Blaue Stunden (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
208 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0223-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blaue Stunden -  Joan Didion
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei.' In Blaue Stunden erinnert Joan Didion sich an ihre Tochter Quintana, daran,wie es war, sie aufwachsen zu sehen und Abschied zu nehmen, als Quintana mit nur 39 Jahren starb. Eine sehr persönliche Bilanz der großen amerikanischen Autorin und ein ehrliches Buch über Tod und Vergänglichkeit, Erinnerung und Alter, über das, was wir verlieren, und das, was bleibt.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene  amerikanische Zeitungen und war u. a. Redakteurin der Vogue. Sie hat fünf Romane und zahlreiche  Sachbücher veröffentlicht, darunter Das Jahr magischen Denkens. Joan Didion lebt in New York City.

2.

26. Juli 2010

Heute wäre ihr Hochzeitstag gewesen.

Heute vor sieben Jahren nahmen wir die Leis, hawai­ianische Blumenketten, aus den Kartons des Floristen und schüttelten das Wasser, in dem sie gelegen hatten, heraus auf das Gras vor der Kathedrale St. John the ­Divine an der Amsterdam Avenue. Der weiße Pfau ­fächerte sein Rad auf. Die Orgel spielte. Sie flocht weiße Stephanotis in den dicken Zopf, der über ihren Rücken fiel. Sie zog einen Tüllschleier vor das Gesicht, und die Stephanotis löste sich und fiel herunter. Die Plumeriablüte, die unter ihrer Schulter tätowiert war, war durch den Tüll zu sehen. »Lass es uns tun«, flüsterte sie. Die kleinen Mädchen tänzelten mit Leis und in blassen Kleidern durch den Mittelgang und liefen hinter ihr her zum Hochaltar. Nachdem die Worte gesprochen waren, folgten ihr die kleinen Mädchen durch das Eingangsportal der Kathedrale nach draußen und – an den Pfauen vorbei (zwei blau und grün schillernde Pfaue, ein weißer Pfau) – zum Pfarrgebäude. Es gab Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse, eine pfirsichfarbene Torte von Payard, roséfarbenen Champagner.

Ihre Wünsche, alles.

Sentimentale Wünsche, Dinge, an die sie sich erinnerte.

Ich erinnerte mich auch daran.

Als sie sagte, sie wolle Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse zu ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie Platten mit Gurken- und Brunnenkresse­sandwiches auf den Tischen verteilt hatte, die wir zum Lunch an ihrem sechzehnten Geburtstag rings um den Pool aufgebaut hatten. Als sie sagte, sie wolle Leis anstelle von Blumenbouquets auf ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie mit drei oder vier oder fünf auf dem Flughafen von Bradley Field in Hartford aus einem Flugzeug stieg und Leis trug, die man ihr beim Abflug in Honolulu eine Nacht zuvor gegeben hatte. An jenem Morgen herrschten in Connecticut minus sechs Grad, und sie hatte keinen Mantel (sie hatte keinen Mantel getragen, als wir von Los Angeles nach Honolulu geflogen waren, wir hatten nicht damit gerechnet, nach Hartford weiterzureisen), aber sie hatte kein Problem darin gesehen. Kinder mit Leis tragen keine Mäntel, erklärte sie mir.

Sentimentale Wünsche.

Am Tag der Hochzeit erfüllten sich alle ihre sentimentalen Wünsche außer einem: Sie hatte gewollt, dass die kleinen Mädchen barfuß in die Kathedrale gingen (Erinnerung an Malibu, sie war immer barfuß gewesen in Malibu, sie hatte immer Splitter in den Füßen gehabt von den Holzbohlen des Piers, Splitter vom Holz und Teer vom Strand und Jod für die Schrammen von den Nägeln in den Treppen dazwischen), aber die kleinen Mädchen hatten für diesen Anlass neue Schuhe und wollten sie tragen.

Mr und Mrs John Gregory Dunne geben sich die Ehre, Sie herzlich einzuladen
Zur Hochzeit ihrer Tochter Quintana Roo –
Mit Mr Gerald Brian Michael
Am Samstag, den sechsundzwanzigsten Juli,
vierzehn Uhr –

Die Stephanotis.

War das auch ein sentimentaler Wunsch?

Erinnerte sie sich an die Stephanotis?

Wollte sie sie deshalb, hat sie sie deshalb in ihren Zopf geflochten?

Im Haus in Brentwood Park, in dem wir von 1978 bis 1988 lebten und das von so auffallender Durchschnittlichkeit war (zwei Etagen, die Diele mit Treppe im amerikanischen Kolonialstil, Fensterläden an den Fenstern und ein Wohnzimmer neben jedem Schlafzimmer), dass es in situ schon beinahe idiosynkratisch wirkte (»euer Einfamilienhaus in Brentwood« sagte sie dazu, als wir es kauften, eine Zwölfjährige, die feststellte, dass es nicht ihre Entscheidung war, nicht ihr Geschmack, ein Kind, das den Abstand beanspruchte, den Kinder sich ein­bilden zu brauchen), gab es Stephanotis, die vor den Terrassentüren wuchsen. Ich streifte die wächsernen Blumen, wenn ich in den Garten hinausging. Vor den Terrassentüren gab es auch Lavendelbeete und Minze, ein Gewirr von Minze, die ein tropfender Wasserhahn hatte üppig werden lassen. Wir zogen in jenem Sommer in dieses Haus, in dem sie in die siebte Klasse der damaligen Westlake-Mädchenschule in Holmby Hills kam. Als wäre es gestern ge­wesen. Wir zogen in jenem Jahr aus, in dem sie ihren Abschluss am Barnard ­College machte. Als wäre es gestern gewesen. Die ­Stephanotis und die Minze waren zu diesem Zeitpunkt eingegangen, vernichtet, nachdem der Mann, der das Haus kaufen wollte, darauf bestanden hatte, dass wir es von Termiten befreiten und es entwesten, indem wir Sulfurylfluorid und Chloropicrin hineinpumpten. Als der Käufer für das Haus geboten hatte, hatte er uns, ­offenbar um den Vertrag zu besiegeln, über den Makler mitteilen lassen, dass er das Haus haben wollte, weil er sich seine Tochter im Garten bei ihrer Hochzeit vorstellen konnte. Das war einige Wochen bevor er von uns verlangte, das Sulfurylfluorid hineinzupumpen, das die Stephanotis und die Minze vernichtete und auch die ­rosafarbene Magnolie, die die Zwölfjährige, die sich so beflissen von unserem Einfamilienhaus in Brentwood distanzierte, vom Fenster ihres Zimmers im zweiten Stock aus hatte sehen können. Die Termiten, da war ich ziemlich sicher, würden wiederkommen. Die rosafarbene Magnolie, auch da war ich ziemlich sicher, nicht.

Wir verkauften und zogen nach New York.

Wo ich schon einmal gelebt hatte, von meinem ­einundzwanzigsten Lebensjahr, als ich gerade mein Studium an der Englischen Fakultät in Berkeley beendet und damit begonnen hatte, bei der Vogue zu arbeiten (ein so grundlegend unnatürlicher Wechsel, dass mir, als die Personalabteilung bei Condé Nast mich ­darum bat, die Sprachen zu nennen, die ich fließend beherrschte, nur Mittelenglisch einfiel), bis ich neunundzwanzig war und frisch verheiratet.

Wo ich seit 1988 wieder lebe.

Warum sage ich dann, einen Großteil dieser Zeit hätte ich in Kalifornien verbracht?

Warum hatte ich dann ein so deutliches Gefühl von Verrat, als ich meinen kalifornischen Führerschein gegen einen New Yorker eintauschte? War das nicht eine ziemlich einfache Handlung? Dein Geburtstag steht an, dein Führerschein muss erneuert werden, was spielt es für eine Rolle, wo du ihn erneuerst? Was spielt es für eine Rolle, dass du diese eine County-Nummer auf ­deinem Führerschein hattest, seit er dir zum ersten Mal im Alter von fünfzehneinhalb vom Staat Kalifornien ausgestellt wurde? War da nicht sowieso schon immer ein Fehler auf diesem Führerschein gewesen? Ein Fehler, der dir bekannt war? Hatte dieser Führerschein nicht behauptet, du seiest eins achtundfünfzig? Obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls (die maximale Größe, die jemals erreichte Größe, die Größe, bevor du anderthalb Zentimeter ans Alter verloren hast), obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls eins fünfundfünzig Komma fünf groß bist?

Warum war dieser Führerschein so wichtig?

Worum ging es da?

Machte mir das Abgeben des kalifornischen Führerscheins klar, dass ich nie wieder fünfzehneinhalb sein würde?

Wollte ich das sein?

Oder war die Sache mit dem Führerschein nur ein weiterer Fall von »offensichtlicher Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses«?

Ich setze »offensichtliche Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses« in Anführungszeichen, weil das nicht meine Formulierung ist.

Karl Menninger verwendet sie in Man Against ­Himself, um die Neigung zur Überreaktion auf Umstände zu beschreiben, die normal, sogar vorhersagbar erscheinen mögen: eine Neigung, die, wie Menninger sagt, unter suizidgefährdeten Menschen häufig vorkommt. Er zitiert die junge Frau, die depressiv wird und sich umbringt, nachdem sie sich die Haare abgeschnitten hat. Er erwähnt den Mann, der sich umbringt, weil ihm geraten wurde, mit dem Golfspiel aufzuhören, das Kind, das Selbstmord begeht, weil sein Kanarienvogel starb, die Frau, die sich umbringt, nachdem sie zwei Züge verpasst hat.

Beachten Sie: nicht einen Zug; zwei Züge.

Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen.

Überlegen Sie, welche besonderen Umstände nötig sind, bevor diese Frau alles aufgibt.

»In diesen Fällen«, berichtet uns Dr. Menninger, »hatten die Haare, das Golfspiel und der Kanarienvogel eine so übertriebene Bedeutung, dass in dem Moment, in dem sie verlorengingen, oder in dem es die bloße Gefahr gab, sie könnten verlorengehen, der Rückstoß durchtrennter emotionaler Bindungen tödlich war.«

Ja, zweifellos, kein Einwand.

»Die Haare, das Golfspiel und der Kanarienvogel« hatten jeweils eine übertriebene Bedeutung bekommen (wie vermutlich der zweite der beiden verpassten Züge), aber warum? Auch Dr. Menninger stellt sich diese Frage, allerdings nur rhetorisch: »Aber wozu sollte es solche überspannten, übertriebenen Bewertungen und falschen Beurteilungen geben?« Glaubte er, diese Frage einfach dadurch beantworten zu können, dass er sie stellte? Dachte er, dass er nichts weiter tun musste, als die Frage zu formulieren, und sich dann in eine Wolke von theoretischen Referenzen zur Psychoanalyse zurückziehen könnte? Sollte ich den Umtausch meines kalifornischen Führerscheins in einen aus New York ernsthaft als eine Erfahrung ausgelegt haben, die »durchtrennte emotionale Bindungen« mit sich brachte?

Betrachtete ich das ernsthaft als einen Verlust?

Betrachtete ich das wirklich als Trennung?

Und bevor wir das...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2012
Übersetzer Antje Rávik Strubel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Annabelle Dunne • Autobiografie • Céline • Dokumentation • Erinnerung • Griffin Dunne • Krankheit • Literatur • Memoiren • Mutterschaft • Netflix • New York • The Center Will Not Hold • Tod • Trauer • USA • Vanessa Redgrave • Vereinigte Staaten von Amerika • Vergänglichkeit
ISBN-10 3-8437-0223-3 / 3843702233
ISBN-13 978-3-8437-0223-2 / 9783843702232
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99