Steinfisch (eBook)

Geschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402425-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Steinfisch -  Keri Hulme
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»Inseln tauchen auf und verschwinden wieder.« Keri Hulme Der Steinfisch ist in der Sprache der Maori ein Fisch aus Jade, der einst das Meer vor der Westküste Neuseelands durchschwamm. Eigenwillig und kraftvoll wie die Phantasiewelt der Maori sind die Geschichten der neuseeländischen Meistererzählerin Keri Hulme. In einer Welt, in der nichts mehr verlässlich und sicher erscheint, streifen die Figuren das gerade noch Mögliche oder kaum noch Vorstellbare: apokalyptische Visionen, groteske Veränderungen, grausame Zwischenfälle. Es ist die Intuition des Kreatürlichen, die den Erzählungen Keri Hulmes ihre einzigartige Magie verleiht.

Keri Hulme, die 1947 in Christchurch/ Neuseeland geboren wurde und mütterlicherseits Maori-Vorfahren hat, erwarb sich durch ihren 1985 veröffentlichten Erstlingsroman ?Unter dem Tagmond? (im Original ?The Bone People?) internationales Ansehen: der Roman, der von der Mythen- und Symbolwelt der Maori beseelt ist, wurde sogleich mit dem Booker Prize, Englands renommiertestem Literaturpreis, ausgezeichnet. Neben Romanen veröffentlichte Keri Hulme auch Erzählungen und Gedichte. Keri Hulme starb im Dezember 2021 in Walmate, Neuseeland.

Keri Hulme, die 1947 in Christchurch/ Neuseeland geboren wurde und mütterlicherseits Maori-Vorfahren hat, erwarb sich durch ihren 1985 veröffentlichten Erstlingsroman ›Unter dem Tagmond‹ (im Original ›The Bone People‹) internationales Ansehen: der Roman, der von der Mythen- und Symbolwelt der Maori beseelt ist, wurde sogleich mit dem Booker Prize, Englands renommiertestem Literaturpreis, ausgezeichnet. Neben Romanen veröffentlichte Keri Hulme auch Erzählungen und Gedichte. Keri Hulme starb im Dezember 2021 in Walmate, Neuseeland.

Treibende Wörter


Wenn ich zurückdenke

(ich balanciere auf dem letzten Poller, die Slipleine in der Hand), gab es die ganze Zeit über Vorzeichen.

Zum Beispiel saß ziemlich zu Anfang, noch bevor irgendetwas in Bewegung geriet, ein Eisvogel auf der Stromleitung, eine Sprotte im Schnabel. Eisvögel sitzen häufig auf Stromleitungen, aber dieser blieb den ganzen Tag. Die Sprotte zappelte in einem fort – zumindest zuckte sie jedes Mal, wenn ich hinausschaute und den Eisvogel immer noch dort sitzen sah. Wir alle hier bemerkten damals den Vogel und den Fisch, und wir alle kommentierten es, aber keiner von uns machte sich tiefere Gedanken. Keiner von uns aber sah den Eisvogel wegfliegen. Vermutlich wurde die Sprotte schließlich verschluckt.

 

Da war auch der Tag, als ich zum letzten Mal Pilze sammelte.

Es hatte tagelang genieselt. Normalerweise herrscht zur Jahresmitte Regenzeit, fünf bis acht Zentimeter pro Tag, pro Nacht, aber das Wetter wurde faul. Endlose Tage hinter einem Schleier aus leichtem Niesel. Deshalb hatte ich die Pilzsuche immer und immer wieder verschoben, bis eines Tages mein Appetit meinen Verstand besiegte. Unsere Pilzreviere sind – waren – anders. Es gibt hier Blätterpilze, vor allem den Stadtchampignon und den gegürtelten Egerling, aber hin und wieder auch einen großen fetten weißen Anischampignon, äußerst begehrt wegen seines kräftigen Geschmacks. Sie wachsen auf der Startbahn, einem achthundert Meter langen schafgeschorenen Grasstreifen, und auf den Picknickplätzen. Schon damals hatte das von Süden herandrängende Meer die Picknickplätze weggenagt, und die verbliebenen Schafsköttel auf der Startbahn trugen eine traurige graue Patina. Die Schafe waren schon Wochen vorher abtransportiert worden.

Ich schlendere, scheinbar ziellos, über die Startbahn. Als ich mit dem Sammeln anfing, hielt ich Treibholz, helle Steine und abgenagte alte Schafsknochenreste irrtümlich für Pilze, weil ich den Fehler beging, nach ihnen zu suchen. Das ist Jahre her; jetzt halte ich meine Augen im Zaum. Jetzt gehe ich leise summend spazieren. Da ist ein rostbrauner Büschelritterling, kaum fingernagelgroß; dort ein handbreiter Parasol; hier ein ganzer Schwung Prachtexemplare, die Köpfe blass wie Eier. Ich habe schon fast eine Tasche voll, als ich auf halbem Weg stehen bleibe.

Im Norden herrscht dichter weißer Nebel, und ich kann Abut Head nicht mehr sehen. Die fliegende Postbotin sagte, die Landspitze sei zurückgewichen, um drei Kilometer oder mehr, meinte sie. Das tasmanische Meer rollt wild und wütend direkt über einen neuen Steinwall; es schiebt sich anders herein, seit ich zuletzt hier war.

Ich seufze: Veränderung, Veränderung, Veränderung. Wo ist Verlässlichkeit? Wo ist der Fels?

Als ich mich nach Süden wende, um die restliche Strecke abzugrasen, bleibt mein Blick an etwas hängen, das komisch, verkehrt, fehl am Platz wirkt. Eine Farbexplosion neben einem Büschel Toetoe-Gras. Bei genauerer Untersuchung sieht es nach einem Röhrling aus – jedenfalls hat er unter der Kappe die typische Schwammstruktur –, aber von so einer Röhrlingsfarbe habe ich noch nie gehört. Es gibt einen ekligen Pilz am Haast-Pass mit Namen Tylopilus formosus, dessen Kappe oben braunschwarz und darunter scheußlich knallrosa ist; und es gibt verschiedene Hygrophorus-Arten, die »vielfarbig« heißen, und das meint rot und grün und schwefelgelb außen und türkisblau innen. Dieses Ding hier sieht wie eine missglückte Mischung aus beiden aus. Oben grünlich schwarz, unten drunter blau und der Stamm von oben bis unten rot und gelb längsgestreift.

Auf gar keinen Fall werde ich den essen, aber ich möchte mehr über ihn wissen, deshalb drehe ich ihn vorsichtig aus dem Sand und flechte rasch eine provisorische kete aus Toetoe-Halmen, um ihn nach Hause zu tragen. Und transportiere ihn mit blutenden Fingern nach Hause: Nicht von ungefähr wird Toetoe auch Messergras genannt.

In der dunstigen Ferne erscheint eine scheu zurückweichende Gestalt, ein grauer Schatten im Nieselregen. Obwohl es nur noch so wenige von uns gibt, bewegt sie sich nicht in meine Richtung. Das ist verständlich. Pilzsucher sind Einzelgänger und mögen keine anderen Pilzsucher in ihrer Nähe.

 

Ich weiß noch, dass die Hüte der Pilze vom ständigen Nieselregen leicht schleimig waren und in den Lamellen mehr Sand als sonst saß. Zubereitung: eine halbe Tasse natives Olivenöl extra, Salz, zwei zerdrückte Knoblauchzehen und viel gehackte Petersilie (meine Kräuter ließen sich überraschend gut nach oben in Eimer und Terrakottatöpfe verlegen) … dann die Pilze hinzufügen und alles köcheln lassen. Eine schmackhafte Mischung, zu der Speckstreifen perfekt passen würden.

Speck – und jedwedes Fleisch – ist schon seit Monaten nicht mehr zu bekommen.

 

An ungewöhnliche Träume kann ich mich nicht erinnern. Flutträume ja: Aber die hatten alle, ausgelöst durch die Nachrichten (solange noch gesendet wurde).

Ich finde, es hätte Hinweise geben sollen auf das, was da im Gange war, Andeutungen und Vorahnungen. Doch im Gegenteil: Meine Träume waren friedlich und eigentümlich grün/ländlich/wasserlos.

 

Dann war da die Besucherin.

Also, wenn es ein Anzeichen der kommenden Zeiten gab, dann sie.

Es war ziemlich zu Anfang, nachdem das Wasser zu steigen begonnen hatte, bevor die Ballonstädte kamen. Ich hatte intensiv geschrieben, weil das Postflugzeugsystem gut und verlässlich funktionierte. Ich habe nie herausgefunden, wer damit anfing und wie es zu dem gegenseitigen Vertrauen kam, aber es lief gut:

Ich brauche

  • Mehl (biologisch, mit Mühlsteinen gemahlen, von Kaikoura)

  • Käse (Hipi-mā bitte)

  • Öl (Oliven und Avocado)

  • Sojasoße

  • Apfelessig (Healtheries) und

  • getrocknete Aprikosen (gibt es noch welche von Roxburgh?)

Beiliegend Kapitel 23.

Und das Postflugzeug nahm Zettel und Kapitel entgegen und händigte die Bestellung der letzten Woche aus (Motueka-Tabak, Blue-Mountain-Kaffeebohnen aus Neuguinea und eine Kiste Honigwein, Marke Havill’s Mazer Mead). Je genauer die Bestellangaben, desto größer die Chance, etwas zu bekommen. Aus unerfindlichen Gründen bekäme man sonst nur Fertigessen und Fertiggetränke. Kein frisches Obst oder Gemüse; kein Fleisch (nicht einmal Salami). Und wenn nichts Geschriebenes die Bestellung begleitete, würde nur eine kleine Schachtel aus recycelbarer Pappe kommen, mit einem Ausrufezeichen aus pāua-Schalen darin. Irgendjemand da draußen besaß Humor. Ich habe nur ein einziges Mal versucht, Kredit zu bekommen, ohne in Wörtern zu bezahlen …

Jedenfalls habe ich damals den ganzen Tag und fast den ganzen Abend lang intensiv geschrieben. Nach zwanzig Stunden am Stück fühlte ich mich wie Märzrogen von Flundern – schwärzlich, leer, sauer. Nur in der Stimmung für eine Flasche Met und dann ins Bett und Bewusstlosigkeit. Ich hatte 47 beendet und den Anfang des tangihanga-Kapitels (nicht das abschließende, wie Sie vielleicht vermuten, sondern den Beginn der zweiten Abteilung) so weit stehen:

Der Sarg begann tatsächlich zu brodeln.

Die starke Mittagssonne, natürlich, und die Tatsache, dass sie ihn erst fanden, als der Fluss ihn nach einer Woche herausrückte: Die Leute vom Leichenschauhaus hatten ihr Bestes getan, aber es genügte offensichtlich nicht, um das Werk der Aale und des Wassers auszugleichen, und es würde ihn auch nicht die ganzen drei Tage lang zusammenhalten können.

Ganz gut für den Anfang, dachte ich, und dann klopft es an der Tür.

»Wer ist da?«

Schweigen.

»Wer ist da?«

Noch mehr Schweigen. Dann das Klopfen, tok-tok-tok BUMM, dreimal mit den Knöcheln und einmal mit der flachen Hand, mein Klopfen, verdammt nochmal (mein Puls fing an zu rasen), aber doppelt so stark.

Scheiß auch auf dich, denke ich, aber es ist der letzte Rest eines harten Tages, und es wäre netter, eine Flasche Met mit einem Gast zu teilen, als sie in verdrossener Einsamkeit zu trinken.

Ich vergewissere mich, dass die abgesägte .410er da ist, funktionsbereit hinter der Tür (ist sie), und die Kriegskeule an der einen Seite wartet (tut sie), und dann schiebe ich den Riegel beiseite.

Ihre Stimme klingt sehr enttäuscht, als sie sagt:

»Du bist dicker, als ich gedacht hatte.«

Ich stehe da und glotze.

»Auch ein kleiner Hängebauch, wie?«

und schiebt sich vorbei, direkt auf meinen Schnaps-Schrank zu.

Ihre Hand fördert ohne Zögern die Flasche Lagavulin zutage, obwohl die raffiniert hinter einer Reihe anderer, weniger guter Single Malts versteckt ist, und sie weiß genau, wo ich meine Whiskygläser aufbewahre, in einem Schreibtischfach. Sie holt sogar mein Lieblingsglas heraus, bevor sie sich auf den besten Stuhl fläzt.

»Du hast deinen Kühlschrank immer noch in der Garage? Hol uns eine Flasche Milch, ja?«

»Rums bums bums …«

Selbst ich würde solche Töne ignorieren.

Sie hat angefangen zu singen,

O yeah so I bear

the stigmata

of the hard drinker

a doer a goer

a wine-cup thinker – still

will you barter

your dreams for mine?

 

(O ja, ich trage also

die...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2012
Übersetzer Christel Dormagen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Apokalypse • Erzählung • Fisch • Kurzgeschichten • Maori • Meer • Natur • Umwelt
ISBN-10 3-10-402425-1 / 3104024251
ISBN-13 978-3-10-402425-7 / 9783104024257
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