollten. Wer kann sich andauernd auf der Tagesseite der Erde halten? Wie soll man es sich versagen, wenigstens im Geiste an jene Orte zurückzukehren, die, jetzt verödet, einst jenen sehr flüchtigen Stoff zu binden wußten, für den Glück ein Verlegenheitsname ist. Soll man der Versuchung nachgeben. Darf man es denn? Noch einmal diesen Grund auslegen. Diesen Himmel aufspannen. Den Bewegungen dieser Zufallsfiguren folgen, so wie ein Kind mit dem Finger die Linien eines Labyrinths nachzeichnet, ohne den Ausgang je zu finden. Uns noch einmal die Plätze bereiten, daß wir sie einnehmen können.

Doch wohin soll das führen. Ist Schönheit beschreibenswert?

Eine vernichtende Frage. Was bleibt zu hoffen für eine Zeit, die vom Hohn auf Schönheit gezeichnet ist? In der eine vertrackte Art von Mut dazu gehört, von einer gewissen Baumgruppe – Ellens beiden Eichen, die genau auf der Grenze zwischen Schependonks und ihrem Grundstück standen – zu behaupten und zu wiederholen, sie sei schön.

Dies nur als Beispiel. Luisa, die niemals fragen würde, ob zu einer Handlung oder Aussage Mut gehört, gebrauchte das Wörtchen »schön« sehr häufig, mit innigem Ausdruck und in inständigem Ton. Wir lächelten, wenn sie auf unseren Stadtgängen den Eckstein einer Treppe, eine Türklinke, eine Fensterumrahmung oder ein altes Innungsschild »schön« nannte, gar nicht zu reden von den alten Frauen, die in den kleinen alten Städten überall auf Bänken unter Bäumen, hinter einer spiegelnden Fensterscheibe, sogar auf Steintreppen vor den windschiefen bröckligen Fachwerkhäusern sitzen, die sich gegenseitig halten. Habt ihr gesehen, wie schön die war? Mit der Überlegenheit ist uns das Lächeln vergangen. Ohne Zwang, ohne Überredung hat Luisa uns sehen gelehrt. Versteht sich, daß wir uns wehrten. Wir begannen gewahr zu werden, welchen Preis der zahlt, der auf Schönheit angewiesen ist: Er ist dem Gräßlichen ausgeliefert, wie Luisa.

2.


Natürlich war uns klar, daß man sich an nichts hängen soll. Natürlich hat ein Begriff wie »Haus« in unseren jüngeren Jahren keine Rolle gespielt. Ganz, ganz andere Wörter, erinnerte Ellen sich, hatten ihren Kopf vollständig besetzt gehalten. Was trieb sie auf Haussuche? Die Selbstrechtfertigungen, die sie sich schuldig waren, verblaßten vor Luisas Überzeugungen. Flucht? Aber wieso denn Flucht. Wo doch hier das wirkliche Leben ist. Ihr werdet sehen.

Luisa litt, daß sie zur falschen Jahreszeit und von der falschen Seite her ins Dorf kamen. Oft, oft sind sie dann noch von der richtigen Seite gekommen, vom Sandberg her, und beim richtigen Wetter, bei Sonne und praller Hitze. Beim erstenmal aber, davon war dann immer wieder die Rede, hatten sie sich zu Ostern, an einem kalten, windigen, regnerischen Tag, und von hinten her, über die Hügel, an das Dorf herangemacht. So habe es keinen Zweck, hatte Luisa angstvoll gesagt. So würde ihnen das Dorf nicht gefallen. Kalte Schauer schlugen ihnen ins Gesicht, sie stemmten sich gegen den Wind. Das ist hier so, sagte Luisa entschuldigend. Seenähe. Hör doch auf zu jammern, sagte Antonis, und sie lachten, daß Luisa sich für die Landschaft, die Jahreszeit und das Wetter verantwortlich fühlte. Sie kannten Luisa noch nicht gut. Wenn ihr im Sommer kommt, sagte sie, am besten mittags, wenn die Sonne senkrecht steht. Auf dem Sandberg müßt ihr anhalten. Dann seht ihr auf einmal euer Dorf daliegen, und ihr versteht gleich, warum es die Leute hier »Kater« nennen. Von rechts her, wo der Schwanz des Katers ist, springen euch die einzelnen weißen Häuser in die Augen, die leuchten nämlich, unglaublich schön ist das. Dann kommt der Knick in der Häuserreihe beim Transformatorenhäuschen, wo Schependonks Pferd grast, aufgedunsen vom Gras und von der Hitze, als müßte es platzen, aber euer Haus seht ihr immer noch nicht. Ganz links liegt es unter den Bäumen versteckt am Kopf des Katers, vielleicht hundert Meter weit müßt ihr in den Wiesenweg reinfahren, dann seht ihr es. Ihr werdet erschrocken sein, wie rot es ist.

Jenny, ihnen immer voraus, ließ ihr langes blondes Haar und die Schöße ihres olivgrünen Parkas hinter sich flattern, wenn sie gegen den Wind die Hügel hinunterlief, und sie kam als erste auf der höchsten Kuppe an, auf welcher der trigonometrische Punkt stand, ein Holzlattengerüst, das durch ein Warnschild des geodätischen Instituts gegen mutwillige Beschädigung gesichert war, das wir sofort »Neandertaler« tauften und das, über die Jahre...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Ehepaar • Geschichte 1975 • Konfliktlösung • Landleben • Mecklenburg • ST 3941 • ST3941 • suhrkamp taschenbuch 3941
ISBN-10 3-518-73325-7 / 3518733257
ISBN-13 978-3-518-73325-7 / 9783518733257
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