Der Tag des Königs (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77750-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tag des Königs - Abdellah Taïa
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An der Straße von Rabat nach Salé wartet eine Menschenmenge auf die Ankunft Hassans II., des Königs von Marokko. Mitten darin zwei Jungen.
Khalid stammt aus einem herrschaftlichen Haus im reichsten Viertel der Stadt, Omar aus der armen Vorstadt. Dennoch sind sie unzertrennlich. Omar liebt Khalid, den feingliedrigen Jungen mit der zarten Haut und den überspannten Ideen. Und Khalid Omar, der mit seinen vierzehn Jahren schon die Verantwortung für seinen Vater trägt. Der ist wie ein kleines Kind, seit Omars Mutter die Familie verlassen hat.
Doch unter dieser Beziehung der beiden ungleichen Jungen lauern Abgründe. Und jetzt ist überdies Khalid ausgewählt, als reichster und bester Schüler der Klasse dem König die Hand zu küssen. Er hat Omar nichts davon gesagt. Dieser Verrat läßt die Kluft zwischen beiden aufbrechen - und verlangt ein Opfer.
Lakonisch, dramatisch, mit kunstvoller Theatralik erzählt der marokkanische Autor Abdellah Taïa, wie Liebe umschlägt in Gewalt unter einem von sozialer Ungleichheit und Tabus geprägten despotischen Regime.

<p>Abdellah Ta&iuml;a, 1973 in Rabat geboren, lebt seit 1999 in Paris. Mit seinen vielbeachteten Romanen <em>Une m&eacute;lancolie arabe</em> (2008), und <em>L&rsquo;arm&eacute;e du salut </em>(2006) und der Offenlegung seiner Homosexualit&auml;t durchbrach er ein Tabu der arabischen Welt.</p>

Cover 1
Titel 4
Impressum 5
Der Tag des Königs 6
Widmung 7
Ich bin vor ihm. 8
Zwei Tage ist das jetzt her, 20
Juni 1987 24
Mittwoch 26
Mein Vater kam mich wecken. 28
Es war gerade erst 35
Der Suk von Lakhmiss 56
Khalids Zimmer 60
Es war halb vier, 68
Wir hatten uns verspätet. 72
»Sie wird nicht wiederkommen, 84
Hadda, das schwarze Hausmädchen, 88
Donnerstag 92
Wie viel Zeit verbrachten wir 94
Eine Gruppe von Berbermusikern 100
»Hast du auch schön gepisst, Omar?« 105
Die Stunde der Rache 110
Wir waren allein auf der Welt. 118
Aïn Houala. 122
Khalid war stärker behaart 128
»Omar?« 132
Unterhalb der Felswand 134
Die Brücke war leer. 138
Ich stieß ihn hinab. 141
Freitag 
148 
Genau das werde ich 150
Donnerstag 156
Jeden Morgen stehe ich 158

Der Tag des Königs


 

Für Tristan Huguen

Ich bin vor ihm. Ich scheine zu träumen, träume aber nicht. Er ist es. Eindeutig er. Ein Mann, den ich gut kenne. Allzu gut. Sein Gesicht sieht genauso aus wie auf den Bildern, die überall hängen, wie das Bild von ihm, das jeden Abend im marokkanischen Fernsehen zu sehen ist. Ein rundes Gesicht. Kleine Nase. Harte, stechende Augen, mit denen nicht zu spaßen ist. Ein gönnerhaftes, dominantes Gesicht. Ein wenig düster. Fern. Nah. Es ist charmant. Entschlossen. Grausam. Zärtlich. Alles zusammen. Ich erkenne es wieder. Ich träume nicht. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich bin vor ihm. Vor ihm? Wirklich? Ja, vor ihm. Er ist es. Er ist dort hinten, im Hintergrund, er sieht mich nicht. Ich gehe auf ihn zu. Ich habe keine Wahl. Er zieht mich an, er beherrscht mich. Ich gehöre ihm. Er ist der König.

König Hassan II.

Er ist schön. Ich liebe ihn. Kein Zweifel, ich liebe ihn. Ich habe gelernt, ihn zu lieben. Seinen Namen auszusprechen. Ihn auszurufen.

Er ist schön. Er ist bedeutend. So schön, so bedeutend.

Wir sind in einem Salon. Riesig. Eine Halle. Eine salonartige Halle. Niemals hätte ich mir einen solch großen, solch unermesslichen Salon vorgestellt. Ich bin beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert.

Der König ist vor mir. Der König ist fern. Ich will ihn mehr aus der Nähe sehen. Ich laufe auf ihn zu. Ich laufe, ich laufe. Ohne zu atmen. Dann falle ich. Leute lachen. Ich begreife, dass ich mit dem König nicht allein bin. Mein König. Rings um ihn ein Durcheinander. Viele Frauen. Sie sind alle sehr elegant in ihren prachtvoll leuchtenden Kaftanen. Sie sind alle sehr schön. Sie kommen aus allen Gegenden Marokkos. Sie lachen über mich. Ich falle hin und bin auch schon den Tränen nahe: Das amüsiert sie. Sie lachen lange, ohne mich wirklich anzusehen. Ohne die schwarzen Diener zu bitten, die genauso jung und schön sind wie sie, mir aufzuhelfen und beizustehen. Sie lachen. Anmutig. Immer noch auf dem Fußboden und seltsamerweise nackt, fange auch ich bald an zu lachen. Und ich richte mich auf und beginne erneut zu laufen.

Der König ist immer noch fern. Dort hinten.

Der König lacht nicht wie im Fernsehen.

Der König ist plötzlich ganz nah. Er hält mich auf.

Ich halte an. Ich werfe mich nieder.

Er fragt: »Wie heiße ich?«

Ich antworte naiv, einfältig: »Hassan II. König Hassan II. von Marokko.«

Er sagt: »Nein. Mein Familienname? Wie lautet mein Familienname?«

Ich weiß ihn nicht. Er ist mir entfallen. Habe ich ihn je gewusst? Ich denke nach. Ich blicke den König an. Eine Sekunde. Ich senke den Kopf. Ich bin kein Rebell.

Für mich braucht ein König keinen Familiennamen. Deswegen ist er ja König und der Stärkste und gebietet über seine Untertanen, die hingegen Familiennamen tragen müssen, um zu existieren, zu leben, zu gehorchen.

Ich weiß ihn nicht. Ich bleibe stumm vor dem König. Mit gesenktem Kopf. Ich schließe die Augen.

Ohne wütend zu werden, wiederholt er: »Wie lautet mein Familienname?«

Ich weiß es nicht. Ich schweige noch immer. Wo bin ich? Und jetzt? Was tun?

Ich hebe den Kopf. Jetzt blicke ich den König an. Ich bin ein Held.

Er wirkt nicht bösartig. Er wirkt normal, ein menschliches Wesen, kein königliches Ungeheuer. Er ist ruhig. Ein wenig belustigt. Zunehmend belustigt. Über mich? Über die Situation?

Er streckt mir die Hand entgegen, ohne mich zu erreichen, als wolle er mir über den Kopf und den Nacken streichen. Er streicht darüber.

Ich schließe die Augen. Ich mache sie wieder auf.

Er hat sich mir genähert. Seine beiden Hände umschließen meinen Hals, und er würgt mich immer stärker.

»Mein Familienname? Schnell, schnell. Mein Familienname? Schnell, hab ich gesagt.«

Ich grabe in meinem Kopf ein Loch. Einen Schacht in meinem Gedächtnis. Ich steige hinab, ganz tief hinab.

Der König: Ich bin mit ihm geboren, ich kenne nur ihn, ich sehe nur ihn, ich achte nur ihn. Er ist überall. Er ist der Gebieter. Er ist der Vater. Er ist Gott. Wie kann man nur seinen Familiennamen nicht wissen? Wie kann man diese wichtige Auskunft über ihn nicht wissen? Wie nur? Hat er überhaupt einen?

Ich grabe noch immer. Ich denke nach. Ich denke nach.

Ich atme nicht mehr. Ich atme nicht mehr.

Mir wird schwummrig. Alles wird rot.

Ich träume nicht. Ich träume nicht mehr.

Der König lässt mich los.

Ich falle. Ich liege auf dem Boden. Allein.

Eine Frau nähert sich mir. Sie haucht mir einen Berbergesang ins Gesicht. Sie richtet mich auf. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie hört auf zu singen. Sie ist sanft. Sie sagt mir auf Arabisch ins linke Ohr: »Geh zu ihm, geh zu dem König, er ist wie dein Vater. Er ist dein Vater.« Und sie stößt mich gewaltsam in seine Richtung. Mit dieser Gewalt, mit diesem Verrat habe ich nicht gerechnet.

Ich bin nichts mehr.

Ich falle erneut.

Ich liege auf dem Boden, zu Füßen des Königs, der mich anblickt. Seine Augen wirken jetzt anders. Sie sind im Dunkeln.

Der König lacht. Laut.

Er hört auf zu lachen. Ganz unvermittelt.

Dann lachen die Frauen, laut, sehr laut und böse. Sie sagen alle im Chor zu mir: »Er ist dein Vater, geh hin, geh hin. Er ist dein Vater. Er ist dein Vater.«

 

Ich schrak hoch.

Ich hatte geschlafen.

Jetzt schlief ich nicht mehr. Ich war wach. Im Dunkeln. Auf dem Boden. Allein in dem armseligen Zimmer. Inmitten der Schnarchlaute meines Vaters.

Ich hatte Angst. Mein Herz auch: Bald würde es aufhören zu hämmern.

Ich konnte mich nicht an meinen Traum erinnern, an den schwarzen Traum dieser Frühsommernacht, der noch in mir war.

Ich erinnerte mich an nichts.

Wo ist mein Kopf? Wo sind meine Füße? Und meine Haut?

Ich suche sie. Ich starre ins Dunkel und suche sie.

Ohne zu verstehen, sagte ich, rief ich: »Nein, nein, er ist nicht mein Vater. Der König ist nicht mein Vater.«

Und ich brach in Tränen aus. Heiße Tränen. Immer noch voller Angst. Ohne mein Herz zu spüren. Dann schlief ich wieder.

Träumte.

 

Ich bin am Fuße des Throns. Zu Füßen meines Gebieters. Mein Glück ist verflogen. Meine Liebe ist verflogen. Ich bin ein Verurteilter. Ein Narr des Königs.

Ich weine. Lange?

Ich ringe nach Luft.

Der König macht »Psssst!«.

Die anderen Frauen machen »Psssst!«.

Ich höre auf. Zu leben.

Mit gesenktem Kopf richte ich mich auf. Ich will sprechen. Ich wage es nicht. Ich will etwas sagen, das mir gerade eingefallen ist. Eine Antwort, die ich für intelligent halte. Ich wage es nicht, ich wage es nicht.

Ein schwarzer Diener kommt auf mich zu. Er sagt zu mir: »Nachher wird deine Strafe schlimmer sein, schlimmer als alles. Du musst vor uns allen nackt den Bauchtanz aufführen.«

Vor dem König?

Einen Augenblick lang bin ich glücklich: Ich war immer gerne nackt.

Dann erfüllt mich panische Angst.

Ich brülle meine Antwort.

»Sie sind König Hassan ben Mohammed.«

Ich bin erleichtert. Es ist mir eingefallen. Der König lächelt. Ich sehe seine weißen, zu weißen Zähne. Sie schimmern.?

Er hebt die rechte Hand, gibt einem weißen Diener ein knappes Zeichen. Dieser kommt sofort auf mich zu und verpasst mir eine Ohrfeige. Eine gewaltige Ohrfeige auf die rechte Wange. Ich falle hin. Er hilft mir wieder auf. Er gibt mir eine weitere Ohrfeige auf die linke Wange. Ich falle hin. Er hilft mir wieder auf und sagt zum König: »Auftrag erfüllt, Majestät.« Und er entfernt sich.

Er ist kein weißer Diener mehr. Aus ihm ist ein schwarzer Diener geworden.

Es tut weh. Sehr weh. Gleich muss ich mich übergeben. Tränen rinnen in Strömen aus meinen Augen.

Der König scheint Mitleid mit mir zu haben. Er betrachtet mich freundlich, sehr freundlich. Er sagt, ich solle meine Tränen abwischen. Ich gehorche.

Er steht auf. Schnippt mit den Fingern. Drei Mal. Alle senken die Köpfe und verdecken die Augen mit der Hand. Bis auf mich. Ich mache es den anderen nach, ich senke den Kopf, aber ohne die Augen zu schließen. Der König sagt nichts.

Nun herrscht eine beeindruckende Stille, wie ich sie noch nie erlebt habe.

Der König steht da. Drei schwarze Diener, schwärzer als die anderen, umringen ihn. Sie entkleiden ihn. Vollständig. In aller Schnelle.

Sie ziehen ihm alle Kleidungsstücke aus. Sogar die Unterhose.

Der König ist nackt.

Ich habe es gesehen.

Ich senke den Kopf noch tiefer. Und dieses Mal schließe ich wirklich die Augen. Ich will dieses unmögliche, unvorstellbare Etwas nicht sehen: Hassan II., nackt! Ich will dieses Verbrechen nicht begehen. Ich will leben. Leben an der Seite der Sonne dieses Tages.

Ich verharre lange Zeit so. Eine ganze Nacht vielleicht.

Ich schlafe ein.

Ich werde geweckt.

Die salonartige Halle ist leer. Alle Frauen sind gegangen. Die Fensterläden sind geschlossen. Es gibt fast kein Licht mehr. Nur Hassan II., die drei tiefschwarzen Diener und ich sind noch da. Hassan II. trägt nun eine prachtvolle weiße, etwas kurze Dschellaba, auf dem Kopf einen weißen Turban und an den Füßen schwarze Schuhe. Er ist schöner als zuvor, größer. Ein anderer Mensch. Eine Art Heiliger. Im Dunkeln ist er das Licht.

Ich liebe ihn. Meine Liebe zu ihm erwacht wieder.

Er ist mein König.

Ich habe...

Erscheint lt. Verlag 2.4.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Le jour du Roi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Marokko • Prix de Flore • Romane
ISBN-10 3-518-77750-5 / 3518777505
ISBN-13 978-3-518-77750-3 / 9783518777503
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