Onkel Wanja kommt (eBook)

Eine Reise durch die Nacht
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
192 Seiten
Manhattan (Verlag)
978-3-641-08541-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Onkel Wanja kommt -  Wladimir Kaminer
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Onkel Wanja kommt!
Onkel Wanja sieht sein letztes Stündlein herannahen und er wünscht sich von seinem Neffen Wladimir nur noch eines: »Bevor ich sterbe, möchte ich noch einmal die Welt bereisen. Vielleicht nicht die ganze Welt, vielleicht nur Europa oder gar nur Deutschland. Und auch dort nur Berlin. Kurzum, schicke mir bitte eine Einladung.« Gesagt, getan. Als Onkel Wanja in Berlin eintrifft, machen sich die beiden zu Fuß auf den Weg zu Wladimir nach Hause. Es ist ein Spaziergang durch die nächtliche Stadt voller eigentümlicher Begegnungen und unvergesslicher Betrachtungen über das Leben. Was ist gut, was böse? Was bleibt irgendwann von uns? Warum leuchtet die Hose des Onkels im Dunkeln? Und wo gibt es eigentlich die besten Matjes?

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Im Sternbild des Weichenstellers

Der Zug aus Moskau – es gibt nur einen – braucht 26 Stunden bis Berlin. Er fährt in Moskau kurz vor Mitternacht los und kommt am Berliner Hauptbahnhof laut Fahrplan kurz nach Mitternacht an. Zwei Stunden verliert er irgendwo unterwegs. Dieser Zug überschreitet nicht nur die Grenzen des Landes, sondern auch die der Zeit. Die russische Eisenbahn hat nicht nur breitere Gleise, auf die kein westlicher Zug passt, Russland hat auch seine ganz eigene Zeit, und die Passagiere, die das Land verlassen wollen, haben zwei Stunden zusätzlich zum Nachdenken, ob sie es wirklich tun sollen.

Der Hauptbahnhof ist nachts viel angenehmer als am Tag. Die Hektik des Verkehrs erlischt, die letzten Reisenden verlassen das Gebäude, und nur einige wenige Russen versammeln sich an Gleis 6, um ihre Freunde, Verwandten oder Bräute abzuholen. Ich bin schon öfter nachts am Bahnhof gewesen und habe auf Gäste oder Postsendungen aus dem Moskauer Zug gewartet. Seine Ankunft ist jedes Mal ein Spektakel. Auch die Putzleute im Bahnhofsgebäude warten auf den »Russenzug«, erst danach fangen sie richtig an, sauber zu machen.

Der Zug hält sich so gut wie nie an den Fahrplan, er kann später, aber auch früher als erwartet ankommen, und er sieht anders aus als die sonstigen einfahrenden Züge – als wäre er mit hoher Geschwindigkeit durch riesige Pfützen gerast, wahrscheinlich Zeitpfützen, wobei die zwei überflüssigen russischen Stunden in tausend Mikrosekunden zersprangen und nun als kleine dunkle Pünktchen überall an der Lokomotive und an den Waggons kleben. Und die Schaffner, diese Schlepperbande! Sie kommen mir vertraut vor, und wie alte Bekannte grüßen wir uns am Gleis. Immerhin bin ich selbst vor zwanzig Jahren in Moskau in diesen Zug gestiegen, am Weißrussischen Bahnhof, der damals wie der Turm zu Babel kurz vor seiner Vernichtung aussah. Der Bahnhof ist das Gesicht einer Stadt. Wenn am Bahnhof nichts los ist, wird es auch in der Stadt nicht brummen, und in Moskau war damals einiges los. Als ich 1990 beschloss, meine Heimatstadt zu verlassen und Richtung Berlin zu fahren, habe ich einen ganzen Tag in der Schlange am Bahnhof verbracht, um eine Fahrkarte zu ergattern. Damals ähnelten alle Bahnhöfe der russischen Hauptstadt dem Turm zu Babel. Sie waren mit Reisenden überfüllt, die einander nicht verstanden, den ganzen Tag herumliefen und trotzdem nicht vom Fleck kamen. Der von Michael Gorbatschow eingeleitete politische Wandel in der Sowjetunion sorgte dafür, dass sich das halbe Land in einen Bahnhof verwandelte mit einer Bevölkerung, die sich auf der Durchreise in eine ungewisse Zukunft befand.

Der Bahnhof wurde außerdem zum ersten Rückzugsgebiet der Opfer des Kapitalismus, zur einzigen sozialen Einrichtung, bei der es noch Licht und Wärme umsonst gab. Obdachlose, verprellte Kleinhändler, Frauen, die auf ihrem Eroberungskurs durch Moskau vom rechten Gleis abgekommen waren – alle von der neuen Gesellschaftsordnung Erniedrigten und Beleidigten sammelten sich an und in den Bahnhöfen. Wenn eine Polizeistreife vorbeikam, schauten sie auf die Anzeigetafel, als ginge ihre Reise jeden Moment los und sie würden bloß noch auf den richtigen Zug warten. Die verschiedensten Ziele erschienen auf der Tafel und erloschen wieder, aber der richtige Zug kam und kam nicht. Die Leute belegten alle Heizungsrohre und Fensterbretter, später begannen sie, sich aus ihren Reisekoffern kleine Siedlungen zu bauen. Sie näherten sich einander an, gründeten Familien, zeugten Kinder, zankten sich und gingen wieder auseinander, blieben dabei aber immer in Bahnhofsnähe. Ich bin sicher, dass manche von ihnen irgendwann ganz vergessen hatten, dass sie sich auf einem Bahnhof befanden und eigentlich auf einen Zug warteten.

Später, nach den ersten Irrungen und Wirrungen der kapitalistischen Neuzeit, möbelte die Stadtverwaltung die Moskauer Bahnhöfe auf, sie wurden neu gestrichen und zu großen Verkaufstempeln umgebaut. Man ging zum Bahnhof wie ins Kino. Edle Casinos, Cafés und teure Boutiquen hielten in den Bahnhofsunterführungen Einzug. Die Eingänge wurden fortan polizeilich überwacht, und hinein kam man nur noch mit einer gültigen Fahrkarte oder gegen eine Eintrittsgebühr, die man direkt bei der Polizeistreife zahlen musste. Alle unentschlossenen Reisenden samt ihren Familien und Bergen von Koffern verschwanden über Nacht in unbekannte Richtung. Vielleicht war doch endlich der richtige Zug gekommen, und das ewige Warten hatte sich gelohnt.

Im späteren, verschärften Kapitalismus führte man eine regelrechte Eintrittskarte für das Betreten des Bahnhofs ein, als wäre das Gewimmel dort eine Opernveranstaltung. Gleichzeitig explodierten die Preise für Zugfahrkarten. Die Bahnhöfe wurden zu leeren Tempeln, die aussahen, als hätte eine Neutronenbombe eingeschlagen, die nur Menschen vernichtete, aber ihre Sachen unbeschädigt ließ. Auch die Züge waren alle noch da, nur die Passagiere fehlten. Geschäftsleute verabredeten sich in den Bahnhofsrestaurants, wenn sie ungestört miteinander reden wollten. Aber der Eintrittspreis für die Bahnhofsgebäude war auf Dauer zu hoch und zu unmenschlich, er hielt sich nicht lange.

Meine Bekanntschaft mit Berlin begann ebenfalls an einem Bahnhof. Damals war der Hauptbahnhof noch nicht gebaut worden, und wir stiegen in Lichtenberg aus, mein Freund M. und ich. Wie viele Russen damals träumten wir von einem neuen Leben auf unbekanntem Territorium. Berlin sollte auf keinen Fall unsere Endhaltestelle werden, wir sahen uns mehr auf der Durchreise in Richtung Paradies. Wir waren geteilter Meinung, ob wir überhaupt in Deutschland aussteigen oder gleich weiterfahren sollten. Der Bahnhof Lichtenberg beeindruckte uns jedoch sehr. Fröhliche Fremde sprachen uns an, sie drückten uns illustrierte Büchlein in die Hand, einfach so als Geschenk. Überall auf dem Boden lagen Münzen, überflüssiges Geld, das die Berliner anscheinend nicht mehr brauchten, und ständig liefen lustige Betrunkene mit Fahnen herum. Das Ganze erinnerte mich stark an einen Kindergeburtstag oder eine Hochzeit, bei der man das Brautpaar mit Kleingeld bewirft und jeder Gast Geschenke bekommt.

»Wenn es hier jeden Tag so zugeht, dann möchte ich gerne hierbleiben. Ich möchte an diesem Fest des Lebens aktiv teilnehmen«, meinte M., der sonst eigentlich eher passiv an den von uns regelmäßig gefeierten Festen des Lebens teilgenommen hatte, indem er still in einer Ecke saß und rauchte.

Ich konnte mir die Bombenstimmung am Bahnhof Lichtenberg nur mit der angeborenen Fröhlichkeit der Berliner erklären. Erst später erfuhren wir die Wahrheit: Dass nämlich die lustigen Besoffenen mit den Fahnen, die uns mit Flaschenbier beschenkt hatten, dort nicht jeden Tag herumliefen, sondern nur an diesem einen Tag unterwegs waren, weil die deutsche Fußballmannschaft am Tag unserer Anreise völlig unerwartet in Italien gegen Argentinien gewonnen hatte und Weltmeister geworden war. Und das Kleingeld auf dem Boden war der Währungsunion geschuldet. Es waren DDR-Münzen, die keinen kapitalistischen Pfennig mehr wert waren. Und die fröhlichen Menschen, die uns Bücher mit Zeichnungen geschenkt hatten, waren keine durchgedrehten Buchhändler, sondern Zeugen Jehovas, die damals in den Zügen aus Osteuropa verstärkt nach neuen potenziellen Anhängern fischten.

Bereits am nächsten Tag, nach einer durchzechten Nacht mit viel Bier, kam uns Berlin trist und grau vor. Wir wussten nicht, was tun, kannten niemanden in der Stadt und gingen zurück zum Bahnhof, wohin sonst? So wurde der Bahnhof dann auch zu unserer ersten Arbeitsstelle in Berlin. Wir verkauften dort Bier und Süßigkeiten, die wir uns in einer Aldi-Filiale nicht weit vom Bahnhof entfernt besorgten. Damals war das Gebäude voll von Kleinhändlern wie uns, alle zwei Meter standen Möchtegernkapitalisten und priesen laut ihre Ware an, soweit die Sprachkenntnisse es ihnen erlaubten. Erst nach einem halben Jahr verließen wir unseren Arbeitsplatz Bahnhof endgültig und widmeten uns anderen Tätigkeiten.

Heute bin ich jedoch als lesereisender Schriftsteller erneut jede Woche auf dem Hauptbahnhof. Ich kenne hier jede Ecke, jeden Zeitungskiosk, und ich brauche keine Tafel, um zu erfahren, wo welche Züge anhalten. Der Hauptbahnhof ist quasi vor meinen Augen gebaut worden, drei Etagen voller Geschäfte, bunt, schick, modern – ein Konsumtempel mit Zugverkehr. An die Stelle der Bierverkäufer sind Restaurants für jeden Geschmack getreten, so werden hier zum Beispiel bei Gosch die besten Matjes der Stadt angeboten. Gut, Geschmack ist immer subjektiv, von Russen wie von Holländern wird die weniger salzige, nicht mit Essig vergiftete Variante geschätzt. Meine Frau und meine Mutter rufen mich immer an, wenn sie wissen, dass ich von einer Lesereise am Hauptbahnhof ankomme. Ich muss ihnen dann immer ein Dutzend Matjesheringe mitbringen.

Außer zu Gosch gehe ich auch gerne in die Bahnhofsbuchhandlung, wenn es die Zeit erlaubt. Es sind dabei nicht die Bücher, sondern die Menschen, die mich faszinieren. Ein ganz besonderer Schlag Lesepublikum steht dort vor den Regalen. Ich glaube, Bahnhofsbuchhandlungen unterscheiden sich stark von ihren Schwestern in der Innenstadt, denn nirgendwo, in keinem anderen Einkaufstempel, gibt es so viel unentschlossene Laufkundschaft, der man alles nur Denkbare anzudrehen versucht. Die Laufkundschaft am Bahnhof teilt sich traditionell in zwei gleich große Gruppen auf: Menschen, die immer zu spät, und Menschen, die immer zu früh da sind. Der Anteil der Passagiere, die leger durch die Bahnhofshalle spazieren und zum richtigen Zeitpunkt in den richtigen Zug einsteigen, ist mikroskopisch klein, man kann ihn in diesem Text vernachlässigen. Die Mehrheit rennt entweder mit glühendem Kopf herum oder führt entspannt ihre...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anekdoten • Berlin • Besuch • Betrachtungen • eBooks • Gespräche • Humor • Kulturen • lustig • lustige • Missverständnisse • Nacht • Neffe • Onkel • Roman • Romane • Russe • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller
ISBN-10 3-641-08541-1 / 3641085411
ISBN-13 978-3-641-08541-4 / 9783641085414
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