Bis ich dich finde (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
1152 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60019-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bis ich dich finde -  John Irving
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Bis ich dich finde ist die Geschichte des Schauspielers Jack Burns. Seine Mutter ist Tätowiererin, sein Vater ein Organist, der verschwunden ist. Ein Roman über Obsessionen und Freundschaften; über fehlende Väter und (zu) starke Mütter; über Kirchenorgeln, Ringen und Tattoos; über gestohlene Kindheit, trügerische Erinnerungen und über die Suche nach der einen Person, die unserem Leben endlich einen Sinn gibt.

John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ?Gottes Werk und Teufels Beitrag?.

John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹.

[11] 1

In der Obhut von Kirchgängern und Ehemaligen

Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten. Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.

Natürlich erinnern wir uns kaum an die Zeit vor unserem vierten oder fünften Lebensjahr – und die wenigen Erinnerungen an diese ersten Jahre sind sehr selektiv, unvollständig oder regelrecht falsch. Was in Jacks Erinnerung das erste Mal war, daß er das Bedürfnis verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten, war in Wirklichkeit wahrscheinlich das hundertste oder zweihundertste Mal.

Vorschultests ergaben, daß Jack Burns über einen weit größeren Wortschatz verfügte als Gleichaltrige, was bei Einzelkindern, die gewohnt sind, Unterhaltungen zwischen Erwachsenen zuzuhören, nichts Ungewöhnliches ist – insbesondere bei Einzelkindern von alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Signifikanter aber war, wie die Testergebnisse bewiesen, seine konsekutive Gedächtnisleistung, die im Alter von drei Jahren der eines Neunjährigen entsprach. Mit vier Jahren waren sein Erinnerungsvermögen für Einzelheiten (das auch unerhebliche Details wie Kleidungsstücke und Straßennamen umfaßte) und sein Verständnis von linearer Zeit vergleichbar denen eines Elfjährigen.

Diese Testergebnisse verblüfften seine Mutter Alice, die ihn für ein unkonzentriertes Kind hielt; in ihren Augen deutete Jacks [12] Neigung zu Tagträumen darauf hin, daß er für sein Alter eher unreif war.

Trotzdem ging sie mit Jack im Herbst 1969, als er vier Jahre alt war und noch nicht die Vorschule besuchte, zur Ecke Pickthall und Hutchins Hill Road in Forest Hill, einem wohlhabenden Viertel von Toronto. Dort warteten sie, wie sie Jack erklärte, auf den Schulschluß, damit er sich die Mädchen einmal ansehen könne.

St. Hilda war das, was man eine »konfessionelle Mädchenschule« nannte. Das Angebot reichte von der Vorschule bis zur dreizehnten Klasse – die gab es in Kanada damals noch –, und Jacks Mutter hatte beschlossen, daß er dort eingeschult werden sollte, obwohl er ein Junge war. Von dieser Entscheidung erzählte sie ihm erst, als sich, wie um sie beide zu begrüßen, die Haupttore der Schule öffneten und Mädchen in verschiedenen Stadien von Mißmutigkeit und Überschwang, von Adrettheit und Schlampigkeit herausströmten.

»Nächstes Jahr«, verkündete Alice, »werden in St. Hilda auch Jungen aufgenommen. Allerdings bloß sehr wenige und nur bis zur vierten Klasse.«

Jack konnte sich nicht bewegen, ja er konnte kaum atmen. Mädchen gingen rechts und links an ihm vorbei – manche waren groß und laut, und alle hatten Schuluniformen in den Farben an, von denen Jack Burns später dachte, sie würden ihn bis an sein Lebensende begleiten: Grau und Kastanienbraun. Die Mädchen trugen graue Pullover oder kastanienbraune Blazer über weißen Matrosenblusen.

»Dich werden sie jedenfalls aufnehmen«, sagte Jacks Mutter. »Dafür werde ich sorgen.«

»Wie?«

»Darüber denke ich noch nach«, antwortete Alice.

Die Mädchen trugen außerdem graue Faltenröcke und graue Kniestrümpfe. Es war das erste Mal, daß Jack so viele nackte [13] Beine sah. Er verstand noch nicht, daß die Mädchen durch irgendeine innere Unruhe getrieben wurden, die Strümpfe bis zu den Knöcheln oder wenigstens über die Waden hinunterzuschieben – trotz der Schulregel, daß Kniestrümpfe bis zum Knie zu reichen hatten.

Jack Burns bemerkte, daß die Mädchen ihn gar nicht wahrnahmen oder einfach durch ihn hindurchsahen. Nur eine gab es – sie war eine von den älteren und hatte weiblich gerundete Hüften und Brüste, dazu Lippen, so voll wie die von Alice –, die Jack in die Augen schaute, als sei sie außerstande, den Blick abzuwenden.

Jack war vier, und er war sich keineswegs sicher, ob er derjenige war, der seine Augen nicht von ihr losreißen konnte, oder ob sie es war, die magisch von seinem Blick angezogen wurde. Wie auch immer es sich verhielt – aus ihrem Gesichtsausdruck sprach so viel Wissen, daß sie ihm angst machte. Vielleicht hatte sie eine Art Vision gehabt, wie Jack als älterer Junge oder als Erwachsener aussehen würde, und war gebannt von Sehnsucht und Verzweiflung. (Oder von Angst und Erniedrigung, würde Jack Burns eines Tages denken, denn das ältere Mädchen schlug plötzlich die Augen nieder.)

Jack und seine Mutter standen in diesem Meer aus Mädchen, bis alle Schulbusse und Autos vor- und wieder weggefahren waren und bis von denen, die zu Fuß nach Hause gingen, nicht einmal das Geräusch ihrer Schritte oder ihres einschüchternden, aber aufregenden Lachens geblieben war. Die frühherbstliche Luft war noch warm genug, um ihren Duft zu übertragen, den Jack zaghaft einatmete und für Parfüm hielt. Die meisten Mädchen in St. Hilda benutzten so etwas nicht, sondern waren eingehüllt in ihren eigenen Duft, an den Jack Burns sich nie gewöhnte, den er nie für etwas Selbstverständliches hielt. Nicht einmal am Ende der vierten Klasse.

»Aber warum soll ich hier zur Schule gehen?« fragte Jack seine [14] Mutter, als die Mädchen verschwunden waren. Ein paar welke Blätter waren alles, was sich an dieser ruhigen Straßenecke noch bewegte.

»Weil es eine gute Schule ist«, sagte Alice. »Und bei den Mädchen bist du sicher«, fügte sie hinzu.

Jack war offenbar anderer Ansicht, denn er griff sofort nach der Hand seiner Mutter.

In jenem Herbst vor Jacks Einschulung in St. Hilda war seine Mutter voller Überraschungen. Nachdem sie ihm die uniformierten Mädchen gezeigt hatte, die bald sein Leben beherrschen würden, verkündete sie, sie werde in Nordeuropa nach Jacks verschwundenem Vater suchen. Sie kenne die Hafenstädte an der Nordsee, in denen er sich höchstwahrscheinlich vor ihnen verstecke; gemeinsam würden sie ihn aufspüren und mit seiner Pflicht und Schuldigkeit konfrontieren. Jack hatte öfter gehört, daß seine Mutter sie beide als »Pflicht und Schuldigkeit« seines Vaters bezeichnet hatte. Aber selbst im Alter von vier Jahren war er überzeugt, daß sein Vater für immer fortgegangen war – und zwar schon vor seiner Geburt.

Und als seine Mutter sagte, sie werde unterwegs, in diesen fremden Städten, Geld verdienen, wußte Jack auch, womit. Ihr Vater war Tätowierer, und Alice war Tätowiererin; es war das einzige, was sie konnte.

In den Städten an der Nordsee, die sie aufsuchen wollte, würden andere Tätowierer ihr Arbeit geben. Man wußte, daß sie bei ihrem Vater in die Lehre gegangen war, einem wohlbekannten Vertreter seiner Zunft in Edinburgh – oder vielmehr im zu Edinburgh gehörenden Hafen Leith –, wo Jacks Mutter das Pech gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen. Dort hatte er sie geschwängert und umgehend sitzenlassen.

Laut Alice war Jacks Vater auf der New Scotland nach Halifax gefahren. Sobald er eine bezahlte Arbeit gefunden hatte, würde [15] er sie nachkommen lassen – das hatte er jedenfalls versprochen. Doch Alice sagte, sie habe nie wieder etwas von ihm gehört – nur über ihn. Bevor er aus der Stadt verschwunden war, hatte Jacks Vater eine breite Spur durch Halifax gezogen.

Jacks Vater hieß eigentlich Callum Burns, doch er hatte während des Studiums seinen Vornamen in William geändert. Sein Vater hieß Alasdair, was, wie William sagte, so schottisch war, daß es für die ganze Familie reichte. Zum Zeitpunkt seiner skandalösen Abreise nach Nova Scotia war William Burns Mitglied des Royal College of Organists in Edinburgh, was bedeutete, daß er nicht nur einen Abschluß in Musikwissenschaften besaß, sondern auch diplomierter Organist war. Als er Jacks Mutter kennenlernte, war er Organist an der Pfarrkirche von Süd-Leith; Alice sang dort im Chor.

Für einen jungen Mann, der so tat, als gehöre er zur gehobenen Gesellschaft, und der eine gute Ausbildung genossen hatte – William Burns war vor dem Studium der Musikwissenschaften an der Universität von Edinburgh in Heriot zur Schule gegangen –, hatte eine erste Anstellung als Organist in einer Arbeiterstadt wie Leith möglicherweise das Flair eines Ausflugs in die Unterschicht. Aber Jacks Vater pflegte scherzhaft zu sagen, die Church of Scotland zahle einfach besser als die Scottish Episcopal Church. William gehörte der letzteren an, und dennoch gefiel es ihm ganz gut in der Pfarrkirche von Süd-Leith, auf deren Friedhof angeblich elftausend Menschen lagen, obgleich dort nicht mehr als dreihundert Grabsteine standen.

Den Armen waren Grabsteine verboten, aber nachts, erklärte Jacks Mutter, kämen die Leute mit der Asche ihrer Lieben und streuten sie durch das Gitter auf den Friedhof. Die Vorstellung, daß so viele Seelen in der Finsternis umhergeweht wurden, bescherte dem Jungen Alpträume, doch die Kirche war – wenn auch womöglich nur wegen des Friedhofs – sehr gut besucht, und [16] Alice glaubte, sie sei gestorben und zum Himmel aufgefahren, als sie dort für William zu singen begann.

In der Pfarrkirche standen Chor und Orgel hinter der Gemeinde. Für den Chor gab es nur zwanzig Stühle – vorn die Frauen, hinten die Männer. William bat Alice, sich während der Predigt weit vorzubeugen, damit er sie gut sehen konnte. Sie trug eine blaue Robe – »blauhäherblau«, sagte sie zu Jack – und einen weißen Kragen. Im April 1964, als Jacks Vater zum ersten Mal in diese Kirche kam, um die Orgel zu...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Übersetzer Dirk van Gunsteren, Nikolaus Stingl
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Coming-out • Homophobie • Kirche Sankt Peter Zürich • LGBT • LGBTQ • Stricher • Transen • Transsexualität • Transsexuell • Transvestit • USA
ISBN-10 3-257-60019-4 / 3257600194
ISBN-13 978-3-257-60019-3 / 9783257600193
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99