Heimkehr in die Rothschildallee (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
296 Seiten
LangenMüller (Verlag)
978-3-7844-8110-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heimkehr in die Rothschildallee -  Stefanie Zweig
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Dieses Buch lässt niemanden unberührt. In letzter Minute wird die zehnjährige Fanny von der mutigen Anna vor der Deportation gerettet. Ihre Großmutter Betsy überlebt Theresienstadt, verliert Mann, Tochter und Enkelsohn und stellt sich doch dem Leben - zwei Wunder aus einer Zeit, in der Tragödie und Hoffnung so dicht beieinanderstanden wie nie zuvor. Der dritte Teil der Familienchronik schildert, wie es jenen Mitgliedern der Familie Sternberg erging, die den Mördern entkommen konnten und nun in der ganzen Welt verstreut sind. Er ist auch eine Hommage an die Frauen Deutschlands, die in den Ruinen vor den Trümmern des Lebens standen und die doch nicht aufgaben.

2
BEDROHUNG UND ERLÖSUNG


März bis April 1944

»Schlimmer kann es weiß Gott nicht mehr kommen«, sagte die noch im fünften Kriegsjahr wohlgenährte Frau Schmand. Sie zeigte mit ihrer Stricknadel in Richtung Kellerdecke, zählte namentlich die Mitbewohner auf, die mit ihr zwischen Kartoffelkisten, Kohlen, Weckgläsern und ausrangierten Decken auf Schemeln, Küchenstühlen und Matratzen hockten, und betonte: »Schlimmer wahrhaftig nicht.« Allerdings lagen zwei Knäuel dunkelblauer Wolle in Frau Schmands Schoß, und die waren ein eindeutiger Hinweis dafür, dass sie mit einem Luftangriff von längerer Dauer rechnete. Um an so schöne Wolle in Vorkriegsqualität zu kommen, hatte sie einen Pullover ihres jüngsten Sohns auftrennen müssen. Hans-Dieter war vor zehn Monaten in Russland gefallen. Nun strickte Frau Schmand warme Socken für ihren Ältesten. Obwohl von Eberhardt, dem fleißigen und mitteilsamen Briefeschreiber, seit vier Monaten keine Nachricht mehr eingetroffen war, glaubte die Mutter ihn wohlauf an der Ostfront. Kleingläubigkeit wäre für sie Verrat an der deutschen Sache gewesen. Sie versäumte keine Gelegenheit, ihrem Lebensmotto zu dienen. In der NS-Frauenschaft und auch in der Gemeinschaft ihrer Kirchenschwestern, zu denen sie weiter Kontakt hielt, wenn auch einen sehr losen, galten ihr Optimismus und ihre Energie als vorbildlich und beispielhaft für die Gemeinschaft. Auch ihr Mann fand es aufbauend, dass seine Gudrun selbst zu Hause, wo sie keiner hörte, nie am glücklichen Ausgang des Kriegs zweifelte.

Die baumstarke Gudrun Schmand mit dem dicht geflochtenen Zopf um den Kopf und einer Vorliebe für Trachtenblusen war die Frau des Blockwarts im Haus Thüringer Straße 11; bei Luftalarm ging sie grundsätzlich mit fünf Scheiben Brot, einem Gläschen Schweineschmalz, Paketschnur, einem kleinen Küchenmesser und Strickzeug in den Luftschutzkeller.

Hinter den eingeweckten grünen Bohnen, die Frau Schmand für Eberhardts Rückkehr von der Ostfront aufbewahrte, denn sie hatte ihm Bohnensuppe mit Speck für den ersten Tag in der Heimat versprochen, hatte sie einen kleinen Schreibblock und einen Bleistiftstumpf deponiert. Es war Frau Schmand viel daran gelegen, Äußerungen von Mietern, die ihr defätistisch und somit staatsgefährdend erschienen, umgehend zu notieren. »Belastende Bemerkungen müssen sofort aufgeschrieben werden, auf das Gedächtnis ist kein Verlass«, hatte sie von ihrem Mann Willibald gelernt. Er war im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden, auf dem linken Ohr taub und hatte nur zwei Finger an der rechten Hand. Seine Pflicht für Führer und Vaterland vermochte er also nur an der Heimatfront zu tun, aber dort stand er seinen Mann wie ein germanischer Recke. Willibald Schmand war ein aufmerksamer, zuverlässiger und harter Streiter für die deutsche Sache. Seine Frau folgte seinem Beispiel.

Bis Kriegsausbruch war sie Verkäuferin in einem renommierten Hutgeschäft in der Töngesgasse gewesen. Die Chefin, die wählerischen Herren, die in den Laden kamen, und die eleganten Damen schätzten ihre Hilfsbereitschaft und ihren Geschmack. Das Leben an der Seite eines Mannes, der lange Zeit arbeitslos gewesen war und dem die Nazis nicht nur zu einer Stellung bei der Frankfurter Stadtverwaltung, sondern auch zu neuem Stolz und Selbstbewusstsein verholfen hatten, hatte auch Gudrun Schmand verändert. Schon in den frühen Dreißigern wurde sie eine loyale Dienerin des Führers. Im Krieg und selbst dann, als die alliierten Bomber Nacht für Nacht über Deutschland flogen und auch Frankfurt eine Geisterstadt war, glaubte sie fest an Hitlers Wunderwaffe. Sie berauschte sich am Gedanken, Frauen wie sie wären dazu berufen, die Fackel hochzuhalten.

Im Jahr 1937 hatten die Behörden dem Ehepaar Schmand und seinen beiden Söhnen eine Wohnung im Parterre des Mietshauses Thüringer Straße 11 zugeteilt. Ursprünglich hatte dort die jüdische Familie Wolfsohn gewohnt, die buchstäblich über Nacht Wohnung und Heimat hatte verlassen müssen. Frau Schmand benutzte das schöne Rosenthalservice, das den Wolfsohns gehört hatte, und deren Tafelsilber nur an Festtagen. Das kostbare Biedermeierbüfett rieb sie regelmäßig mit Möbelpolitur ein. Die vielen Bücher hatte sie einer Buchhandlung überlassen, die Bilder einem Antiquar, der sich äußerst erfreut gezeigt hatte. Willibald Schmand wurde unmittelbar nach seinem Einzug in die Thüringer Straße 11 zum Blockwart. Im fünften Kriegsjahr erzählten sich die Hausbewohner hinter vorgehaltener Hand, er würde selbst sechsjährige Kinder belauschen und sie ausfragen, wo »die liebe Mami ohne Marken einkaufe«. Es hieß auch, Schmand summe den Kleinen das verräterische »Ta Ta Ta Taaa« vor, um herauszubekommen, ob sie das Kopfmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie kannten – die Erkennungsmelodie vom deutschsprachigen Programm der BBC. Der Sender aus London galt als einzig verlässliche Quelle für Nachrichten über den Kriegsverlauf. Auf das Abhören von BBC und anderen »Feindsendern« standen hohe Haftstrafen. Auch von Todesurteilen war die Rede.

Es war indes noch mehr Frau Schmand als ihr gefürchteter Ehemann, die ständig auf der Lauer lag, um Hausbewohner und Nachbarn bei verbotenem Tun und verdächtigem Verhalten zu erwischen. Drei Frauen, zwei aus dem eigenen Haus und eine Kriegswitwe mit siebenjährigen Zwillingen, die sie wochenlang beim Lebensmittelhändler bespitzelt hatte, hatte sie bereits angezeigt – zu ihrem Zorn ohne die erwarteten Folgen. Zum Glück witterte die aufmerksame Frau Gudrun jedoch zu keinem Zeitpunkt, dass die Geschichte des Mädchens Fanny, das immer so brav im Hausflur vor ihr knickste, ein Meisterwerk der Tarnung war.

Noch an dem Schicksalssonntag vor drei Jahren, als Anna sie vor der Großmarkthalle aus dem Deportationszug gerissen hatte, hatten Hans und Anna das Kind zum Hausmeisterehepaar Schmand geführt. Sie erzählten, Fanny hätte bei einem Attentat in Prag beide Eltern verloren, hätte vier Wochen in einem Krankenhaus gelegen und wäre nun durch die Vermittlung einer Krankenschwester, mit der Hans entfernt verwandt sei, zu ihnen gekommen. Von der Schule sei die Kleine so lange zurückgestellt, bis sie ihren Schock überwunden habe.

Hans und Anna, deren Mut, Opferbereitschaft und Liebe Fanny ihr Leben verdankte, trauten sich nicht, ein Kind, das ohne Identifikationspapiere war, polizeilich anzumelden. An Schule war gar nicht zu denken. »Je weniger man von Fanny sieht, umso sicherer sind wir alle«, sagte Hans.

Den Gedanken, dass es auf lange Zeit im Hause Dietz keine Sicherheit mehr geben würde, sprach er nie aus. Staunend erlebten Hans und Anna jedoch, dass die Ruhe wieder in ihr Leben zurückkehrte. »Einer von uns scheint eine direkte Verbindung zum Himmel zu haben«, sagte Hans, und obwohl er seiner Lebtag kein Vertrauen zum Himmel gehabt hatte, meinte er, was er sagte.

»Alle drei«, erwiderte Anna. »Mit einem einzigen Schutzengel kommen Leute wie wir nicht mehr aus.«

Im Haus kam keiner der Mieter je auf das Prager Attentat zu sprechen. Tratschten die Nachbarn im Hausflur oder tauschten sie an der Hecke vom Vorgarten Vertraulichkeiten aus, waren sie sich einig, dass das schweigsame Kind, das die Familie Dietz aufgenommen hatte und das so »schäbig angezogen war, dass es selbst in Kriegszeiten einen Hund jammert«, immer ängstlich und verschüchtert wirkte und nach seinen furchtbaren Erlebnissen geschont werden sollte.

In den langen Nächten im Luftschutzkeller rührte Fanny Alt und Jung, Mann und Frau. Das »Prager Wurm«, wie man sie nun nannte, wenn Anna und Hans nicht in Hörweite waren, kümmerte sich liebevoll wie eine Mutter um die kleinen Dietz-Kinder. Sie schaukelte sie in den Schlaf, sang ihnen vor und erzählte ihnen Geschichten, die sie nicht verstanden. Wenn der Keller bebte, der Lärm infernalisch war und die Angst alles Leben erstickte, blieb Fanny ruhig. Das Schlimmste, was ein Kind erleben kann, war ihr ja schon widerfahren. Bei Tag verließ sie nie die Wohnung. Wenn sie allein zu Hause war, hatte sie Befehl, nicht die Tür zu öffnen, und sie hielt sich an die Losung. »Wie bei den sieben Geißlein«, sagte sie immer.

Zu ihrer Freude pflegte Anna meistens zu erwidern: »Du bist genau wie dein Onkel Erwin. Der hat sich auch nie den Mut nehmen lassen. Von niemandem. Bis zum Schluss. Ich hab ihn immer bewundert.« Allein Erwins Namen zu hören und dass es im fernen Palästina einen Onkel gab, der zu ihr gehörte und vielleicht auch an sie dachte, tat ihr gut.

Blockwart Schmand und Frau Gudrun, die es für ihre vaterländische Pflicht hielten, Menschen zu bespitzeln und sie zu denunzieren, hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie unter einem Dach mit einem jüdischen Kind wohnten, das die Ehefrau eines Kommunisten vor dem Tod errettet hatte. Allerdings war für die Schmands ein wohlerzogenes Waisenkind mit rötlich schimmernden Haaren und leuchtenden grünen Augen auch nicht das klassische Beispiel für die »Untermenschen«, die zum Wohl des deutschen Volks »ausgerottet« werden sollten. Ab und an geschah es gar, dass Frau Schmand im Luftschutzkeller der kleinen Sophie und auch Fanny ein halbes Schmalzbrot hinschob. In der Weihnachtszeit erwachte bei ihr der Kleinmädchenglaube zu neuem Leben, dass Gott die guten Taten belohnte. Am ersten Adventssonntag schenkte sie Anna jedes Jahr einen kleinen Kopf Weißkohl vom Bauernhof ihrer Schwester aus dem Odenwald.

»Ich hätte ihr den verdammten Kohlkopf am liebsten an den Schädel geworfen«, fluchte Anna Jahr für Jahr im Schutz der eigenen vier Wände.

»Stolz können wir uns erst nach dem Krieg leisten, meine Liebe.«

»Ich kann mir das überhaupt nicht mehr vorstellen«, sagte Fanny, »wie es ist, stolz zu sein und keine Angst zu...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7844-8110-8 / 3784481108
ISBN-13 978-3-7844-8110-4 / 9783784481104
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