Meistens alles sehr schnell (eBook)

Roman
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2012 | 2. Auflage
384 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40950-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meistens alles sehr schnell -  Christopher Kloeble
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Albert, Fred und fünf Finger Leben  Albert ist neunzehn, wuchs im Heim auf und kennt seine Mutter nicht. Sein Leben lang musste Albert ein Vater für seinen Vater Fred sein: Fred ist ein Kind im Rentenalter, ein schlaksiger Zweimeterriese, der nichts als Lexika liest, grüne Autos zählt und im Dorf als Held eines dramatischen Busunglücks gilt. Als sich herausstellt, dass Fred nur noch fünf Monate zu leben hat, machen sie sich auf die Suche nach Alberts Mutter. Ihre Reise wird zu einer Odyssee, die immer tiefer in die Vergangenheit führt. Albert muss herausfinden, dass die Menschen, die ihm am nächsten stehen, am meisten zu verbergen haben, und dass die Vergangenheit in der Erinnerung immer wahr ist. Es entspinnt sich eine Lebens- und Liebesgeschichte, die in einer Augustnacht 1912 im oberbayerischen Segendorf beginnt und sich durch ein ganzes Jahrhundert zieht. Ein beeindruckender, überraschender Roman um ein wundersames Dorf und zwei liebenswerte Helden. Um ihre Geschichte kennenzulernen, bleibt nicht mehr viel Zeit. Es geht ja meistens alles sehr schnell.   

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.

Papaaa


In dieser Nacht fand Albert keinen Schlaf. Er betrachtete einen fingernagelgroßen, sternförmigen Leuchtaufkleber auf dem Balken über dem Bett. Den hatte er, als er jünger war, jeden Abend so lange angesehen, bis ihm die Augen zugefallen waren; er hatte es als tröstlich empfunden, dass dieses winzige Licht für ihn leuchtete, trotzig gegen die Schwärze einer Nacht auf dem Land anleuchtete.

Aus einer Schublade im Bettkästchen entnahm er einen angegilbten Zeitungsartikel. Die zweite Aprilausgabe des Oberlandboten von 1977. Gleich auf Seite 1 begann ein Bericht von Frederick A. Driajes, den Albert als Kind oft vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Er trug den Titel:

Der Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat

An dem Tag, an dem der Bus die Haltestelle angegriffen hat, war der Regen so stark wie sonst nie. Jeder Tropfen war einzeln! Ich warte nie in dem Haus aus Holz, das man gebaut hat, damit die Leute nicht naß werden. Da drin hängt ein großes Bild von einem Clown von einem Zirkus, der Rusch heißt. Seine Augen sind schwarz und glänzen und man kann alle seine Zähne sehen. Ich warte lieber im Regen. Dafür habe ich ja meinen Poncho! Die Haltestelle von Königsdorf ist genau bei der Hauptstraße. Jeder, der durch Königsdorf fährt, fährt da vorbei. Die Autos haben alle Farben. Aber ich zähle nur die, die grün sind wie meine Augen. Einmal habe ich fast fünfzig grüne gezählt – das sind schon fast über fünfzig grüne Autos! Da ist auch noch ein Schild. Auf dem steht 479. Weiter weg steht der Glockenturm von der Kirche. Wenn es zwölfmal gongt, ist es zwölf Uhr und ich gehe nach Hause zum Mittagessen. Der 479, der um 6:30 Uhr kommt, war der Bus, der die Haltestelle angegriffen hat. Er ist aber schon um 6:15 Uhr gekommen! Der 479 ist bestimmt dreihundert Kilometer schnell gerast. Weil ich jeden Tag an der Haltestelle warte, kann ich das gut rechnen. Selbst wenn ich noch nie mit einem Bus gefahren bin. Ich werde nie mit einem Bus fahren. In einem Bus kann man tot werden.

Außer mir war da auch noch der Herr Strigl. Der Herr Strigl ist ein kleiner Mann mit Schnurrbart. Er arbeitet als Fahrlehrer. Aber er hat zu schnell gearbeitet und muß jetzt mit dem Bus fahren. Auch die Frau Winkler hat auf den Bus gewartet mit ihrem kleinen Kind. Mama sagt, die Frau Winkler ist ambrosisch. Wenn man einen ambrosischen Menschen sieht, dann ist das, wie wenn man gar nichts anderes sieht. Man kann nichts anderes sehen. Und wenn man doch etwas anderes sieht, dann sieht das wie gar nichts aus. Und dann hat auch noch ein Mann in einem Mantel auf den Bus gewartet. Mama kennt ihn nicht. Ich habe immer komische Sachen über ihn gedacht. Der Mann war wie die Spinne in meinem Zimmer. Ich stelle mir immer vor, daß sie über mein Gesicht geht, wenn ich schlafe. So war das auch mit dem Mann im Mantel. Ich habe nicht gedacht, daß er nachts über mein Gesicht geht, ich habe nur gedacht, daß er etwas macht, was ich nicht mag. Er hat nie gelächelt. Er war immer neben dem Bild von dem Clown und er hat nie geredet.

Am liebsten will ich den Punkt festhalten, bevor der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Damit es nicht weitergeht und der Bus nie kommt. Aber die Zeit ist nichts Richtiges. Die Zeit ist nicht so wie der Flitzer oder mein Lexikon. Die Zeit kann man nicht anfassen. Die Zeit kann man nicht hören. Man kann sie auch nicht riechen. Oder schmecken. Oder sehen. Nicht richtig. Eine Uhr ist ja eine Uhr und nicht die Zeit selber. Deswegen kann man die Zeit nicht festhalten. Aber ich kann sie in kleine Stücke machen. Das habe ich auch gemacht, als der Bus die Haltestelle angegriffen hat. Und wenn ich die Augen zuhabe, dann kann ich das immer wieder machen. Ich sehe dann alles, ich sehe die ganzen kleinen Stücke von der Zeit. Ich sehe den Bus, der kommt ganz langsam zu mir, auch wenn er in echt ganz schnell war, seine Räder drehen sich und seine Scheiben glänzen vom Wasser vom Regen und seine Scheinwerfer sind viel weißer als normal. Ich sehe das Bild, auf dem der Clown mit seinem Mund lacht, wie wenn er Luft schlucken will. Ich sehe, daß der Bus sich so komisch nach rechts und links bewegt. Ich sehe die Frau Winkler, die ihren Babywagen packt, aber ihn nicht schieben kann, weil, der Mann im Mantel will weglaufen und knallt gegen den Babywagen. Ich sehe den Herrn Strigl, der den Mann mit dem Mantel voll anschreit. Ich sehe viele schwarze Vögel am Himmel. Ich sehe das Kind von der Frau Winkler, das im Babywagen mit den Händen fast kleine Fäuste macht. Ich sehe den Glockenturm.

Nur am Anfang und dann nicht mehr denke ich, dass ich jemanden totmachen muß. Das ist ein Gefühl, das ist weit weg von ambrosisch. Dafür gibt es überhaupt gar kein Wort. Der Mann im Mantel schubst die Frau Winkler, damit er wegrennen kann. Der Herr Strigl faßt die Frau Winkler an und zieht sie weg. Der Bus sieht schon doppelt so groß aus wie der normale Bus und die Scheinwerfer sind hell wie eine Sonne und noch eine Sonne. Der Mann im Mantel läuft vor dem Bus weg. Hinter dem Fenster vom Bus sitzt Ludwig, mit dem hab ich schon gespielt, wie ich klein war. Der Clown auf dem Poster sieht so echt aus, wie ein häßlicher Mensch sieht er aus, und lacht und benutzt lauter Wörter, die man gar nicht benutzen darf. Auf dem Glockenturm haben sich die Zeiger noch gar nicht bewegt. Mein Mund schmeckt ganz schlecht und mein Magen tut weh. Der Herr Strigl macht ein Gesicht, das gar nicht wie er aussieht, weil die Frau Winkler nicht will, dass er sie zieht, weil sie ja zu dem Babywagen will. Der Mann im Mantel läuft in das Häuschen von der Bushaltestelle. Der Bus macht ein Geräusch, das schon fast so hoch ist, daß es nur Hunde hören können, aber ich kann es noch hören. Die Wörter, die der Clown benutzt, sind sehr schlimm, sie machen mir ein hartes Gefühl in meinem Bauch, das ich noch nie gehabt habe, und seine Augen glänzen ganz schwarz. Das Kind von der Frau Winkler hat keine Fäuste mehr, es zappelt wie eigentlich oft. Die Vögel am Himmel fliegen immer noch. Der Herr Strigl hört nicht auf, die Frau Winkler zu ziehen. Woher das kommt, weiß ich nicht, aber ich höre Mari oder Marine oder Mina. Mir ist schlecht. Die Augen von der Frau Winkler sind rot und naß vom Regen, aber vielleicht weint sie auch, und sie schlägt den Herrn Strigl, weil der sie nicht loslässt.

Ich will jetzt etwas tun, wie mein Paps, ich will nicht nichts sein, ich will der Frau Winkler und ihrem Kind und dem Herrn Strigl sagen, daß sie weglaufen müssen, und das Plakat von dem Clown will ich kaputt machen, und sogar dem Mann im Mantel will ich helfen, aber ich weiß, ich kann nur ganz wenig machen, weil, der Bus ist viel zu schnell und alles ist schon viel zu spät.

Aber ich merke, daß ich den Poncho nicht mehr anhabe, der liegt neben mir, und dann denke ich, daß ich ohne Poncho vielleicht schneller sein kann, und dann renne ich los. Der Herr Strigl will mit der Hand, mit der er die Frau Winkler nicht festhält, mein Hemd nehmen, und ich glaube, er will eigentlich nett sein. Der Clown macht Harr-Harr-Harr, er macht Harr-Harr-Harr, und das klingt wie Kater Karlo. Die schwarzen Vögel tun so, wie wenn der Bus die Haltestelle gar nicht angreift, weil, sie wollen kreisen, weil, Mama sagt, sie warten auf noch mehr Vögel. Ich schlage dem Herrn Strigl ins Gesicht, damit er die Frau Winkler losläßt, und ich spüre alle meine Finger und dabei fühle ich mich ganz kurz ambrosisch, dabei weiß ich, daß man sich sehr schlecht fühlen muß, wenn man so was macht. Die Frau Winkler wird jetzt frei und fällt auf den Boden. Das Fenster vom Bus geht kaputt und Ludwig fliegt durch, wie wenn er fliegen kann, und die vielen kleinen Glasteile glitzern schön. Die Augen von dem Herrn Strigl werden groß. Der Bus ist viel langsamer jetzt, und wo seine Räder sind, da spritzt er etwas, das sieht aus wie kleine Stückchen Feuer, aber der Bus ist immer noch viel zu schnell für ein Kind und für mich und für den Herrn Strigl und für den Mann im Mantel. Der grosse Zeiger auf dem Glockenturm bewegt sich, glaube ich, ein bißchen. Der Mann im Mantel versteckt sich in dem Haus aus Holz. Ich nehme das Kind von der Frau Winkler aus dem Babywagen und es schreit so, daß mir die Ohren wehtun, und es fühlt sich an wie ein kleiner Hund und ich wünsche mir, ich wünsche mir, daß mein Paps hier ist und mir hilft und uns wegträgt. Es ist sehr schwer, nicht nichts zu sein. Ludwig fliegt gegen das Rohr an dem Häuschen von der Haltestelle, wo das Wasser vom Dach durchgeht, und die vielen kleinen Glasteile vom Fenster vom Bus, das es jetzt nicht mehr gibt, sehen aus wie Hagel. Der Herr Strigl steht nur da und schaut zum Bus und sieht aus wie ein Baum, der nicht weiß, was passiert, wenn der Bus ihn trifft. Harr-Harr-Harr, macht der Clown. Ich schreie zu dem Herrn Strigl, er soll weggehen, aber er bleibt stehen, wie wenn jemand das mit ihm gemacht hat, was Menschen in der Wüste mit Schlangen machen. Die Frau Winkler, die am Boden liegt, streckt ihre Arme nach mir aus. Der Mann im Mantel ist in einer Ecke von dem Haus aus Holz und ich schreie zu ihm, daß er weggehen soll, Mann im Mantel, schreie ich, geh weg, schreie ich, der Bus kommt, aber der Mann im Mantel macht nichts. Der große Zeiger am Glockenturm bewegt sich jetzt. Ludwig fällt neben dem Häuschen von der Haltestelle auf den Boden und sein Hals sieht so rot aus wie echtes Blut, aber sein Mund ist ein großes Lächeln.

Ich fühle mich, wie wenn ich keine Kraft mehr habe, und ich stelle mir vor, daß nicht ich in mir drin bin, nein, mein Paps ist in mir drin, und er hat mit den vielen...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Albert • Außenseiter • Bayern • Elternmord • Familiengeschichte • Fred • Fremdenhass • Geistige Behinderung • Heimatroman • Inzest • Inzucht • Lebensgeschichte • Liebesgeschichte • Literatur • Muttersuche • Nationalsozialismus • Reise • Segendorf • Vater-Sohn-Beziehung • Waisenhaus
ISBN-10 3-423-40950-9 / 3423409509
ISBN-13 978-3-423-40950-6 / 9783423409506
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