Der Sohn (eBook)

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2012 | 1. Auflage
416 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60139-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sohn -  Jessica Durlacher
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Schlagartig ist es vorbei, das sorglose Leben der Familie Silverstein. Da ist einer, der ihr Leben bedroht, denn er ist gefangen in einer Geschichte, die der Vergangenheit angehört und doch auf fatale Weise bis in die Gegenwart reicht. Eine Geschichte, die Großvater Silverstein immer verschwiegen hat. Und die sein Enkel Mitch zu Ende führt.

Jessica Durlacher, 1961 in Amsterdam geboren, ist mit ihren preisgekrönten Romanen ?Das Gewissen?, ?Die Tochter? und ?Emoticon? in den Niederlanden eine Bestsellerautorin. Für ?Der Sohn? erhielt sie den Opzij-Literaturpreis 2010 als bestes Buch des Jahres. Der Roman wurde in den Niederlanden 2016 erfolgreich verfilmt. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Mann in den Niederlanden.

Jessica Durlacher, 1961 in Amsterdam geboren, ist mit ihren preisgekrönten Romanen ›Das Gewissen‹, ›Die Tochter‹ und ›Emoticon‹ in den Niederlanden eine Bestsellerautorin. Für ›Der Sohn‹ erhielt sie den Opzij-Literaturpreis 2010 als bestes Buch des Jahres. Der Roman wurde in den Niederlanden 2016 erfolgreich verfilmt. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Mann in den Niederlanden.

37

Abends sagte Jacob: »Ich habe mir etwas überlegt – es wird euch vielleicht erschrecken.«

[103] Was jetzt wieder?, dachte ich. Ich hinke hinterher, mein Kind weht davon, verschwindet in der Ferne, und ich bekomme es nicht mehr zu fassen.

Wir hatten uns thailändisches Essen kommen lassen. Ich schälte gerade die Alufolie von den Behältern, Tess stellte Teller auf den Tisch. Sie sah blass aus, ihre Haut fleckig, und ihre langen Haare waren fettig. Sie wirkte einsam und verdrossen, fand ich. Ich hätte sie am liebsten auf den Schoß genommen, aber das ließ sie nicht mehr zu.

»Vielleicht sollten wir wieder in die USA ziehen. Dann könnten wir Mitch wenigstens sehen, wenn er Urlaub hat.«

»Waaaas?«, rief Tess.

»Hm«, machte ich. »Ja. Ja, warum nicht. Aber lass uns noch etwas darüber nachdenken, okay?«

In San Francisco war jetzt Vormittag, aber ich wollte Mitch noch etwas schonen – obwohl er mich überhaupt nicht geschont hatte. Ich wollte zu ihm. Möglichst sofort.

Erst als wir alles aufgegessen hatten, sagte Jacob: »Mitch schrieb, dass er Berkeley vorläufig nicht verlassen kann, wegen Klausuren. Wie wär’s, wenn wir zu dritt rüberfliegen – Weihnachten?«

Tess und ich wechselten einen Blick.

»Warum willst du denn zu Mitch?«, fragte ich. »Wenn du ihm nur noch mal auf die Schulter klopfen möchtest, um ihm persönlich zu sagen, wie sehr du dich darüber freust, dass er Marine werden will: nein, danke. Da mache ich nicht mit.«

Jacob sah mich nur an. Kopfschüttelnd. Der warme, mitfühlende Blick in seinen Augen, bei dem mir so jämmerlich zumute geworden war, hatte sich verloren.

[104] 38

»Weiß Mitch schon, dass ich seinen Brief jetzt gelesen habe?«, fragte ich Jacob später im Schlafzimmer.

»Ja. Ich habe ihn darauf vorbereitet«, antwortete er.

Sowie ich ihn schnarchen hörte, packte ich meine Sachen. Mein lädiertes Fußgelenk war dabei nicht gerade förderlich. Die Länge unserer Treppen verfluchend, musste ich meine Kleidung wohl oder übel portionsweise im Rucksack von oben nach unten bugsieren, um sie dann dort in den Koffer zu stopfen. Ich mache selten etwas heimlich, aber jetzt ging es um Leben und Tod. Erst als alles gepackt war, zog ich mich aus und legte mich ins Bett.

Jacob schien zu schlafen, tastete aber sofort mit der Hand nach mir, als ich mich auf unsere Matratze aus viskoelastischem Schaum niederließ, die warm und weich wie Sand ist. Jede Ehe hat ihre Signale – dieses war ein Ansuchen, leicht, fast unverbindlich, mit der nötigen Zärtlichkeit. Ich erstarrte trotzdem. Seit der Sache im Wald war ich jeder irgendwie erotisch gearteten Berührung ausgewichen. Ich hatte nicht darüber nachdenken wollen, aber ich war eigentlich auch noch keinen Moment versucht gewesen, diese Haltung zu ändern. Es fragte sich, ob das je geschehen würde – was mich betraf, war das zuvor so sichere Spiel von Macht und Überwältigung ausgespielt. Sex war für mich jetzt gleichbedeutend mit Gewalt, reiner Gewalt. Sex hieß Gefahr.

Jacob schnarchte nicht mehr, und ich wusste, dass er jetzt wach war. Sein Körper war auf jeden Fall sehr wach. Ich drückte mich tiefer in die Matratze und versuchte mich [105] auf die Seite zu drehen, ohne dass es beleidigend wirkte, aber die Hand kroch weiter, zu meinen Schultern. Da war schon das Streicheln vom Hals zur Schulter, das Drehen der Handfläche, der vertraute Auftakt zu einem ersten Hinabwandern. Brust Nummer eins! Die Hand greift zu.

Geh weg! Hier beginne ich, meine Körpergrenze verläuft einen Millimeter von meiner Haut entfernt. Vielleicht noch mehr. Überschreiten verboten! Das ist meine Brust! Das bin ich! Mein Herz klopfte wie wild.

»Jacob! Nein!«

Erschrockenes Deckenrascheln. Der Arm ergriff sofort die Flucht. Jacob war jetzt so hellwach wie ich.

»Nein?«

Nach der Geburt von Mitch und Tess hatte ich unter Schreckensvisionen von greulichen Unfällen gelitten, die ihnen zustoßen könnten, und zwar oft in Momenten, die kurz zuvor noch ausgesprochen erregend gewesen waren. Plötzlich war Jacob dann für mich zum fiesen Verführer mit liederlichen Absichten geworden. Schuldgefühle natürlich, eine ganz unangenehme Art von Schuldgefühlen. Lust war für mich hin und wieder unvereinbar gewesen mit der Unschuld meiner Babys, die klein und hilflos weinend in ihrem Bettchen lagen.

Ähnliche Gefühle hatte ich jetzt auch. Die Hand auf meinem Körper rief unliebsame Assoziationen mit Schmerzen und Gewalt hervor, und die wiederum Gedanken voller Angst um Mitch. Mitch in einem explodierenden Panzer, Mitch, der auf eine Landmine trat, dessen zarte Unterlippe ein Gewehrkolben traf. Jacob und ich an einem Sarg.

»Was ist?«, fragte Jacob.

[106] Er klang besorgt. Ich wusste, dass er erregt gewesen war.

»Nicht seufzen… Ich denke an Mitch.«

»Oh.« Er drehte sich auf die Seite. »Versuch zu schlafen, Saar. Es wird nicht besser, wenn du nicht schläfst.«

Ich schlang die Arme um ihn. Atmete aus. Erleichtert, aber auch ein wenig schuldbewusst, weil ich etwas Manipulatives an mir erkannte.

39

Tess zog sich gerade an. Sie hatte Kopfhörerstöpsel drin und stand, verschiedene Outfits in den Händen, in Unterwäsche vor dem Spiegel. In den letzten Jahren hatte sie sich stark verändert, und erst seit kurzem kam sie einigermaßen mit dem neuen, ungewohnten Körper zurecht, der ihr zugemutet worden war. Jeden Tag wurde sorgsam eine neue Persönlichkeit gewählt, mittels Kleidung, Frisur und Make-up. Ich war mir bewusst, dass ich sie störte, hier in ihrem eigenen Zimmer, in der noch so neuen Intimität ihres dreizehnjährigen Lebens. Als ich ihren Namen rief, warf Tess einen leeren, ahnungslosen Blick über ihre Schulter – ohne wirklich etwas gehört zu haben, wie es schien. Als sie mich sah, erschrak sie, stieß einen kleinen Schrei aus und ließ sich auf den Boden sinken, die Arme um die Knie.

»Wa, du hast mich zu Tode erschreckt!«, rief sie.

Sie schielte von unten zu mir hoch. Tess war der geborene Clown.

»Ich fahre weg, Liebes.«

Sofort verzog sich Tess’ Gesicht. Panik.

[107] Mit Kinderstimmchen jammerte sie – wegen der Musik in ihren Ohren besonders laut: »Wo fährst du hin

Aber sie erriet es schon selbst. Sie umklammerte mich wie ein Äffchen.

»Ich will mit, Mama!«, jammerte sie. »Ich will auch nicht, dass Mitch zum Militär geht! Ich komme mit dir mit!«

Vorsichtig löste ich ihre langen, dünnen Arme.

»Sch, nicht doch«, sagte ich. »Du musst zur Schule. Papa bleibt bei dir. Ich werde tun, was ich kann, wirklich. Auch in deinem Namen, okay? Und ich muss jetzt los, ich muss rechtzeitig auf dem Flughafen sein. Papa schläft noch.«

Aber Jacob stand schon im Türrahmen.

»Was ist denn hier los?«, fragte er. »Wo willst du hin?«

»Ich habe einen Flug um elf«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. »Mein Gepäck ist schon unten. Ich fliege zu unserem Sohn.«

»Du bist verrückt«, sagte Jacob.

Seine Haare standen zerzaust vom Kopf ab. Seine Augen waren ein bisschen verquollen, und er sah müde aus. Ich sah auf einmal, dass er älter geworden war. Vielleicht auch etwas weniger massig. Warum war ich immer böse auf ihn?

Er sagte: »Du kannst ihn ja doch nicht umstimmen. Wirklich nicht. Aber geh ruhig. Du wirst es selbst sehen. Geh ruhig.«

»Natürlich gehe ich«, sagte ich. »Bist du nicht sauer?«

»Mein Gott, nein! Wenn du es für nötig hältst, geh! Geh!«

Ich hinkte zu ihm hin und küsste ihn. Er rührte sich nicht.

»Er muss zurückkommen«, sagte ich.

»Du kannst es versuchen«, erwiderte er. »Aber angenommen, er hört auf dich, was dann?«

[108] Ich sah ihn verständnislos an. Dann humpelte ich so schnell ich konnte nach unten. Im Spiegel sah ich meine rote Nase, die geröteten Augen und die verschmierte Schminke.

40

Natürlich war Richtung Schiphol wieder Stau. Lautlos schäumte ich im Taxi vor Wut über die Massen, die ergeben (sogar Ergebenheit hatte in dieser Ballung etwas Feindseliges) auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich versuchte ein lockeres Gespräch mit dem Taxifahrer über diese Völkerwanderung, aber das gelang nicht so recht, denn der Taxifahrer hatte einen Sohn, der in Alkmaar wohnte und nach Amsterdam zur Arbeit musste. Unweigerlich kam daraufhin die Frage nach meinen Kindern.

Ich befand mich im Stadium der Auflösung. Das Haar saß nicht, die Augen brannten, der Kopf hämmerte, die Muskeln schmerzten – ich knarrte wie ein alter Schrank. Nicht mehr lange, und ich würde auseinanderfallen, wenn ich nicht aufpasste. Zusammenreißen!, hieß also die Devise. Ich hatte einen Auftritt, und auf den musste ich mich jetzt gut vorbereiten. Auftritte waren weiß Gott nicht meine Stärke. Ich dachte an Jacobs Worte.

Noch aber steckte der Verkehr auf der A4 fest. Es regnete. Unweigerlich schläferte mich das Geräusch der Scheibenwischer ein.

In Schiphol war ich trotzdem so zeitig, dass ich noch drei Stunden auf dem Flughafen totschlagen konnte. Während ich mich zwischen den anderen Reisenden treiben ließ, [109] schweiften meine Gedanken fast zwanghaft zu Mitchs sanftem Gesicht mit den schwarzen Augen und den perfekt geformten Brauen, seinem amüsierten Grinsen, seiner übermütigen Stimme – und von dort immer wieder, quälend, zum gleichen Gesicht, in dem sich Angst und Erschrecken spiegelten.

Die Welt war...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2012
Übersetzer Hanni Ehlers
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Enkel • Familie • Geheimnis • Generationenroman • Großvater • Roman • silverstein • Vergangenheit
ISBN-10 3-257-60139-5 / 3257601395
ISBN-13 978-3-257-60139-8 / 9783257601398
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