Fließendes Land (eBook)

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2012 | 1. Auflage
192 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-08568-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fließendes Land -  Angelika Overath
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Vom Lesen und Schreiben
'Fließendes Land' ist vielleicht Angelika Overaths persönlichstes Buch: eine Reise in die eigene Vergangenheit, in andere Ländern und Kulturen, in die Welt des Schreibens. Ihre Geschichten erzählen von der Begegnung mit ungewöhnlichen Menschen und öffnen die Werkstatt der Reporterin und Schriftstellerin. Schritt für Schritt entfaltet sich aus den verschiedenartigen Prosastücken, aus Erinnerungen, Reisebildern, Reportagen und Essays, ein besonderer Kontinent der Wahrnehmung.

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane 'Nahe Tage', 'Flughafenfische', 'Sie dreht sich um' und 'Ein Winter in Istanbul' geschrieben. 'Flughafenfische' wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.

Handtaschen


Später habe ich es wieder in Budapest gesehen, in der Straßenbahn. Dort war es wie früher. Früher hatten die Straßenbahnen in unserer Stadt noch lange, hell lackierte Holzbänke. Früher, das war so lange nach dem Krieg, daß die Menschen schon wieder etwas waren. Da saßen die Frauen und hielten mit beiden Händen ihre Handtaschen auf ihren geschlossenen Knien fest. Es war, als drückten sie ein Siegel auf ihren Schoß, als schützten sie ihr Geschlecht. Oder es war, als ob all diese Frauen keine Genitalien hätten, dafür aber Handtaschen. Vielleicht aber waren die Genitalien der Frauen in ihre Handtaschen gerutscht. Jetzt saßen sie da und hielten sie fest wie etwas, das man sauer erspart hat und das einem deshalb nicht weggenommen werden durfte. Männer saßen nie so da. Auch Männer nicht, die die Handtaschen ihrer Frauen trugen.

Damals, als der Krieg gerade so lange vorbei war, daß die Menschen wieder etwas sein konnten, damals gab es Männer, die die Handtaschen ihrer Frauen trugen. Am gebogenen Henkel. Nach dem Einsteigen in die Straßenbahn gaben sie sie ihren Frauen zurück.

Handtaschen gehörten zum Sonntag; sie hatten etwas mit der katholischen Kirche zu tun wie der Schoß. Hoch über der Kanzel trug Maria einen himmelfarbenen Zeltmantel. Sie breitete den Mantel aus und umschloß die ganze Christenheit. Vermutlich war Maria die blaue Handtasche Gottes.

An manches darf sich ein Kind nicht erinnern, weil ein Kind zu seinen Eltern gehört. Deshalb weiß es vor allem, was sich nicht gehört. Bei den Dominikanerinnen in der Klosterschule wurden wir angehalten, aus weißglänzendem Bastfaden ein Operntäschchen zu häkeln. Ich war damals ungefähr neun Jahre alt und noch nie in der Oper gewesen. Ein Verschlußbügel mußte eingenäht werden, mit dem die Tasche durch einen Fingerdruck zu öffnen war. Ich fand dieses sogenannte Operntäschchen häßlich und habe es, als ich später ins Theater oder in die Oper ging, nie benutzt. Meine Mutter hat das weißglitzrige Häkelding manchmal genommen. Sie fand es reizend. Ich fand es in ihrer Hand besonders häßlich. Wenn überhaupt, habe ich damals gedacht, dann kann es ein Kind, höchstens noch eine junge Frau tragen.

Dieses Operntäschchen faltete sich auf wie Schamlippen und der Schnappverschluß saß in der Mitte wie eine verrutschte Klitoris. Damals bei den Dominikanerinnen war mir die Bildlichkeit nicht so deutlich gewesen, aber ich erinnere mich genau an ein Gefühl von Peinlichkeit, weil wir solche weißbräutlichen Täschchen häkeln mußten und mit Seidenstoff ausfüttern, so handlich klein, daß gerade ein Opernglas hineinpaßte. Niemand von uns besaß ein Opernglas.

Seit langer Zeit bin ich selbst Mutter. Meine große Tochter hat die Biographie von Marlene Dietrich, geschrieben von deren Tochter Maria Riva, wiederholt gelesen; das dicke 800seitige Taschenbuch ist ganz zerfleddert. Meine Tochter erzählt mir daraus folgende Geschichte:

Marlene Dietrich wollte den Abschluß der Dreharbeiten zu »Die scharlachrote Kaiserin« feiern, und da der Film in Rußland spielte, beschloß man, russisch essen zu gehen. Mit von der Partie waren neben der Schauspielerin und ihrem Mann, den sie seit der Geburt ihrer Tochter »Papa« nannte, auch Tami, das Kindermädchen, die zugleich die Geliebte des Mannes war, und Tochter Maria und der bunte Foxterrier. Die extravagant gekleidete Gruppe fiel im Restaurant sofort auf. Borschtsch wurde bestellt und serviert. Bald bemerkte die Tochter den nervösen Blick ihres Vaters. Zunächst meinte sie noch, er richte sich auf ihre Limonade, die immer ganz frisch sein mußte. Die Limonade war aber in Ordnung. Schließlich zischte der Vater: Wo ist das Schwarzbrot? Er hielt unbedingt darauf, weltläufig genug zu sein, um zu wissen, daß zu Borschtsch Schwarzbrot gehört. Der Oberkellner eilte herbei, entschuldigte sich und erzählte aufgeregt, die Frau des Bäckers sei bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben. Sie sei so jung gewesen, so schön. Er konnte nun nicht aufhören, blumig und voll Trauer von dem schrecklichen Tod zu sprechen, der Vater aber habe nur noch einmal nachgefragt: Und Sie servieren Borschtsch ohne Schwarzbrot? Als der Oberkellner darauf mit einem irritierten Ja antwortete, faltete der Vater die Serviette zusammen und stand wortlos auf. Daraufhin erhob sich die Restfamilie ebenfalls und verließ im Gefolge des Vaters das Restaurant. Marlene Dietrich soll diesen peinlichen Vorfall nie mehr vergessen haben. Von nun an hatte sie immer Schwarzbrot bei sich. So erfand, schloß meine Tochter, Marlene Dietrich die große Handtasche für den Abend, was die Modewelt als eine neue Exaltiertheit der Diva begeistert aufnahm. In Gesellschaft sagte die Dietrich nun öfter: Wir können ruhig russisch essen gehen, ich habe Papis Brot dabei!

Vermutlich haben die meisten Frauen in ihrer Handtasche Papis Brot dabei und was eben sonst noch wichtig genug ist, daß man es mit sich trägt. Zum Beispiel: Lippen- und Konturenstift, Zigaretten, Präservative, ein altes Flugticket zu einer großen Stadt am Meer, zwei Parker-Kugelschreiber mit feiner Mine, den Presseausweis, Aspirin plus C, Adreßbuch, Terminkalender, eine Zahnbürste, eine Ersatzunterhose, Schlüssel, Kinderzeichnungen.

Oder: Busfahrkarte und einen Kurzbusplan, handgeschriebene Telephonnummern in einem immerwährenden Kalender, ein ausgeschnittenes Backrezept für Hildabrötchen, eine Konzertkarte (von den vergangenen Ferien mit der Tochter), Photographien der Enkel, Hustenbonbons, Spalttabletten, Magentabletten zum Kauen, Papiertaschentücher und ein Erfrischungstuch, zerknitterte Zuckertütchen (von den Ferien), ein Nagelnecessaire, eine Regenhaube im Etui, das Portemonnaie, den Schlüsselbund.

Mein erster Freund hatte eine flache Tasche aus Ziegenfell zum Umhängen mit weißen und blau eingefärbten Streifen. Ich hatte so eine Tasche vorher noch nicht gesehen. Er sagte, sie sei aus der Türkei, eine frühere Freundin habe sie ihm mitgebracht. Mein erster Freund hatte einen Spitzbart und lange Haare und war ein Hippie, wie die Eltern sagten. Ich war ein braves Mädchen. Damals war die Pille ein ungeheuerliches Wort, so ungeheuerlich, daß, wenn die fünf Buchstaben auf den Zeitungstafeln der Kioske erschienen, Mutter den Schritt beschleunigte.

Mein erster Freund schlief mit schönen Mädchen, die schon Frauen waren; mit mir spielte er Gitarre. Like a bird on a wire. In seiner Tasche, die keine Handtasche, sondern eine Umhängetasche war, waren Tabak und Papierblättchen zum Drehen und ein Notizbuch, in das er Lieder und Gedichte schrieb. Er hatte immer ein Taschenbuch dabei, das Glasperlenspiel von Hermann Hesse etwa oder das Stundenbuch von Rilke. Ich fand Hesse langweilig und das Stundenbuch albern. Heimlich. In einer Anthologie aus der Stadtbibliothek wurde ich auf den Namen Jerzy Kosinski aufmerksam. Mein erster Freund, der damals schon 18 war, lieh für mich »Der bemalte Vogel« aus. Man mußte dafür unterschreiben und einen Ausweis vorlegen. Like a bird. Ich las es, ohne daß jemand mich sah. Ich weiß nicht mehr, wo ich das Buch versteckte. Wahrscheinlich in der Schultasche zwischen dem Wallenstein und der Logarithmentafel.

Ich habe in meinem Leben nie ein Verhältnis zu meinem Vater bekommen. Wir waren ein Frauenhaushalt, meine Großmutter, meine Mutter und ich, in dem der Vater als eine Art seltsamer Untermieter gehalten wurde. Meine Mutter war das einzige Kind meiner Großmutter, wie ich das einzige Kind meiner Mutter war. Meine Großmutter und meine Mutter waren das, was sie »Flüchtlinge« nannten. Was ein Flüchtling ist, wurde mir nie erklärt. Meine Mutter und meine Großmutter unterhielten sich in einer Sprache, die aus nicht hinterfragbaren Chiffren und Kürzeln bestand. Das wichtigste Wort in diesem Kosmos war: »Zuhaus«. Die Topographien hießen »Tschechei« und »Sudetenland«. Ich bin aufgewachsen im Bewußtsein, daß der Ort, an dem ich war, vieles sein konnte, aber eben nicht »Zuhaus«. In unserem Zusammenleben gab es den ständigen Bezug auf jenes »Zuhaus«, aus dem meine Mutter und meine Großmutter vertrieben worden waren. Es mußte das Schlimmste sein, begriff ich, wenn man aus einem »Zuhaus« vertrieben worden ist. Weil es ein »Zuhaus« nämlich nur einmal gibt. Sie konnten damals auch kaum etwas mitnehmen von dem »Zuhaus«. Nur das, was sie in Koffern und Taschen forttragen konnten.

Ich selbst hatte keine Bilder für Heimat oder Fremde.

Die wichtigste Tasche meiner Großmutter war ihre Hand. Sie konnte jagen und schnappen. Meine Großmutter öffnete sie behutsam, rutschte dann auf dem Handballen erst langsam und dann in ungeahnter Beschleunigung über das glatte Wachstuch des Küchentisches – und hatte die Fliege gefangen. Sie drückte nie zu. Mit der summenden Handtasche ging sie zum Fenster, wo sie abschüttelnd das Tier freiließ. Es hieß aber, »Zuhaus« habe die Großmutter Hühner geschlachtet. Und die Hühner seien dann manchmal ohne Kopf noch einen Bogen über den sandigen Hof gerannt.

Es gibt ja auch Einkaufstaschen, Manteltaschen, Jackentaschen. So verschieden sie sind, ihr Inneres ist Asche. Damit ist ihr geheimer Raum nahezu unendlich. Durchs Feuer gegangen würde sehr vieles zur Not selbst in eine kleine Handtasche passen.

Als mein Vater gestorben war, trug ein Mann, der das sprach, was meine Mutter »gebrochenes Deutsch« genannt hätte, die Urne von der Kapelle über die Friedhofswiese zum offenen Urnengrab meiner Mutter. Sollen die Glocken läuten? hatte er noch gefragt, und ich hatte ja, ein wenig, gesagt. Daraufhin hatte er auf einen Schalter an der Wand gedrückt, und als wir dann die Kapelle verließen, begann eine Glocke zu läuten.

Es war ein strahlender...

Erscheint lt. Verlag 21.5.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Essays • Reisebilder • Reportagen • Roman • Romane • Tagebuch
ISBN-10 3-641-08568-3 / 3641085683
ISBN-13 978-3-641-08568-1 / 9783641085681
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