Abbitte (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
531 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60025-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abbitte -  Ian McEwan
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Die Abgründe und die Macht der Leidenschaft und der Phantasie: An einem heißen Tag im Sommer 1935 spielt die dreizehnjährige Briony Tallis Schicksal und verändert dadurch für immer das Leben dreier Menschen.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ?Abbitte? ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt ?Am Strand? (mit Saoirse Ronan) und ?Kindeswohl? (mit Emma Thompson). Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ›Abbitte‹ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen ›Am Strand‹ (mit Saoirse Ronan) und ›Kindeswohl‹ (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

[30] Zwei

Weil sie so jung war und der Tag so schön, aber auch weil das Verlangen nach einer Zigarette in ihr aufkeimte, rannte Cecilia Tallis fast, Blumen in der Hand, den Pfad entlang, der vorbei am alten Badeplatz mit seiner moosigen Ziegelmauer dem Flußlauf folgte, ehe er hinter einer Biegung im Eichenhain verschwand. Doch auch die Langeweile der Sommerwochen seit ihrem Schulabschluß trieb sie hinaus, denn daheim schien das Leben erstarrt, und so ein herrlicher Tag wie heute machte sie ruhelos, beinahe unbeherrscht.

Der kühle, tiefe Schatten der Bäume war eine Wohltat, das scharf konturierte Geflecht der Äste verzauberte sie. Durch das eiserne Schwingtor – vorbei am Rhododendron beim Grenzgraben und quer durch eine offene Parklandschaft, die als Kuhweide an einen Bauern aus dem Dorf verkauft worden war – gelangte sie zum Tritonbrunnen, einer verkleinerten Ausgabe von Berninis Brunnen auf der Piazza Barberini in Rom.

Der muskulöse Meeresgott, der da so gelassen auf seiner Muschelschale hockte, vermochte allerdings – so schwach war der Wasserdruck – bloß einen knapp zehn Zentimeter hohen Strahl durch sein Schneckenhorn zu blasen, weshalb ihm das Wasser auf den Kopf plätscherte und durch die Steinlocken und die Furche des mächtigen Rückgrats rann, um dort einen schimmernden dunkelgrünen Fleck zu [31] hinterlassen. In diesem fremden nordischen Klima war der Triton weit fort von heimatlichen Gefilden, doch bot er einen schönen Anblick in der Morgensonne, genau wie die vier Delphine, die jene Muschel mit gewelltem Rand trugen, auf der er saß. Sie betrachtete die Schuppen, die auf den Delphinen und den Schenkeln des Meergottes eigentlich nichts zu suchen hatten, und sah dann zum Haus hinüber. Am schnellsten käme sie über den Rasen und durch die Terrassentür in den Salon zurück, aber ihr Spielgefährte aus Kindertagen und einstiger Studienfreund Robbie Turner lag vor der Rosenhecke auf den Knien, um Unkraut zu jäten, und sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Jetzt jedenfalls noch nicht. Seit der Universität hatte er sich aufs Gärtnern verlegt, doch war neuerdings auch die Rede von einem Medizinstudium, was ihr nach einem Abschluß in Literatur etwas hochgegriffen schien, aber auch ziemlich anmaßend, da ihr Vater schließlich dafür bezahlen mußte.

Sie wässerte kurz die Blumen, tauchte sie noch einmal ins tiefe, kalte Wasser des – originalgroßen – Brunnenbeckens und machte einen Bogen um Robbie, indem sie rasch zum Haupteingang eilte – eine Gelegenheit, dachte sie, um noch einige Augenblicke länger im Freien bleiben zu können.

Keine Morgensonne und auch sonst kein Licht konnten darüber hinwegtäuschen, wie häßlich der Landsitz der Familie Tallis war: Gerade mal vierzig Jahre alt, klotzig, mit hellroten Ziegelsteinmauern, durchbrochen von wuchtigen, neogotischen Bleiglasfenstern, sollte er eines Tages in einem Artikel von Pevsner höchstpersönlich (vielleicht aber auch von einem seiner Mitarbeiter) als eine »Tragödie vertaner Gelegenheiten« und von einem jüngeren Anhänger der [32] modernen Schule als »schrecklich geschmacklos« bezeichnet werden. Noch um 1880 hatte an seiner Stelle ein Haus im Stil der Gebrüder Adam gestanden, das einem Brand zum Opfer gefallen war. Geblieben waren nur ein künstlich angelegter See mit einer Insel, über die mittels zweier steinerner Brücken die Zufahrt führte, sowie am Ufer ein verfallener stuckverzierter Tempel. Cecilias Großvater, aufgewachsen über einem Eisenwarenladen, hatte mit einer Reihe von Patenten für Vorhängeschlösser, Riegel, Schnappschlösser und Schließbänder den Grundstock fürs Familienvermögen gelegt und dem neuen Haus seine Vorliebe für alles Solide, Sichere und Praktische vermacht. Kehrte man aber dem Eingang den Rücken zu, sah die Auffahrt hinunter und ignorierte die Holsteiner Kühe, die schon jetzt den Schatten der wenigen Bäume suchten, war die Aussicht gar nicht so übel, vermittelte sie doch nach wie vor einen Eindruck von zeitloser, ereignisloser Ruhe, was Cecilia erst recht darin bestätigte, daß sie möglichst bald wieder von hier fortmußte.

Sie ging ins Haus, eilte durch die schwarzweiß geflieste Eingangshalle – das Echo der Schritte so vertraut, so unangenehm laut – und blieb vor der Tür zum Salon stehen, um wieder zu Atem zu kommen, während kühle Tropfen von den Blumenstengeln auf ihre Füße fielen. Der Anblick der Purpurweidenzweige und wilden Schwertlilien hob ihre Stimmung. Die Vase, nach der sie suchte, stand auf einem amerikanischen Kirschholztisch gleich neben der spaltbreit geöffneten Terrassentür, die nach Südosten zeigte und morgendliches Sonnenlicht einließ, das in hellen Parallelogrammen über den taubenblauen Teppich wanderte. Cecilias [33] Atem beruhigte sich, und ihr Verlangen nach einer Zigarette wuchs, doch zögerte sie noch und blieb einen Moment an der Tür stehen, wie gebannt von dem harmonischen Anblick, der sich ihr bot: die drei abgewetzten Chesterfields um den noch fast neuen Kamin im gotischen Stil, in dem ein winterliches Büschel Riedgras stand, das ungestimmte Cembalo, auf dem nie gespielt wurde, der ungenutzte Notenständer aus Rosenholz und die schweren, von einer blauorangefarbenen Kordel locker zurückgehaltenen Samtvorhänge, die den Blick auf den wolkenlosen Himmel und die gelbgrau gesprenkelte Terrasse freigaben, in deren Fliesenritzen Kamille und Mutterkraut wuchsen. Einige Stufen führten zum Rasen hinab, der sich bis zum knapp fünfzig Meter entfernten Triton-Brunnen erstreckte und an dessen Einfassung Robbie immer noch arbeitete.

Daß sie gerannt war – was sie in letzter Zeit nur noch selten tat –, und den Fluß und die Blumen, die feine Maserung der Eichenstämme, die hohe Zimmerdecke, den geometrischen Lichteinfall, den Pulsschlag in den Ohren, der langsam der Stille wich: All dies genoß sie, weil es das Vertraute in etwas angenehm Fremdes verwandelte. Zugleich aber hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der Langeweile, die sie hier zu Hause plagte. Sie war mit der vagen Annahme aus Cambridge zurückgekehrt, ihrer Familie eine längere Zeit der Anwesenheit zu schulden. Doch ihr Vater blieb in der Stadt, und wenn ihre Mutter nicht gerade an einer Migräne laborierte, wirkte sie abwesend, sogar unfreundlich. Gelegentlich brachte Cecilia ihr den Tee auf das Zimmer – in dem ein ebenso sensationelles Durcheinander herrschte wie in ihrem – und hoffte, sich in aller Ruhe mit ihr [34] unterhalten zu können, doch Emily Tallis wollte nur die kleinlichen Sorgen um den Haushalt mit ihr teilen. Oder sie trank ihre Tasse Tee in mattem Schweigen und ließ sich mit einer Miene, die im Dämmerlicht nicht zu entschlüsseln war, in die Kissen sinken. Briony aber verlor sich in Schreibphantasien – was zunächst nur eine Laune gewesen zu sein schien, hatte sich zu einer hartnäckigen Obsession entwickelt. Cecilia hatte ihre Schwester am Morgen auf der Treppe gesehen, wie sie die erst gestern eingetroffene Kusine und die beiden Vettern, diese armen Tröpfe, ins Kinderzimmer brachte, um dort das Stück mit ihnen einzuüben, das am Abend zur Ankunft von Leon und dessen Freund aufgeführt werden sollte. Es blieb nur wenig Zeit, und jetzt hielt Betty auch noch einen der Zwillinge wegen irgendeiner Lappalie in der Spülküche fest, aber Cecilia dachte nicht daran, helfend einzugreifen – dafür war es einfach zu heiß; außerdem würde das Unterfangen ohnehin in einer Katastrophe enden, weil Briony einfach zuviel erwartete und weil niemand, vor allem aber die Vettern nicht, ihren übertriebenen Ansprüchen genügen konnte.

Cecilia wußte, daß sie ihre Tage nicht länger im Kuddelmuddel ihres unaufgeräumten Zimmers vertrödeln, nicht länger in Zigarettenqualm gehüllt auf dem Bett liegen konnte, das Kinn in die Hand gestützt, ein Kribbeln im eingeschlafenen Arm, um in Richardsons Clarissa zu schmökern. Sie hatte halbherzig angefangen, einen Stammbaum zu erstellen, doch blieben die Vorfahren väterlicherseits bis zu dem Tag, an dem ihr Urgroßvater seinen bescheidenen Eisenwarenladen eröffnete, im Morast ewiger Bauernarbeit versunken, wobei die Männer verdächtig oft die Namen [35] gewechselt hatten, was Cecilia ziemlich verwirrte, und manche Gewohnheitsehe war gar nicht erst im Kirchenregister verzeichnet worden. Sie konnte nicht länger bleiben, sie wußte, sie sollte Pläne für ihre Zukunft schmieden, doch sie tat nichts dergleichen. Möglichkeiten boten sich durchaus, nur durfte sie sich mit allen Zeit lassen. Auf ihrem Konto war genug Geld angespart, um davon ein Jahr bescheiden leben zu können. Leon hatte sie immer wieder aufgefordert, mit ihm einige Zeit in London zu verbringen. Studienfreunde erboten sich, eine Stelle für sie zu finden – nichts Besonderes, sicher, aber sie wäre unabhängig. Mütterlicherseits besaß sie zudem interessante Onkel und Tanten, die sich stets freuten, wenn sie vorbeischaute, etwa die wilde Hermione, die Mutter von Lola und den Jungs, die in ebendiesem Augenblick mit einem Liebhaber, der beim Rundfunk arbeitete, in Paris weilte.

Niemand hielt Cecilia auf, niemanden kümmerte es sonderlich, ob sie ging oder blieb. Sie litt auch nicht an Apathie – manchmal war sie regelrecht wütend vor lauter Ruhelosigkeit –, doch hätte sie es gern gesehen, daß man sie von ihrer Abreise abhielte, daß sie gebraucht würde. Gelegentlich redete sie sich ein, sie bliebe Briony zuliebe oder um ihrer Mutter zu helfen oder weil sie nie wieder so lange daheim sein würde, weshalb sie bis zum Ende durchhalten wollte. Doch in Wahrheit fand sie die Aussicht, einen Koffer zu packen und den Morgenzug zu nehmen, nicht besonders...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2012
Übersetzer Bernhard Robben
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Belletristik • Booker Prize • Cecilia • England • Gegenwartsliteratur • Landgut • Leidenschaft • Liebe • Macht • Naher Osten • Phantasie • Roman • Rotlichtbezirk • Selbsterkenntnis • Taxi • Trennung • Tunesien • UNO • Unschuld • Verrat
ISBN-10 3-257-60025-9 / 3257600259
ISBN-13 978-3-257-60025-4 / 9783257600254
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