Der Zitronentisch (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30539-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Zitronentisch -  Julian Barnes
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»Erzählungen von großer Meisterschaft, mit Witz, mit Tempo, mit Frechheit« Elke Heidenreich Julian Barnes wird immer wieder gepriesen für seine stilistische Brillanz, für die scharfe Beobachtungsgabe, die Ironie und den oft schwarzen Humor. Der Erzählungsband mit dem geheimnisvollen Titel Der Zitronentisch zeigt Julian Barnes in seiner ganzen Meisterschaft. Jede Erzählung steht für sich, doch sind alle durch das Thema miteinander verbunden - das Altern. Ob die Erzählungen nun im 19. Jahrhundert oder in unserer Zeit spielen, die Menschen nähern sich dem Ende ihres Lebens, dem Ende, das sich in besonderen Erfahrungen und oft irrwitzigen Situationen ankündigt. Sie gehen damit gelassen um oder aufbegehrend, resigniert oder bitter. Die Zitrone, erfährt der Leser in der letzten Erzählung Stille, ist für die Chinesen das Symbol des Todes. In dieser Erzählung über den ausgebrannten Komponisten Sibelius treffen sich die alten Männer an einem (nicht Stamm-, sondern) Zitronentisch, um über ihr Ende zu sprechen: »Kopf hoch! Der Tod ist nicht mehr fern.« Julian Barnes erhielt 2004 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Der Preis wurde im August 2005 verliehen.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London. Gertraude Krueger, geboren 1949, lebt als freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Valerie Wilson Wesley, Jhumpa Lahiri und E.L. Doctorow.

Eine kurze Geschichte des Haareschneidens


1


Das erste Mal, nach dem Umzug, war seine Mutter mitgekommen. Wahrscheinlich wollte sie sich den Haarschneider näher ansehen. Als ob der Satz »hinten und an den Seiten kurz, oben etwas ab« hier in diesem neuen Vorort eine andere Bedeutung haben könnte. Er bezweifelte das. Alles andere war offenbar gleich geblieben: der Folterstuhl, der Krankenhausgeruch, der Streichriemen und das zusammengeklappte Rasiermesser – nicht zum Schutz zusammengeklappt, sondern als Drohung. Vor allem war der Foltermeister gleich geblieben, ein Irrer mit riesigen Händen, der dir den Kopf runterdrückte, bis es dir schier die Luftröhre zerriss, der dir mit seinen Bambusfingern ins Ohr stach. »Generalinspektion, gnä’ Frau?«, sagte er schleimig, als er fertig war. Die Mutter schüttelte die Nachwirkungen ihrer Illustrierten ab und stand auf. »Sehr nett«, sagte sie geistesabwesend, wobei sie sich über ihn beugte und nach irgendeinem Zeug roch. »Nächstes Mal schick ich ihn allein her.« Draußen hatte sie ihm über die Wange gestrichen, ihn mit leerem Blick angesehen und gemurmelt: »Du armes geschorenes Lämmchen.«

Jetzt war er auf sich allein gestellt. Während er an dem Maklerbüro, dem Sportgeschäft und dem Fachwerkhaus mit der Bank vorbeiging, übte er den Spruch: »Hinten und an den Seiten kurz oben etwas ab.« Er sagte das eindringlich, ohne Komma; man musste die Worte unbedingt richtig aussprechen, wie bei einem Gebet. In seiner Tasche steckte ein Schilling und Threepence; er stopfte das Taschentuch fester hinein, damit die Münzen nicht herausfielen. Er mochte es nicht, wenn er keine Angst haben durfte. Beim Zahnarzt war das einfacher: Da ging die Mutter immer mit, der Zahnarzt tat einem immer weh, aber hinterher gab es ein Bonbon, weil man so tapfer gewesen war, und wenn man ins Wartezimmer zurückkam, spielte man vor den anderen Patienten den starken Mann. Man war der Stolz seiner Eltern. »An der Front gewesen, Kamerad?«, sagte sein Vater dann. Schmerzen öffneten den Zugang zur Welt der Erwachsenenausdrücke. Der Zahnarzt sagte immer: »Richte deinem Vater aus, du bist kriegsverwendungsfähig. Der versteht das schon.« Also ging er nach Hause, sein Dad fragte: »An der Front gewesen, Kamerad?«, und er antwortete: »Mister Gordon sagt, ich bin kriegsverwendungsfähig.«

Fast kam er sich wichtig vor, als beim Hineingehen die Tür so erwachsen gegen seine Hand federte. Doch der Haarschneider nickte nur, deutete mit dem Kamm auf die Reihe hochlehniger Stühle und nahm wieder seine geduckt-stehende Haltung über einem weißhaarigen Alten ein. Gregory setzte sich. Sein Stuhl knarrte. Gregory musste jetzt schon aufs Klo. Neben ihm stand ein Behälter mit Illustrierten, den er nicht zu erkunden wagte. Er guckte starr auf die Hamsternester von Haaren auf dem Fußboden.

Als er an der Reihe war, schob der Haarschneider ein dickes Gummikissen auf den Sitz. Das wirkte wie eine Beleidigung: Er trug schon seit zehneinhalb Monaten lange Hosen. Aber das war typisch: Du konntest nie sicher sein, welche Regeln hier galten, konntest nie sicher sein, ob alle so gefoltert wurden oder nur du. So wie jetzt: Der Haarschneider wollte ihn mit dem Umhang erdrosseln. Er zog ihn stramm um Gregorys Hals und steckte ihm dann noch ein Tuch in den Kragen. »Was können wir denn für Sie tun, junger Mann?« Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass eine so niederträchtige und hinterlistige Assel, wie Gregory es offenbar war, sich aus den verschiedensten Gründen in seinen Laden verirrt haben könnte.

Nach kurzem Schweigen sagte Gregory: »Einmal Haare schneiden, bitte.«

»Da bist du hier richtig, würde ich sagen, meinst du nicht auch?« Der Haarschneider tippte ihm mit dem Kamm auf den Kopf; nicht schmerzhaft, aber auch nicht leicht.

»Hinten-und-an-den-Seiten-kurz-oben-etwas-ab-bitte.«

»Allmählich kommen wir auf Trab«, sagte der Haarschneider.

Knaben nahmen sie nur zu bestimmten Zeiten in der Woche dran. Auf einem Schild stand SAMSTAGVORMITTAGS KEINE KNABEN. Samstagnachmittag war sowieso geschlossen, also hätte da genauso gut stehen können SAMSTAGS KEINE KNABEN. Knaben mussten dann kommen, wenn Männer nicht wollten. Jedenfalls keine Männer, die arbeiteten. Er ging dann, wenn die anderen Kunden Rentner waren. Es gab drei Haarschneider, alle mittleren Alters, in weißen Kitteln, die abwechselnd Jugend und Alter bedienten. Sie katzbuckelten vor den sich ständig räuspernden alten Knackern, führten rätselhafte Gespräche mit ihnen, spielten sich auf, als legten sie Wert auf diese Kundschaft. Die alten Knacker trugen auch im Sommer Mantel und Schal und gaben beim Hinausgehen ein Trinkgeld. Gregory beobachtete diese Transaktion aus dem Augenwinkel heraus. Ein Mann gab einem anderen Geld, ein verstohlener halber Händedruck, bei dem beide so taten, als wäre die Übergabe nicht geschehen.

Knaben gaben kein Trinkgeld. Vielleicht war das der Grund, warum Haarschneider Knaben hassten. Sie bezahlten weniger, und sie gaben kein Trinkgeld. Außerdem hielten sie nicht still. In Wirklichkeit sagten ihre Mütter, sie sollten stillhalten, sie hielten still, aber das hinderte den Haarschneider nicht daran, ihnen mit einer Handfläche, so hart wie die Flachseite eines Beils, auf den Kopf zu schlagen und zu murmeln: »Stillhalten.« Man hörte Geschichten von Knaben, denen die Ohrläppchen abgesäbelt worden waren, weil sie nicht stillgehalten hatten. Bei dem Wort Halsabschneider musste Gregory immer an Rasiermesser denken. Alle Friseure waren Irre.

»Wölfling, ja?« Es dauerte eine Weile, bis Gregory begriff, dass er angesprochen war. Dann wusste er nicht, ob er den Kopf unten lassen oder hochschauen und den Friseur im Spiegel ansehen sollte. Schließlich ließ er den Kopf unten und sagte: »Nein.«

»Schon Pfadfinder?«

»Nein.«

»Kreuzfahrer?«

Gregory wusste nicht, was das war. Er wollte den Kopf heben, aber der Haarschneider klopfte ihm mit dem Kamm auf den Schädel. »Stillhalten, hab ich gesagt.« Gregory fürchtete sich so vor diesem Irren, dass er nicht antworten konnte, was der Haarschneider als Verneinung auffasste. »Prachtvolle Organisation, die Kreuzfahrer. Denk mal drüber nach.«

Gregory dachte, da wird man von den Krummschwertern der Sarazenen zerstückelt, mitten in der Wüste an einen Pfahl gebunden und bei lebendigem Leib von Ameisen und Geiern aufgefressen. Doch erst einmal ließ er die kalte Glätte der Schere über sich ergehen – sie war immer kalt, auch wenn sie gar nicht kalt war. Mit fest geschlossenen Augen ertrug er die kitzlige Folter von Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Er saß immer noch da ohne hinzuschauen und fest überzeugt, dass der Haarschneider schon längst hätte aufhören sollen, aber so ein Irrer wie der würde wahrscheinlich ewig weiterschnippeln, bis Gregory eine Glatze hatte. Nun kam noch das Abziehen des Rasiermessers, was bedeutete, dass gleich der Halsabschneider eingesetzt würde; das trockene Kratzen der Klinge an den Ohren und im Nacken; der Fliegenwedel, der ihm in Augen und Nase fuhr, um die Haare herauszuwischen.

Das machte jedes Mal Angst. Es gab aber noch Gruseligeres hier. Er hatte den Verdacht, dass das unanständig war. Alles, was man nicht verstand oder nicht verstehen sollte, war in der Regel unanständig. So wie die Barbierstange. Die war eindeutig unanständig. In dem früheren Salon hatte es nur einen alten angemalten Holzpflock mit farbigen Streifen gegeben. Hier war die Stange elektrisch betrieben und drehte sich ständig wirbelnd im Kreis herum. Das ist noch unanständiger, dachte er. Dann war da dieser Behälter mit Illustrierten. Von denen waren bestimmt auch einige unanständig. Alles war unanständig, wenn man es dazu machen wollte. Das war die große Wahrheit des Lebens, die er gerade entdeckt hatte. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Gregory mochte unanständige Sachen.

Ohne den Kopf zu bewegen, betrachtete er im Nachbarspiegel einen Rentner zwei Stühle weiter. Der hatte die ganze Zeit mit so einer lauten Stimme gerattert, wie alte Knacker sie immer hatten. Nun beugte sich der Haarschneider mit einer kleinen Kugelspitzenschere über ihn und schnitt ihm Haare aus den Augenbrauen. Dann machte er dasselbe mit den Nasenlöchern, dann den Ohren. Schnippelte ihm große Sprossen aus den Lauschern. Absolut ekelhaft. Zum Schluss tupfte er dem alten Knacker Puder in den Nacken. Wozu das wohl gut war?

Jetzt hatte der Foltermeister die Haarschneidemaschine gezückt. Das mochte Gregory auch nicht. Manchmal nahmen sie eine handbetriebene Maschine und fuhren ihm wie mit einem Dosenöffner quietsch-knirsch, quietsch-knirsch oben um den Schädel rum, bis sein Gehirn bloßlag. Aber das hier war so ein surrender Apparat, und der war noch schlimmer, weil man davon einen tödlichen Stromschlag bekommen konnte. Er hatte sich das schon hundertmal vorgestellt. Der Haarschneider surrt drauflos, merkt gar nicht, was er da tut, hasst dich sowieso, weil du ein Knabe bist, schneidet dir ein Stück vom Ohr ab, das Blut läuft über die Haarschneidemaschine, es gibt einen Kurzschluss, du kriegst einen Schlag und bist auf der Stelle tot. Bestimmt schon Millionen Mal passiert. Und der Haarschneider kam immer mit dem Leben davon, weil er Schuhe mit Gummisohlen anhatte.

In der Schule schwammen sie nackt. Mr Lofthouse trug einen bauschigen Schurz, damit sie seinen Schwanz nicht sehen konnten. Die Jungen zogen sich ganz aus, duschten sich gegen Läuse oder Warzen oder was auch immer, oder weil sie stanken, so wie Wood, dann sprangen sie ins Becken. Erst sprang man hoch, und bei der Landung klatschte einem das...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2012
Übersetzer Gertraude Krueger
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altern • Älterwerden • Belletristik • Beobachtungsgabe • Erzählungen • Frechheit • Julian Barnes • Kiepenheuer & Witsch • Lebensende • Meisterschaft • Roman • Sammlung • The Lemon Table • Umgang • Zitronentisch
ISBN-10 3-462-30539-5 / 3462305395
ISBN-13 978-3-462-30539-5 / 9783462305395
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