Was machen wir jetzt? (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
304 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60089-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was machen wir jetzt? -  Doris Dörrie
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wie weiter, wenn die Frau ihr Heil im Buddhismus sucht, die siebzehnjährige Tochter mit einem tibetischen Lama auf und davon will und einen selbst Geld und Erfolg nicht glücklich machen? Diese Fragen stellt sich nicht nur Doris Dörries Romanfigur Fred Kaufmann. Doch die Autorin zeigt uns mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Nur Mut, es gibt ein Leben über vierzig! '

Doris Dörrie, geboren in Hannover, studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York, entschloss sich dann aber, lieber Regie zu führen. Parallel zu ihrer Filmarbeit (u. a. ?Männer?, ?Mitten ins Herz?, ?Kirschblüten - Hanami?) veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Romane, ein Buch über das Schreiben (?Leben, schreiben, atmen?) und Kinderbücher. Sie leitet den Lehrstuhl ?Creative Writing? an der Filmhochschule München und gibt immer wieder Schreibworkshops. Sie lebt in München.

Doris Dörrie, geboren in Hannover, studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York, entschloss sich dann aber, lieber Regie zu führen. Parallel zu ihrer Filmarbeit (u. a. ›Männer‹, ›Mitten ins Herz‹, ›Kirschblüten – Hanami‹) veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Romane, ein Buch über das Schreiben (›Leben, schreiben, atmen‹) und Kinderbücher. Sie leitet den Lehrstuhl ›Creative Writing‹ an der Filmhochschule München und gibt immer wieder Schreibworkshops. Sie lebt in München.

[51] 7

Von Tulpen keine Spur. Es war kalt und grau in Amsterdam. Franka und Claudia stiegen vor dem Krankenhaus aus, und Claudia nahm Franka an der Hand, als führe sie sie am ersten Schultag in die Schule. Franka ging gehorsam mit. Was blieb ihr auch anderes übrig? Hatte sie sich jemals selbst geäußert? Sich selbst entschieden? Oder hatten wir ihr die Entscheidung abgenommen, weil wir uns gar nicht vorstellen konnten, daß sie mit sechzehn Jahren vielleicht davon träumte, Mutter zu werden?

Sie hatte so viel Zeit ins Land gehen lassen, weit über den dritten Monat hinaus, daß es in Deutschland bereits unmöglich geworden war, einen legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Schwangerschaftsabbruch. Allein das Wort ließ mich schaudern.

Ich tat nichts, schwieg und wartete.

Wie immer, würde Claudia sagen. Aber was hätte ich auch tun können? Ich kannte keine Gynäkologen, die man um Rat fragen konnte, ich hätte bei all den Telefonaten mit holländischen Abtreibungskliniken nur hilflos herumgestottert. Ich war eine Niete in dieser ganzen Situation, das war mir klar, und den beiden Frauen ebenso. Sie wandten sich nicht mehr an mich, sie fragten, als ich vor der Klinik hielt, noch nicht einmal, ob ich mit hineinkommen würde, [52] sie nahmen meine Dienste als Fahrer in Anspruch, mehr erwarteten sie nicht von mir.

Ich konnte offensichtlich nichts dazu beitragen, daß die Situation gelöst wurde. Aber was hieß das? Lösen? Wegmachen? Ungeschehen machen? Damit alles so bleiben konnte, wie es war? Damit wir nicht alle miteinander gezwungen wurden, unser Leben zu ändern? Damit bloß nichts geschah in unserem Leben?

Mitten in einer unserer wortlosen, schlaflosen Nächte in dieser Zeit hatte Claudia unvermutet den Mund aufgemacht, und folgende Wörter waren herausgefallen wie Kieselsteine: Ich wollte, es wäre meins.

Nichts weiter. Nur dieser eine Satz: Ich wollte, es wäre meins. Ich spürte in diesen fünf Wörtern ihre Kraftanstrengung, ihre Tochter nicht dazu zu mißbrauchen, sich selbst ein Baby zu verschaffen. Das Baby, das ich ihr verweigert hatte.

Nein, ich hatte nicht noch einmal dieses Theater gewollt, das ewige Geplärr, diese dauernde Müdigkeit, die Ängste. Nein, einmal hatte mir vollkommen gereicht.

Immer wieder hatte Claudia vorsichtig angefragt, und jedesmal wieder fragte ich sie zurück: Hast du wirklich Lust, wieder jede Nacht aufzustehen, stinkende Windeln auszuhalten, ausgekotzte Milch, das Geheul? Willst du wieder nächtelang um den Mittleren Ring fahren, dir den Hintern auf Spielplätzen abfrieren, mit Bauklötzen spielen, drei Jahre lang das Einmaleins üben, hundertsiebzehn Erkältungen über dich ergehen lassen, all die Tränen aushalten? Willst du das wirklich???

Sie antwortete nie darauf, aber sie informierte mich [53] zuverlässig über ihre fruchtbaren Tage, und ich öffnete dann die Nachttischschublade und holte die Kondome heraus. Dazu sagte sie nichts. Ich dachte, so sei es in Ordnung, und seit sie vierzig geworden war, fragte sie nicht mehr, und ich nahm an, das Thema sei endgültig erledigt.

Ich wollte, es wäre meins.

Nein, ich nicht. Ich hätte gern meine kleine Franka mit fünf wieder, aber kein anderes Baby. Ganz bestimmt nicht.

Ich sah ihnen aus dem Auto heraus zu, wie sie in dem modernen Klinikbau verschwanden, beide leicht vornübergebeugt, Franka in ihrer dicken Daunenjacke, die sie immer aussehen ließ wie ein Michelin-Männchen, Claudia ernst und eilig in ihrem eleganten beigen Wintermantel von Armani. Sie würde unser Leben wieder in Ordnung bringen. Sie brachte alles immer wieder in Ordnung. Sie war so effizient. Ich verabscheute das oft an ihr, und gleichzeitig war es der Grund, warum ich mich zu ihr geflüchtet hatte: Bring mein Leben in Ordnung. Das hatte sie getan. Ich war kein enttäuschter unbegabter Künstler mehr, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann. Fred Kaufmann, der Kaufmann wurde, weil er zu allem anderen zu blöd war.

Und wieder würde Claudia unser Leben in Ordnung bringen, während ich hilflos im Auto um den Block fuhr, und vor mich hin rauchte.

Ich sah Franka mit gespreizten Beinen auf dem gynäkologischen Stuhl liegen, eine Krankenschwester ihr Äther vor die Nase halten, eine andere mit stählernen Instrumenten hantieren, meinem kleinen Mädchen taten sie das an, meiner kleinen Maus.

[54] Ich heulte auf, fuhr das Auto auf den Bürgersteig vor der Klinik, sprang heraus und fing an zu laufen, die Straße hinunter, weg, einfach nur weg. Ich rannte und rannte. Abtreibung. Wie scheußlich allein schon das Wort klang. Schwangerschaftsunterbrechung. Abort.

Von der Französin hatte ich Claudia nie erzählt. Sie ging morgens zum Arzt, kam nachmittags wieder. Sah nur ein bißchen blaß aus. Wir sprachen kein Wort darüber. Zwei Tage später war sie einfach verschwunden. Hatte alle ihre Sachen mitgenommen. Weg war sie. Ich betrank mich stumm bis zur Besinnungslosigkeit. Hab sie nie mehr wiedergesehen.

Ich rannte an den Grachten entlang, lief weiter und weiter, rannte, rannte, bis meine Lungen so stachen, daß ich hustend und keuchend stehenbleiben und mich an einem schmiedeeisernen Gitter festhalten mußte. Bunte Blitze tanzten vor meinen Augen, ich hustete mir die Lunge aus dem Leib. Eine junge, sehr schmale schwarze Frau mit einem dunkelblauen Turban saß auf einer Parkbank und sah mir zu.

Ich schleppte mich zu der Bank, setzte mich neben sie, wortlos streckte sie mir ein Tempotaschentuch entgegen. Ich bedankte mich auf englisch und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Sie betrachtete mich ruhig. Als der Schmerz nachließ, kamen die Tränen. Ich ließ sie laufen, es war mir egal. Resolut nahm sie meine Hand, drehte sie um, fuhr mit ihrem schwarzen Finger meine Handlinien nach und sagte: Ask me a question.

Eine Frage? Welche? Ich hatte Tausende. Wie wird Franka es überstehen? Wie werden wir es als Familie [55] überstehen? Werden Claudia und ich es überstehen? Werden mir die Haare ausfallen? Wird mein Auto gerade von der Amsterdamer Polizei abgeschleppt? An welcher Krankheit werde ich sterben? Werde ich noch einmal glücklich sein? Es fiel mir unangenehm auf, daß die meisten Fragen um mich kreisten.

Ich schwieg. Sie hielt meine Hand und wartete geduldig. Ein Eichhörnchen hüpfte vor uns von einem Baum und musterte uns aus sicherem Abstand. Die Frau neben mir nahm eine Nuß aus der Tasche und warf sie dem Eichhörnchen vor die Füße. Das Eichhörnchen nahm die Nuß und hielt sie anmutig zwischen seinen Vorderpfoten, sah uns noch einmal kritisch an und hüpfte davon.

Ich schluchzte und wischte mir mit der Hand über das nasse Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geweint hatte. Die Frau hielt meine Hand und ließ mich heulen. Sie fing an, ein Lied zu summen.

Row, row, row your boat, sang sie, gently down the stream, merrily, merrily, merrily, life is but a dream. Alles nur ein Traum. Vorsichtig wandte ich den Kopf und sah sie an. Sie grinste.

Werden mir die Haare ausfallen? fragte ich auf englisch.

Sie lachte. Of course.

Wird meine Tochter jemals wieder glücklich sein?

Sie schüttelte den Kopf. Mein Herz stotterte wie ein Motor kurz vorm Kolbenfresser. Fragen über andere kann ich nicht beantworten, sagte sie. Steht nicht in deiner Hand.

Mein Herz sprang wieder an. Ich nickte. Das ergab Sinn. Bin ich eine Niete? fragte ich leise auf deutsch.

In english, befahl sie.

[56] Mir fiel keine Übersetzung für Niete ein. Ich knüllte das Tempo zusammen und zielte auf den Papierkorb. Traf natürlich nicht.

Good shot, sagte sie ironisch. Sie nahm meine Hand und hielt sie sich dicht vor die Augen.

Am I an asshole? fragte ich sie, und sie grinste so breit, daß ich mich am liebsten an ihren Busen geworfen hätte.

Sie ließ meine Hand sinken. Yes, sagte sie, just like everybody else.

Thank you, sagte ich.

Sie sah mich spöttisch an, nahm meine Hand wieder auf und studierte sie wie einen Stadtplan. Ich sehe eine Reise, sagte sie. Eine Reise, die nicht weit wegführt, aber alles verändern wird.

Wohin soll die Reise denn gehen? fragte ich sie wie der reizende Herr Marschall von meinem Reisebüro am Kurfürstenplatz.

Sie wiegte ihren großen nachtblauen Turban. Nicht weit. Ich tippe auf Europa.

Danke, sagte ich und entzog ihr meine Hand. Eine Reise, na klar, das sagen sie alle immer, eine todsichere Sache. Ich war enttäuscht und ernüchtert.

Als ich aufstand, um zu gehen, packte sie mich am Ärmel. Sie sah mich nicht an, als sie sagte: Hab heute noch nichts gegessen, Mister.

Plötzlich nannte sie mich Mister. Ich gab ihr zwanzig Gulden, mit denen sie nur mäßig zufrieden schien. Nach hundert Metern sah ich mich noch einmal nach ihr um. Sie war verschwunden, aber das Eichhörnchen war noch da und sah mir mit erhobenen Pfoten unbeweglich nach.

[57] Ich hatte keine Ahnung mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war, noch konnte ich mich an die Adresse der Klinik erinnern. Nichts erschien mir bekannt. Alles sah gleich aus. Ich befand mich in einem Traum, hilflos irrte ich darin umher. Versuchsweise fing ich wieder an zu laufen, weil ich hoffte, dadurch meine Orientierung wiederzufinden. Ich sah im Laufen auf meine englischen Schuhe, und sie schienen mir wie das einzig Solide und Verläßliche. Als ich nach einer Stunde die Klinik immer noch nicht gefunden hatte, geriet ich in...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2012
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Buddhismus • Ehekrise • Eltern • Erfolg • Familie • Geld • Glück • Kloster • Leben über vierzig • Mutter und Tochter • Reise • Seitensprung • Südfrankreich • Vater • Vater und Tochter
ISBN-10 3-257-60089-5 / 3257600895
ISBN-13 978-3-257-60089-6 / 9783257600896
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99