Wer ist Martha? (eBook)

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2012 | 2. Auflage
237 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79470-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer ist Martha? -  Marjana Gaponenko
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Viel Zeit bleibt nicht mehr, sagt der Arzt. Und die will gut genutzt sein, sagt sich Lewadski, der tattrige Ornithologe aus der Ukraine. Also reist er nach Wien, steigt im noblen Hotel Imperial ab und lernt im Fahrstuhl einen Altersgenossen kennen, dem der Lebensfaden auch schon reichlich kurz geworden ist. Wie die beiden Alten aus der Muppet Show in ihrer Loge sitzen die zwei beim Früchte-Wodka in der Hotelbar, kommentieren die Frisuren der Damen, rekapitulieren das mörderische vergangene Jahrhundert und träumen von der Revolution. Und langsam wird Lewadski das Geld zum Sterben knapp. »Wer ist Martha?« ist ein wunderbar kühner Roman, eine hymnische Feier des Lebens. Es geht um das Geheimnis unserer Existenz, die Freude am Dasein bis zum Schluss, die Würde des Menschen, die Liebe zur Schöpfung. Ein Roman über die letzten Dinge, in Frack und Fummel, so phantastisch und originell, so lebendig und frech, dass selbst der Tod nicht mehr aus dem Leben herauskommt.

<p>Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa (Ukraine) geboren und studierte dort Germanistik. Nach Stationen in Krakau und Dublin lebt sie nun in Mainz und Wien. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch. Für den Roman <em>Wer ist Martha?</em> (Suhrkamp Verlag) wurde sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. 2016 ist ihr Roman <em>Das letzte Rennen</em> (C. H. Beck) erschienen. <em>Zu den Sternen. A cosmic affaire</em> ist ihr erstes Theaterstück, darauf folgt die <em>Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie</em>.</p>

II


Lewadski beschloss, seinen Sonntagsanzug anzuziehen, seine Lieblingsfliege mit extravaganten rotschnäbligen Alpenkrähen umzubinden und in die Innenstadt zu fahren. Was zu tun war, war klar: einen Spazierstock besorgen, in eine anständige Konditorei gehen und Torte essen, bis ihm ein stechender Schmerz in den Kiefer fährt, bis er spürt: Er lebt, und er lebt gar nicht schlecht.

Während er sich anzog, traf er noch eine Reihe von Entscheidungen: Er würde die Kellnerin wie aus Versehen berühren, sollte sie hübsch sein. Sollte ihn ein Kellner bedienen, würde er ihm ein Bein stellen. Seinen Hausarzt wird er nie wieder anrufen, und sollte der sich melden, würde Lewadski mit einem gruseligen Schrei den Hörer auflegen. Die Bestrahlung konnte ihm gestohlen bleiben, genauso wie alle hochgiftigen Medikamente. Stattdessen wird er sich täglich bis zu seinem Tod ein Stück Schokoladentorte gönnen, zu Ehren seiner Mutter, einer Witwe, die dem Kind Lewadski im besten Hotel von Wien Schokoladentorte zu bestellen pflegte zwischen den Kriegen.

»Jawohl«, sagte Lewadski zum Spiegel, spuckte in die Hand und glättete die einzige dünne und ziemlich lange Haarsträhne, die er noch hatte, Richtung Nacken. Wie er nur ohne Spazierstock durchs Leben hatte gehen können! Kein Wunder, dass er hinkte, mit Gehstock wäre ihm das niemals passiert.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle blieb Lewadski mehrmals stehen und putzte sich die Nase. Er beschloss, bis zu seinem Tod keine karierten Taschentücher mehr zu benutzen, sondern nur noch weiße, die er in der Innenstadt kaufen würde, zusammen mit dem Stock, einem Hut und neuen Hemden aus hundert Prozent Baumwolle. Es kommt nichts anderes in Frage als Hemden mit Perlmuttknöpfen!, dachte Lewadski, während er sich im Bus auf einen der Sitze für Schwangere und Behinderte fallen ließ. Eine hochschwangere Frau setzte sich zu ihm. »Es reicht mir, verstehen Sie!«, sagte er zu der werdenden Mutter und wandte sich sofort wieder ab; die Frau war von beispielloser Hässlichkeit. Der Bus hielt an. Lewadski stieg aus, war aber nicht da, wo er sein wollte. So ein Quatsch!, ärgerte er sich, jetzt muss ich mich über den Platz der Freundschaft quälen und die ganze Kosmonautenstraße entlang. Ich hätte noch zwei Stationen mitfahren müssen. Aber was solls, frische Luft und Gottes Segen sind wie Butter auf den Wegen ... Ri-ra-rutsch – und weg ist die Kutsch!

Unter einem Kastanienbaum stand ein Blinder und zupfte auf seiner Gitarre. Zielstrebig ging Lewadski auf ihn zu und hob dabei seinen Zeigefinger. »Passen Sie auf, die Kastanien, nicht dass Sie getro...« Der Blinde ließ die Gitarre sinken und fletschte die Zähne. Lewadski war in seine Mütze getreten.

»Gau ab«, zischte der Blinde mit südländischem Akzent, »oder ich gelfe dir!« Lewadski zuckte mit den Schultern und ging. Nach einigen Schritten blieb er stehen und fasste sich an die Brust: Sein Gebiss war nicht da.

Kann nur zu Hause sein, dachte Lewadski, fühlte sich auf einmal hundemüde und steuerte auf eine Bank zu. Drei ältere Damen mit Kopftuch saßen da. Eine strickte, die zweite fütterte eine beinkranke Taube, die dritte las ein Buch. Lewadski deutete eine Verbeugung an und nahm keuchend neben der Lesenden Platz. »Hurra«, sagte Lewadski, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute in das Buch, das die alte Dame neben ihm las: »Umso merkwürdiger ist die konstante Temperatur von fast genau 35 °C im Brutnest der Bienen. Wir sehen, dass sich bei kühler Witterung die Arbeitsbienen dicht auf den Brutwaben zusammendrängen, mit ihren Körpern die Brutzellen bedecken wie mit Federbettchen und so die Wärmeabgabe nach Möglichkeit verhindern; wir sehen sie bei großer Wärme auf den Waben sitzen und mit den Flügeln fächeln ...«

Lewadski wurde warm ums Herz. Am liebsten hätte er der alten Dame mit dem Bienenbuch die Hand geschüttelt wie einer Komplizin. Mit der linken Körperseite spürte Lewadski, dass die Dame lächelte. Wie ein Glutnest nahm er ihr Lächeln wahr. Er schloss die Augen. Sein alter Bekannter, das Rotkehlchen mit der Zecke am Auge, kam ihm in den Sinn.

»Lächeln Sie, weil ich eben hurra gesagt habe?«, fragte er und öffnete die Augen.

»Ja«, sagte die Dame und brach in ein bedrohliches Husten aus. »Entschuldigung«, würgte sie, »ein Krümel.« Die beinkranke Taube trat entsetzt ein paar Schritte zurück und starrte die Hustende misstrauisch an.

»Früher war der Platz der Freundschaft eine Perle der Stadt«, sagte Lewadski, »am schönsten im Winter, da kamen wir jungen Leute mit Wassereimern hierher, legten vor dem Denkmal des Generals eine Eisbahn an und liefen nach Herzenslust Schlittschuh.« Die Hustende klappte ihr Buch zu und verfiel in ein nicht enden wollendes Räuspern. Lewadski nutzte die Gelegenheit und schielte auf die Überschrift des Buches. Verständliche Wissenschaft. Aus dem Leben der Bienen. Die Strickende und die Taubenfreundin schauten demonstrativ zur Seite. Lewadski seufzte. Wie viele Mädchen hatte er vor den aufseherischen Augen des Generals geküsst. Auf den Hals wie ein Blutsauger. Ja, der Platz der Freundschaft war früher etwas Besonderes gewesen, jeder Blinde hätte sich gefreut, wenn er von fürsorglichen Mitbürgern vor den fallenden Kastanien gewarnt worden wäre. Und jetzt? Undankbarkeit, wohin das Auge reicht!

»Wissen Sie«, sagte er zu seiner Banknachbarin, »früher fand ich Menschen, die ›Früher war alles anders‹ sagten, grässlich. Nun sind solche Menschen liebe Geschwister für mich!«

Ein Paar schlenderte eng umschlungen an der Bank vorbei. Es sah aus wie ein Tier auf vier Hinterpfoten. Die offenen Schnürsenkel an den Schuhen der beiden peitschten nach links und rechts und wirbelten Staub auf. »Früher wäre so etwas nicht vorgekommen«, sagte Lewadski absichtlich laut. Das Paar blieb stehen, küsste sich und ging weiter. »Widerlich!«, brummte Lewadski und leckte sich die Lippen. Das fehlende Gebiss machte ihm zu schaffen. Langsam bekam er Muskelkater vom Reden. So viel reden war er nicht gewohnt. Fünf, sechs Wörter an sich selbst gerichtet waren normalerweise seine Tagesration. Der General thronte auf seiner wuchtigen Stute. Eine Elster erledigte ihr Geschäft auf dem unbedeckten Kopf des Mannes. Ihre Schwingen und Schwanzfedern schillerten erzfarben. »Schakarak!«, rief die Elster und flog schwerfällig auf die Spitze einer der Tannen in der Nähe. »Ein hübsches Tier«, sagte Lewadski, drehte sich zu seiner Nachbarin um und sah, dass sie weg war. Die mit dem Strickzeug und die Taubennärrin hatten ihre Gestalt geändert und waren zu zwei rauchenden Studenten geworden.

Lewadski stand auf und setzte seinen Weg fort. Ich brauche dringend einen Stock mit Silbergriff, dachte er, während er den Platz der Freundschaft überquerte, mit einem Silbergriff, in dem die Abendsonne spielt. Mein Gott, was habe ich alles in meinem Leben verpasst! Seine Laune besserte sich mit jedem Pflasterstein, den er hinter sich ließ. Hin und wieder blieb er stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er lehnte sich an die Ampelmasten, während er auf Grün wartete. Die Unterführung mied er. Um die Zigeuner und Zeitungsverkäufer machte er einen Bogen. Die übrigen Menschen traten vor ihm, Luka Lewadski, Professor emeritus der Zoologie, auseinander. Weder respektvoll noch voller Ekel, sondern mechanisch wie das Blut vor einer Nadel in seiner Bahn. Die Kosmonautenstraße gähnte ihn mit zwei Reihen alter Platanen an, die zum Herzen der Stadt führten, zu den Läden mit den unentbehrlichen Artikeln, dem Silberstock, den Hemden, den schneeweißen Taschentüchern und einem modischen Bowler. Ich werde noch zum Modenarren, dachte Lewadski und ballte vor Wonne seine faltigen Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Er spürte, dass eine Träne in ihm hochstieg, rund und groß wie eine Taucherglocke. Schweißüberströmt setzte sich Lewadski in ein Taxi. »Bis ans Ende der Straße bitte«, sagte er zur erhobenen Augenbraue des Taxifahrers im Rückspiegel und lehnte sich mit einem pfeifenden Seufzer zurück.

Auf die Frage der drallen Verkäuferin nach seiner Konfektionsgröße zuckte Lewadski die schmächtigen Schultern und bat, vermessen zu werden. »Diesen hervorragenden Anzug, den ich trage, habe ich kurz nach dem Krieg in London beim königlichen Ausstatter in Auftrag gegeben, für das 42. internationale Ornithologentreffen«, sagte Lewadski mit ausgebreiteten Armen. Sein Atem bewegte eine der dünnen Locken der Verkäuferin, die mit eingezogenen Lippen seinen Brustkorb ausmaß. »Damals war ich etwas höher und ohne Buckel, aber in der Breite genauso unspektakulär wie heute.« Die Verkäuferin befeuchtete ihren rechten Zeigefinger und begann, in einem Katalog mit Modellen zu blättern. »Ein Busen ist mir auch nicht gewachsen«, versuchte Lewadski zu scherzen.

»Welche Farbe soll der Anzug haben?«, fragte die Verkäuferin, ohne Lewadski eines Blickes zu würdigen. »Dunkelblau, braun, schwarz, mausgrau, aschgrau, Nadelstreifen, dunkle Knöpfe, Goldknöpfe?«

»Dunkelblau und dunkle Knöpfe, bitte.«

»Und das Futter?«

»Weinrot natürlich.«

Die Verkäuferin verschwand auf klappernden Absätzen hinter einer Tür und tauchte kurz darauf mit einem dunkelblauen Anzug und einer älteren Kollegin auf. Diese erklärte Lewadski, dass die modernen Anzüge kein weinrotes Futter hätten, sondern ein dunkelgraues oder altrosa. »Altrosa wäre schick, dunkelgrau geschäftsmäßig.«

»Dann nehme ich altrosa«, sagte Lewadski, der früher in dieser Situation rot angelaufen wäre, früher, als er Menschen, die ›früher‹ zu sagen pflegten, grässlich fand.

...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Wer ist Martha?
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adelbert-von-Chamisso-Preis • Hotel Imperial • Literaturpreis Alpha • Roman • ST 4484 • ST4484 • suhrkamp taschenbuch 4484 • Wien
ISBN-10 3-518-79470-1 / 3518794701
ISBN-13 978-3-518-79470-8 / 9783518794708
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