Wir in Kahlenbeck (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
512 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-09040-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir in Kahlenbeck -  Christoph Peters
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Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine spartanische Welt voller Regeln und Verbote, durchdrungen von elitärem Geist, Askese und Weltverachtung. Gleichwohl gärt unter der Oberfläche der Geist pubertärer Rebellion und herrscht unter den Jugendlichen eine gnadenlose Hackordnung, in der schwächere Schüler und Außenseiter ungeniert gedemütigt, schikaniert und ausgegrenzt werden.

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand 'Tage in Tokio' (2021) und 'Der Sandkasten' (2022).

Prolog. Advent in Henneward

»An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Isaias ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.«

Das Winterdunkel draußen hat die Farben der Bleiglasfenster geschluckt. In den hoch aufragenden Spitzbögen grüngraue Felder, von flachen Wülsten eingefaßt. Schraffuren liegen schwarz auf, Liniennetze, die keine Szenen werden. Gerade noch zu erahnen, wenn man weiß, daß sie dort sind: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Der allmächtige Weltenschöpfer krönt den Erlösersohn; der Erlösersohn hält sein Kreuz im Arm wie einen Freund; die Taube im Strahlenkranz. Unten Engelscharen, vielköpfig, geflügelt, singend, im Gebet. Das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit. Keine Furcht soll über euch kommen.

So stellt es sich sonntags dar, über Weihrauch, der zum Thron des Höchsten emporsteigt, Glanz wie am ersten Morgen eines neuen Himmels, einer neuen Erde. Dahinter Licht, das die Unendlichkeit füllt, heller als die wirkliche Morgensonne über dem stinkenden Fluß. Jetzt nicht einmal mehr Schemen des Heiligen, die Sphären opak verschmiert. Kaltluft stürzt aus undichten Fugen und Fehlstellen, sickert in Mantelkrägen, Ausschnitte. »Tauet Himmel den Gerechten / Wolken regnet ihn herab.« Die Orgel schleppt sich durch das Lied, der Gesang ohne Trost. Aber einmal wird aus den Seufzern Jubel werden.

Die Kinderbänke vorn sind dicht besetzt, Jungen rechts, Mädchen links; gut gefüllt auch die Frauenblöcke dahinter. Im Bereich der Männer hingegen ist Platz. Sie stehen im Vorraum unter dem Turm, rauchen vor der Kirchentür, reden über Schweinepreise, die Schließung der Molkerei. »Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!« Aus der Luke im Gewölbe zwischen Apsis und Schiff hängt der Adventskranz am fingerdicken Stahlseil bis auf Höhe des Kanzelbaldachins. Tannenzweige um eine schmiedeeiserne Form geflochten, mit roten Bändern umwickelt, zwei Kerzen brennen, leichtes Schaukeln, sie flackern unruhig, bis nah ans Erlöschen. »Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um seine Hüften. Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung.«

Der gewaltige Mann, Johannes, unerbittlich im Kampf gegen das Tier in sich, Rufer in der Wüste, sein Wort eine Geißel der Sünden, Schwert der Unterscheidung. Niemand kann ihm ins Angesicht widerstehen.

Die Stimme von Pastor Hünermann knarzt, als entspränge sie dem Röhrenradio, das seit der Hitlerzeit in Tante Rias Küche steht. Er hält inne, holt ein akkurat gefaltetes Taschentuch aus dem schwarzen Ärmel unter Albe und golddurchwirkter Kasel, tupft sich die Stirn. Der Schweiß ist aus dem vergangenen Sommer, trocken und unsichtbar. Heute schwitzt niemand. Nässe und Kälte sickern durch Anoraks, Wollpullover – wegen des Sparhaushalts, wegen der Schwingtüren. Das Frieren durchkreuzt die Andacht. »Als Johannes sah, daß viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut.«

Die Pharisäer sind ein unkenntlicher Schleiflaut, die Saddu-zä-er vier langgezogene Einzelsilben. Pastor Hünermanns Betonungen haben mit dem Sinn der Schrift nichts zu tun. Vier Tage ist er verschüttet gewesen, lag mit einer Kopfverletzung unter den Trümmern eines zerbombten Hauses. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.«

Arndts rupft Maaß an der Jacke. Maaß rammt Arndts seinen Ellbogen in die Rippen. Das Geräusch eines Aufschreis, den vor die Lippen gepreßte Hände ersticken. Bernd Rogge friemelt sich einen Popel aus der Nase, bringt ihn auf der Daumenkuppe in Stellung, zielt, schnippt ihn Ulli Koch auf die Schulter. Ulli Koch ist klein und dumm. Er bemerkt es nicht, sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Kichern und seiner armen Person.

Oben im Bogen, hinter dem der Altarraum sich öffnet, breitet der Heiland überlebensgroß die Arme am Kreuz aus. Seine Liebe zu den Menschen entströmt jeder Pore des gemarterten Leibes. Blut und Wasser rinnen aus der geöffneten Seite: lebendiges Wasser, das Wasser des Lebens. Wer davon trinkt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Es schimmert lackrot, man denkt, es tropft auf den Boden. »Schon hält er die Schaufel in der Hand. Er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.«

Pastor Hünermann macht eine Pause, kratzt sich mit gestrecktem Zeigefinger im Ohr. Leinberger flüstert Arndts zu: »Deine Schwester ist eine Pimpinelle.«

»Pimpinellen gibt es gar nicht.«

»Wetten, daß es die gibt?«

»Und du bist ein Pimmelpisser.«

Der Gekreuzigte mag nur eine Figur sein, Holz, Kreidegrund, Farbe, doch der wirkliche Jesus wohnt darin, unser Bruder und Herr, gegenwärtig und nah, gegenwärtiger fast als im Sakrament. Er kann die Augen aufschlagen, den Kopf heben, Hände und Füße lösen. Wenn Er nur will. Das Holz gehorcht Ihm. Zeit und Raum, die Schwerkraft, alle Naturgesetze sind Ihm dienstbar, durch Ihn und zu Seinem Ruhm wurden sie erschaffen. Es wäre eine Lektion für das Volk, das vergessen hat, was Er als Sühne für die Sünden der vielen getan hat. Mit geschmiedeten Eisennägeln an die Balken geschlagen. Gestorben und hinabgestiegen in das Reich des Todes, auferstanden von den Toten, Er sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird Er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.

Cherubim und Seraphim, Mächte und Gewalten unterstehen seinem Befehl. »Guck mal, Ulli Koch fallen Popel aus den Ohren.«

»Wieder nicht gewaschen, Ulli!«

Wahrlich ich sage euch: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Sie verhöhnen Ihn, sie beschmutzen Sein geweihtes Haus. Wer guten Willens ist, die Tür seines Herzens dem Gekreuzigten öffnet, hat Mühe, den Worten der Frohbotschaft zu folgen. Carl ist guten Willens, vielleicht der einzige hier und heute, dessen Willen gut ist. Arndts sagt: »Ich will Pommes essen, mit Majo und Ketchup.«

Er lacht, man hört ihn im ganzen Kirchenraum. Niemand von den Erwachsenen schreitet ein. Es wird von Woche zu Woche schlimmer. Carl denkt an den Zorn Gottes, an die Wiederkunft des Herrn. Die Zeit ist nahe, man muß ihre Zeichen erkennen. Durch die Welt läuft ein Riß, an dessen Grund sich die Hölle auftut. Er spaltet die Familien, die Staaten, die Erde. Die Waffenlager quellen über, genügend Atombomben, um alles, was da ist, hundertfach zu vernichten. In Rußland und China werden die Gläubigen vor Gericht gezerrt, ins Gefängnis geworfen, ermordet. Überschwemmungen, Hungersnöte. Die große Drangsal steht bevor, das alles verschlingende Feuer. Ohne göttlichen Beistand schafft es keiner, bis zum Schluß auszuharren. Dann endlich wird von einem Ende der Erde bis zum anderen die Posaune erschallen, stählern, durchdringend. Der Menschensohn wird auf einer Wolke einreiten, in der Hand eine scharfgeschliffene Sichel. Das interessiert sie nicht. Sie denken, das lächerliche Leben, Gier, Gemeinheit und Zerstreuung, gingen immer so weiter. Leinberger und Rogge haben sich ganz dem Bösen verschrieben, in ihren Herzen hat der Teufel sich eine behagliche Wohnstatt eingerichtet. Die anderen sind bloß lau, träge, nachlässig. Das Licht des Glaubens in ihnen ist erloschen. Vielleicht wurde es nie entzündet. Rogges Vater taucht nur an Weihnachten in der Kirche auf, der Bauer Arndts, der Schreiner Maaß rauchen und quatschen draußen. Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan. »Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.«

»Lob sei dir, Christus.«

Auf dem Gesicht des Gekreuzigten Sanftmut – trotz des Martertodes, trotz der Gleichgültigkeit, die Ihm entgegenschlägt.

»In der Lesung aus dem Buch I-sa-i-jas malt der Prophet uns ein schönes Bild: Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adoleszenz • Askese • Deutscher Buchpreis 2012 • Deutschland • eBooks • Erwachsenwerden • Freundschaft • Internat • Jugend • Jugendliche • Jungeninternat • Longlist • Niederrhein • Pubertät • Rivalität • Roman • Romane • Schule • Schüler
ISBN-10 3-641-09040-7 / 3641090407
ISBN-13 978-3-641-09040-1 / 9783641090401
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