Ich und Kaminski (eBook)

Roman
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2010 | 1. Auflage
174 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73730-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich und Kaminski -  Daniel Kehlmann
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Mit kleineren Gelegenheitsarbeiten schlägt sich Sebastian Zöllner nach seinem Kunstgeschichtsstudium so durch, aber nun hat er einen ganz großen Fisch an der Angel: Er schreibt die Biographie des Malers Kaminski, der, entdeckt und gefördert einst von Matisse und Picasso, durch eine Pop-Art-Ausstellung, seine dunkle Brille und die Bildunterschrift 'Painted by a blind man' weltberühmt wurde.

Inzwischen lebt Kaminski zurückgezogen in den Alpen und ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Soll die Biographie noch rechtzeitig zum Ableben fertig werden, und dieser Termin lässt natürlich größere Aufmerksamkeit erwarten, dann ist Eile geboten. Zöllner, der zunächst mit alten Freunden und Feinden, mit Sammlern und Galeristen gesprochen hat, macht sich zum Objekt seiner Begierde auf den Weg, um exklusive O-Töne zu bekommen. Womit er nicht gerechnet hat: Kaminski ist abgeschirmt durch ein ganzes Heer von Vertrauten, und als es dem Biographen endlich trickreich gelingt, die Bewacher loszuwerden und den Maler auf eine tagelange Reise im Auto mitzunehmen, erkennt er, dass er dem Alten, blind oder auch nicht, in keiner Weise gewachsen ist.

Daniel Kehlmann hat einen hochironischen Roman geschrieben, in dem die Ereignisse immer neue und überraschende Wendungen nehmen, ein brillant witziges Verwirrspiel um Lebenslügen und Wahrheit, um Manipulation, um Moral und Kunst.



<p>Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren. Er lebt in Wien, studierte dort Philosophie und Literaturwissenschaft und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion. International bekannt wurde er mit seinem Roman <em>Ich und Kaminski</em>, der 2003 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Kehlmann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Thomas Mann-Preis der Stadt Lübeck und den Per Olof Enquist-Preis.</p>

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren. Er lebt in Wien, studierte dort Philosophie und Literaturwissenschaft und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion. International bekannt wurde er mit seinem Roman Ich und Kaminski, der 2003 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Kehlmann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Thomas Mann-Preis der Stadt Lübeck und den Per Olof Enquist-Preis.

I


Ich wachte auf, als der Schaffner an die Abteiltür klopfte. Es sei kurz nach sechs, in einer halben Stunde seien wir am Ziel. Ob ich gehört hätte? Ja, murmelte ich, ja. Mühsam richtete ich mich auf. Ich hatte quer über drei Sitzen gelegen, allein im Abteil, mein Rücken tat weh, mein Nacken fühlte sich steif an. In meine Träume hatten sich hartnäckig Fahrtgeräusche, Stimmen auf dem Gang und Ansagen auf irgendwelchen Bahnsteigen gemischt; immer wieder war ich aus unangenehmen Träumen aufgeschreckt; einmal hatte jemand hustend von draußen die Abteiltür aufgerissen, und ich hatte aufstehen müssen, um sie zu schließen. Ich rieb mir die Augen und sah aus dem Fenster: Es regnete. Ich zog meine Schuhe an, holte meinen alten Rasierapparat aus dem Koffer und ging gähnend hinaus.

Aus dem Spiegel der Zugtoilette betrachtete mich ein blasses Gesicht, die Haare unordentlich, auf der Wange die Abdrücke der Sitzpolsterung. Ich schloß den Rasierer an, er funktionierte nicht. Ich öffnete die Tür, sah noch den Schaffner am anderen Ende des Waggons und rief, daß ich Hilfe bräuchte.

Er kam und blickte mich mit einem dünnen Lächeln an. Der Rasierer, sagte ich, funktioniere nicht, offenbar gebe es hier keinen Strom. Natürlich gebe es Strom, antwortete er. Nein, sagte ich. Doch, sagte er. Nein! Er zuckte die Achseln, dann seien es vielleicht die Leitungen, er könne jedenfalls nichts machen. Aber das sei doch das mindeste, sagte ich, was man von einem Schaffner erwarte! Nicht Schaffner, sagte er, Zugbegleiter. Ich sagte, das sei mir egal. Er fragte, wie ich das meine. Egal, sagte ich, wie man diesen überflüssigen Beruf nenne. Er würde sich, sagte er, von mir nicht beleidigen lassen, ich solle aufpassen, er könne mir auch in die Fresse hauen. Das möge er versuchen, sagte ich, ich würde mich ohnehin beschweren, er solle mir seinen Namen nennen. Er dächte nicht daran, sagte er, und ich stänke und bekäme eine Glatze. Dann wandte er sich ab und ging fluchend davon.

Ich schloß die Toilettentür und sah besorgt in den Spiegel. Natürlich war da keine Glatze; rätselhaft, wie der Affe darauf gekommen war. Ich wusch mir das Gesicht, ging ins Abteil zurück und zog mein Jackett an. Draußen reihten sich immer mehr Gleisstränge, Masten und elektrische Leitungen aneinander, der Zug wurde langsamer, schon war auch der Bahnsteig zu sehen: Werbetafeln, Telefonzellen, Leute mit Gepäckwagen. Der Zug bremste und hielt.

Ich schob mich den Gang entlang in Richtung Tür. Ein Mann rempelte mich an, ich stieß ihn zur Seite. Der Schaffner stand auf dem Bahnsteig, ich reichte meinen Koffer hinunter. Er nahm ihn, sah mich an, lächelte und ließ ihn auf den Asphalt plumpsen. »Entschuldigung!« sagte er grinsend. Ich stieg aus, nahm den Koffer und ging davon.

Einen Mann in Uniform fragte ich nach meinem Verbindungszug. Er warf mir einen langen Blick zu, dann holte er ein zerknittertes Büchlein hervor, tippte bedächtig mit dem Zeigefinger an seine Zunge und begann zu blättern.

»Haben Sie keinen Computer?«

Er sah mich fragend an.

»Egal«, sagte ich, »machen Sie weiter.«

Er blätterte, seufzte, blätterte weiter. »ICE sechs Uhr fünfunddreißig Gleis acht. Dann umsteigen …«

Ich ging schnell weiter, ich hatte keine Zeit für sein Geschwätz. Das Gehen fiel mir schwer, ich war es nicht gewöhnt, um diese Zeit schon wach zu sein. Auf Gleis acht stand mein Zug, ich stieg ein, betrat den Waggon, drückte eine fette Dame zur Seite, arbeitete mich auf den letzten freien Fensterplatz zu und ließ mich in den Sitz fallen. Nach ein paar Minuten fuhren wir los.

Mir gegenüber saß ein knochiger Herr mit Krawatte. Ich nickte ihm zu, er grüßte zurück und blickte woanders hin. Ich öffnete den Koffer, holte meinen Notizblock hervor und legte ihn auf das schmale Tischchen zwischen uns. Fast hätte ich sein Buch hinuntergestoßen, aber er konnte es gerade noch festhalten. Ich mußte mich beeilen, der Artikel hätte schon seit drei Tagen fertig sein sollen.

Hans Bahring, schrieb ich, hat also seinen vielen … Nein! … zahlreichen Versuchen, uns durch Einblicke, nein, schlecht recherchierte Einblicke ins Leben bedeutender, nein, prominenter, schon gar nicht. Ich überlegte. … historischer Persönlichkeiten zu Tode zu langweilen, jawohl, nun einen weiteren hinzugefügt. Seine eben erschienene Biographie des Künstlers, nein, Malers Georges Braque als mißraten zu bezeichnen wäre wahrscheinlich noch zu viel Ehre für ein Buch, das … Ich schob den Bleistift zwischen meine Lippen. Jetzt mußte etwas Treffendes kommen. Ich stellte mir Bahrings Gesicht beim Lesen des Artikels vor, trotzdem fiel mir nichts ein. Es machte weniger Spaß, als ich erwartet hatte.

Wahrscheinlich war ich einfach müde. Ich rieb mir das Kinn, die Stoppeln fühlten sich unangenehm an, ich mußte mich unbedingt rasieren. Ich legte den Bleistift weg und lehnte den Kopf an die Scheibe. Es begann zu regnen. Tropfen schlugen auf das Glas und zogen gegen die Fahrtrichtung davon. Ich blinzelte, der Regen wurde stärker, die Tropfen schienen im Zerplatzen Gesichter, Augen, Münder zu bilden, ich schloß die Augen, und während ich auf das Prasseln horchte, nickte ich ein: Für einige Sekunden wußte ich nicht, wo ich mich befand; mir war, als schwebte ich durch einen weiten, leeren Raum. Ich schlug die Augen auf: Über die Scheibe zog sich ein Wasserfilm, die Bäume neigten sich unter der Wucht des Regens. Ich schloß den Block und steckte ihn ein. Mir fiel auf, in welchem Buch der Mann vor mir las: Picassos letzte Jahre von Hans Bahring. Das gefiel mir nicht. Es kam mir vor, als sollte ich irgendwie verspottet werden.

»Schlimmes Wetter!« sagte ich.

Er sah für einen Moment auf.

»Nicht sehr gut, oder?« Ich zeigte auf Bahrings Machwerk.

»Ich finde es interessant!« sagte er.

»Weil Sie kein Experte sind.«

»Daran wird es liegen«, sagte er und blätterte um.

Ich lehnte meinen Kopf an die Nackenstütze, von der Nacht im Zug tat immer noch mein Rücken weh. Ich holte meine Zigaretten hervor. Der Regen ließ allmählich nach, schon tauchten die ersten Berge aus dem Dunst. Mit den Lippen zog ich eine Zigarette aus der Schachtel. Als ich das Feuerzeug aufschnappen ließ, fiel mir Kaminskis Stilleben von Feuer und Spiegel ein: ein zuckendes Gemisch heller Farbtöne, aus dem, als wollte sie die Leinwand verlassen, eine spitze Flamme sprang. Aus welchem Jahr? Ich wußte es nicht. Ich mußte mich besser vorbereiten.

»Das ist ein Nichtraucherwaggon.«

»Was?«

Der Mann zeigte, ohne aufzusehen, auf das Zeichen an der Scheibe.

»Nur ein paar Züge!«

»Das ist ein Nichtraucherwaggon«, wiederholte er.

Ich ließ die Zigarette fallen und trat sie aus, vor Wut biß ich die Zähne zusammen. Na schön, er wollte es so, ich würde nicht mehr mit ihm reden. Ich holte Komenews Anmerkungen zu Kaminski hervor, ein schlecht gedrucktes Taschenbuch mit einem unangenehmen Gestrüpp von Fußnoten. Es regnete nicht mehr, durch Risse in den Wolken zeigte sich blauer Himmel. Ich war immer noch sehr müde. Aber ich durfte nicht mehr schlafen, gleich mußte ich aussteigen.

Kurz darauf schlenderte ich frierend durch eine Bahnhofshalle, eine Zigarette zwischen den Lippen, in der Hand einen dampfenden Becher Kaffee. Auf der Toilette schloß ich meinen Rasierapparat an, er funktionierte nicht. Also auch hier kein Strom. Vor einer Buchhandlung war ein Drehständer mit Taschenbüchern: Bahrings Rembrandt, Bahrings Picasso und in der Auslage, natürlich, ein Hardcoverstapel von Georges Braque oder Die Entdeckung des Kubus. In einer Drogerie kaufte ich zwei Wegwerfrasierer und eine Tube Schaum. Der Regionalzug war fast leer, ich drückte mich in die weiche Sitzpolsterung und schloß sofort die Augen.

Als ich aufwachte, saß mir eine junge Frau mit roten Haaren, vollen Lippen und langen, schmalen Händen gegenüber. Ich sah sie an, sie tat so, als bemerkte sie es nicht. Ich wartete. Als ihr Blick meinen streifte, lächelte ich. Sie sah aus dem Fenster. Aber dann strich sie hastig ihre Haare zurück, ganz konnte sie ihre Nervosität nicht verbergen. Ich sah sie an und lächelte. Nach ein paar Minuten stand sie auf, nahm ihre Tasche und verließ den Waggon.

Dumme Person, dachte ich. Womöglich wartete sie jetzt im Speisewagen, aber mir war es egal, ich hatte keine Lust aufzustehen. Es war schwül geworden: Der Dunstschleier ließ die Berge abwechselnd nahe und fern erscheinen, an den Felswänden hingen zerfaserte Wolken, Dörfer flogen vorbei, Kirchen, Friedhöfe, Fabriken, ein Motorrad kroch einen Feldweg entlang. Dann wieder Wiesen, Wälder, Wiesen, Männer in Overalls schmierten dampfenden Teer auf eine Straße. Der Zug hielt, ich stieg aus.

Ein einziger Bahnsteig, ein rundes Vordach, ein kleines Haus mit Fensterläden, ein schnurrbärtiger Bahnwärter. Ich fragte nach meinem Zug, er sagte etwas, aber ich verstand seinen Dialekt nicht. Ich fragte noch einmal, er versuchte es wieder, wir sahen uns hilflos an. Dann führte er mich zu der Wandtafel mit den Abfahrtszeiten. Natürlich hatte ich gerade den Zug versäumt, und der nächste fuhr erst in einer Stunde.

Im Bahnhofsrestaurant war ich der einzige Gast. Dort hinauf? Das sei aber noch ein gutes...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • biograph • Daniel Brühl • Kunsthistoriker • Maler • Pop-Art • ST 3653 • ST3653 • suhrkamp taschenbuch 3653
ISBN-10 3-518-73730-9 / 3518737309
ISBN-13 978-3-518-73730-9 / 9783518737309
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