Das andere Dasein (eBook)

Roman
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2011 | 2. Auflage
271 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74900-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das andere Dasein -  Galsan Tschinag
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Galsan Tschinag, deutschsprachiger Schriftsteller aus der Mongolei und preisgekrönter Bestsellerautor, erzählt in seinem neuen Roman eine Liebesgeschichte voller Leidenschaft. 'Das andere Dasein' meint die Chance, auch nach einem großen Verlust noch einmal das Glück zu erleben. Moskau im Spätfrühling des Jahres 1977: Der junge Burjate Minganbajir begegnet der ungarischen Studentin Anni und verliebt sich unsterblich. Sie erleben wunderbare Tage, dann muß sie nach Budapest zurückkehren. Sein einziger Brief kommt zurück mit dem Vermerk: »Kein Empfänger. Bitte an diese Adresse nicht wieder schreiben!«. Die Zeit vergeht, Minganbajir heiratet, gründet eine Familie und verdient seinen Lebensunterhalt als Dolmetscher. Die verlorene Liebe aber bleibt immer in seinem Herzen. Jahre später lernt er erneut eine Anni kennen. Sie ist die Chefin einer ungarischen Zirkustruppe, die er als Dolmetscher in die mongolische Steppe begleitet. Er fühlt sich auf geheimnisvolle Weise zu dieser Frau hingezogen, mit ihr verbunden, obgleich sie seine Anni nicht sein kann, denn sie ist wesentlich älter. Bei einem Ausflug in die winterliche Steppe kommen sich die beiden näher. Kann es sein, daß sie die Mutter der einstigen Geliebten ist? Und kann es sein, daß die Liebe die Generationen überschreitet?

<p>Galsan Tschinag wurde 1943 als j&uuml;ngster Sohn einer Nomadenfamilie in der Westmongolei geboren. Er ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa, einer ethnischen Minderheit in der Mongolei. Sein Name in der Sprache der Tuwa lautet Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa. Nach Abschluss der Schule erhielt er 1962 ein Stipendium, das es ihm erlaubte, in die DDR zu reisen. Er lernte Deutsch und Germanistik in Leipzig. Seitdem schreibt er seine literarischen Texte vor allem in deutscher Sprache. Sechs Jahre sp&auml;ter, 1968, kehrte er in seine Heimat zur&uuml;ck und lehrte an der Universit&auml;t in Ulan Bator deutsche Sprache und Literatur, bis er 1976 wegen &raquo;politischer Unzuverl&auml;ssigkeit&laquo; Berufsverbot erhielt. In den folgenden Jahren arbeitet er als Redakteur der Zeitschrift <em>Journalist</em> und als Cheflektor bei <em>Mongol Kino</em>, wo er sich um die Verfilmung mongolischer Epen bem&uuml;hte. Seit 1991 lebt er als freier Schriftsteller vor allem in Ulan Bator, ist aber auch viele Monate als Nomade mit seiner Sippe im Altaigebirge in der Nordwestmongolei unterwegs. Galsan Tschinag versteht sich als Mittler zwischen den Kulturen und ist im Ausland viel auf Lesereisen unterwegs. Seine Erz&auml;hlungen wurden auch in zahlreiche andere Sprachen &uuml;bersetzt.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Das andere Dasein 5
Begleitbrief an den Verleger 7
Vorspruch 13
Zwischenbericht 228
Nachtrag 235

Gedankt sei

Lutbajir,

Dem Auserwählten vom Himmel,

Ein solches Geschick

Ertragen zu müssen,

Erleben zu dürfen.

Und gewidmet sei

Die sanfte Frucht meiner heißen Bemühungen

Dem treu und trotzig und mächtig Liebenden –

So auch seiner unsterblichen Geliebten.

Vorspruch


Im Folgenden wird wieder einmal von der Liebe erzählt werden. Es wird die sanftmütige, behutsame Beschreibung der Wonnen und Schmerzen zweier Menschen des anderen wegen sein, zuerst auf gewohnten Wegen des Lichts zustande gekommen und später auf ebenso gewohnten Stegen des Schattens gestolpert, zum Schluss jedoch, dem Verlauf aller Dinge trotzend, sich fangend und fortgesetzt. So ist es eine schwere, mehr noch, eine merkwürdige: bemitleidens- wie auch bewundernswerte Liebe.

Die Geschichte wird auf so manchen Widerstand stoßen. Das weiß ich, noch bevor ich sie der Öffentlichkeit vorgelegt habe. Doch ich muss sie unbedingt niederschreiben, auch auf die Gefahr hin, mein guter Wille und meine heißen Bemühungen werden mir auf dem verschlungenen, dornenbesäten Pfad meines Lebens, ohnehin beschwerlich genug, weitere Steine bescheren. Denn die Liebe ist nicht nur gewesen, sie dauert mit ihrer irrewirren Feuersbrunst noch an. Und das ist das Allerwesentlichste an der Sache. Und dies, weil ich meine, die Dichtung ist mündig genug, um die Widerspiegelung des wenigstens schon einmal Geschehenen im Leben zu sein. Und die Leser möchten sich wieder von den Verstrickungen einer Kunst, die mord- und zerstörungssüchtig und letzten Endes von sich aus sterbenskrank wie auch von außen her überwindungswürdig geworden ist, zu befreien und endlich wieder zu erkennen: Die lichte Welt, in der wir alle leben, ist sanfter beseelt, klarer begeistet und einfacher bestellt, als die Gespenster aus den Büchern, auf den Bühnen und über den Bildschirmen, alles dem Oberteufel Geld unterstellt und miteinander verwandt, wie die Krallen einer Fangpfote, uns einreden wollen.

 

Es war Ende Januar. Die Erdkugel schien in ihrer Abgeschiedenheit inmitten der kosmischen Fülle noch einsamer, trostloser und zerbrechlicher geworden zu sein. Denn das Leben, das sich in ihren Falten und Spalten eingenistet hat, wurde unaufhaltsam fragwürdiger: Fische und Vögel, Goldmäuse und Silberfüchse, Widder und Pinguine, weit und unabhängig voneinander beheimatet, fingen an, schwärme- und herden- und rudelweise einzugehen; die Bäume neigten dazu, ihre gewohnte Stärke, und die Gräser ihre gewohnte Länge zu verfehlen – beiden war neuerdings gemeinsam, dass ihre Wurzeln immer mickriger gerieten und brüchiger ausfielen, und der Mensch, dieses rundschädlige, stelzbeinige Wesen, war unermüdlich damit beschäftigt, die bereits angehäuften, himmelstarrenden und erderdrückenden Waffenberge jeden Tag um weitere Hügel zu vermehren, um seine Artgenossen, das hieß im Endergebnis sich selber, auszurotten.

Zu solchem düsteren Schluss kam der sechsunddreißigjährige Minganbajir, der sich in Gedanken spöttisch einen selbstgeschliffenen Denker und selbstgemeißelten Forscher nannte, bevor er nach ganzen drei Monaten das Krankenhaus verließ und zu seiner Familie und seinem Broterwerb zurückkehrte. Der Dauerpatient, wie diesen das medizinische Personal genannt hat, wäre wesentlich früher entlassen worden, hätte er, allen anderen gleich, es gewollt und sich darum bemüht. Doch er hat nichts in der Hinsicht getan. Im Gegenteil, er hat sich sehr bald an den Krankenhausalltag gewöhnt, sich mit seinem Patientenschicksal versöhnt und irgendwann angefangen, dieses bescheidene, aber süßmüßige Schlemmerdasein unter staatlichem Dach und in ärztlicher Obhut zu genießen. Und es ist sogar so weit gegangen, dass er ein- oder andermal ernsthaft überlegt hat, ob es nicht besser wäre, wenn er zeitlebens hier bliebe. Was durchaus machbar wäre – man brauchte nur jeden Tag ein wenig, immer zu ungelegenen Stunden, zu schwatzen oder zu lachen oder zu zappeln, und recht bald hätten einem die Ärzte die unheilbare Gemütskrankheit zugeschrieben, und daraufhin wäre man in die Anstalt hinter der Mauer nebenan oder auch ganz woanders hingebracht worden, und der Fall wäre fürs Erste oder für immer erledigt gewesen. Wie bei der Exdiplomatin mit den grauen Schläfen, aber noch glatten Wangen vor einigen Tagen.

Sie hat, wie so manche der neuen Patienten, die ersten Tage in einem Winkel des Kulturraums eine Bleibe gefunden. Minganbajir, der von den dort ausgelegten Zeitungen, Zeitschriften und Büchern auch zuvor regen Gebrauch gemacht, um die Zeit zu vertreiben, kam während seiner weiteren Besuche dort mit der Notuntergebrachten in ein immer längeres und tieferes Gespräch, bis er eines Tages begriff, dass er von einer in seinem Alter selten glückenden, näheren Bekanntschaft umgarnt war. Und diese schien, wie man anfangs geglaubt hat, auf eine Freundschaft, und wie man dann feststellte, auf eine merkwürdige, schwindelerregende Beziehung zuzustreben, ließ aber zu guter Letzt einen wissen, woran man war: Wohl auf dem Weg, zu einem ihrer Verbündeten zu werden!

Dieses so erschreckende und lähmende wie auch beglückende und ermunternde Wissen wurde ihm durch einen anderen, den bejahrten Arzt, vermittelt, der sie wie auch ihn behandelte. Dieser flüsterte ihm, während er mitten im Gang an ihm vorbeiging: »Seien Sie bitte vorsichtig im Umgang mit der Frau im Kulturraum – sie ist eine Politische und steht unter Beobachtung!« Und erst später erfuhr er aus derselben Quelle, was jene verbrochen hatte: Als Konsulin der Botschaft in einem Freundesland hat sie sich geweigert, einen Vertrag zu unterschreiben, obwohl dieser von oben zur Unterzeichnung freigegeben war. Denn sie hat die Vertragsbedingungen für unser Land als nachteilig empfunden und die offensichtliche Strafe dem versteckten Verrat vorgezogen. Und somit hat sie die Stellung verloren und die glänzende Karriere, die sie durch den verschlungenen Dschungel, aus der klebrig-zähen Masse des Auswärtigen Amtes heraus- und von Hauptstadt zu Hauptstadt anderer Länder immer weitergeführt hat, jäh abreißen und ihr Leben in der Sonne der Diplomatie und im Windschutz des Wohlstandes in Scherben gehen lassen. Und jetzt erfuhr man noch Folgendes: Ihr drohte eine Strafe, und der ärztliche Befund erst würde über ihr weiteres Schicksal entscheiden.

Dies steigerte im Bewusstsein Minganbajirs den Wert der nicht mehr jungen, aber immer noch knackigen Frau, der auffallend geschliffenen und belesenen Mitpatientin nun sehr. Bewunderung für ihren Mut war das Erste, was er für sie empfand. Denn sie hatte es fertiggebracht, Nein zu sagen, und dies in einer Zeit der tiefsten, allgemeinen Entmutigung, wo ganze Völker es zur Weise ihres Überlebens haben auserwählen müssen, fleißig Bücklinge vor ihren Obrigkeiten auszuführen und zu jeder ihrer selbstgefälligen, mehr schlechten als rechten Entscheidungen Ja zu blöken und Hurra zu schnattern, schlimmer und schändlicher als Schafherden und Gänseschwärme! Nun, nachdem man von ihrer beherzten Tat erfahren hatte, kam man sich in seinen Überlegungen nicht ganz so falsch und mit seinen Niederlagen nicht ganz so einsam vor wie bisher.

Ab da ließ der selbstgebackene Forscher, Denker und der Dauerpatient die Vorsicht, die in einem ohnehin wachte, als der sechste Sinn vielleicht, zwar immer noch schalten und walten, gewiss. Aber jetzt suchte er die Nähe der berühmt-berüchtigten Bekannten erst recht, ging mit ihr bewusst um und stellte nur noch gezieltere Fragen und steuerte von sich aus durchdachte und gebündelte Aussagen bei, und dies nur dann, wenn er sicher war, dass man nicht beobachtet wurde.

Und sie durchschaute ihn sehr bald. Denn gleich gegen Ende des ersten Tages sagte sie: »Also weißt du Bescheid über meine Person und bist dir der Folgen eines Verkehrs mit mir bewusst!« Er begann zu stottern, sichtlich auf der Suche. Nur, sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Griff hastig nach seiner Hand und sprach behutsam: »Du hast mir schon geantwortet. Mehr braucht es auch nicht zu sein. Altersmäßig wirst du wohl in der Mitte zwischen mir und meinen Kindern stehen, also hast du noch manches vor. Darum schon bewundere ich deinen Mut, meine Nähe zu suchen, wissentlich …«

Die Rede wurde jäh unterbrochen – Schritte wurden im Gang hörbar, und einen Pulsschlag später ging die Tür auf. Schon wechselte die Verdächtige das Gesprächsthema, nun war die Rede von einem bestimmten Sirup. Der Wechsel geschah nahtlos, sie musste darin geübt sein. Wer hereintrat, war eine junge Frau im Schwesternkittel. Und sie beteiligte sich sogleich lebhaft am Gespräch, indem sie erzählte, dass ihre Mutter, die an Erschöpfung litt, davon auch gehört hätte, aber nur nicht wüsste, wie das Wundermittel herstellen, von dem neuerdings fast ein jeder redete. So bat sie die Patientin, alles noch einmal zu wiederholen. Und diese nannte das genaue Rezept: Einer Handvoll zerquetschter Aloe ebenso viel Bienenhonig zusetzen, dieses mit einer Flasche Portwein Nummer zwölf übergießen – das Gemisch gut verrühren, anwärmen, in der Dunkelheit zehn Tage lang stehen lassen und täglich dreimal aus einem Esslöffel einnehmen.

Dann, als die Schwester den Raum verließ, ging er auch. Und am nächsten Tag, zu einer günstigen Stunde, wurde das unterbrochene Gespräch fortgesetzt. Da stellte er ihr die Fragen, die in der Nacht durch sein Hirn gezuckt und ihm den Schlaf genommen haben: Wie viele werden es sein, die so denken wie wir...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Burjaten • Dolmetscher • Geschichte 1977-1990 • insel taschenbuch 4156 • IT 4156 • IT4156 • Liebesbeziehung • Ungarin
ISBN-10 3-458-74900-4 / 3458749004
ISBN-13 978-3-458-74900-4 / 9783458749004
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