Die See (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30557-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die See -  John Banville
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Man Booker Prize 2005 für den Roman Die See Der Kunsthistoriker Max Morden flieht in das Haus am Meer, wo er als Kind aufregende Ferientage verbrachte. Indem er sich die damaligen Erlebnisse vergegenwärtigt, um mit dem Verlust seiner Frau fertig zu werden, werden jedoch auch alte Wunden aufgerissen. Alles hängt miteinander zusammen. Anna und der Kunsthistoriker Max sind glücklich verheiratet, als sie erfahren, dass Anna unheilbar an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange leben wird. Nach ihrem Tod flüchtet Max ans Meer, in den Ort, in dem er als Kind aufregende Sommer verlebte. Damals lernte er die unkonventionelle Familie Grace kennen mit ihrem Zwillingspaar Myles und Chloe. Mrs. Grace zieht den jungen Max magisch an und erweckt eine große Sehnsucht in ihm. Indem sich Max fast manisch erinnert, an seine erwachende Sexualität in diesem Sommer, an seine erotischen Phantasien und die spätere Liebe zu Chloe, an seine glückliche Zeit mit Anna und ihre letzten Tage im Krankenhaus, versucht er, sich mit dem erlittenen Verlust zu versöhnen.

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin.

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin. Christa Schuenke, geboren 1948, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Englischen, u. a. Werke von Banville, Melville, Singer, Shakespeare. Sie erhielt u.a. den Wielandpreis und den Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW.

Inhaltsverzeichnis

II


Chloe, Myles und ich, wir verbrachten unsere Tage zum größten Teil im Wasser. Egal, ob es regnete oder ob die Sonne schien, wir gingen schwimmen; wir gingen morgens schwimmen, wenn die See wie eine zähe Suppe war, wir gingen abends schwimmen, wenn uns das Wasser wie wogender schwarzer Taft über die Arme floss; eines Nachmittags blieben wir während eines Gewitters im Wasser, und ganz in unserer Nähe schlug ein Gabelblitz ein, so nah, dass wir das Knistern hören und die verbrannte Luft riechen konnten. Ich war kein besonders guter Schwimmer. Die Zwillinge hatten schon als Babys schwimmen gelernt und teilten die Wellen mühelos wie zwei schimmernde Scheren. Was mir an Können und Grazie fehlte, machte ich durch Ausdauer wett. Ich konnte lange Strecken schwimmen, ohne einmal anzuhalten, und kraulte, wenn ich Zuschauer hatte, oft unentwegt in Seitenlage vor mich hin, so lange, bis nicht nur ich selbst erschöpft war, sondern auch die Geduld der Schaulustigen am Strand.

Und einmal, am Ende einer dieser tristen kleinen Galavorstellungen, bekam ich dann eine erste Ahnung davon, dass sich etwas in Chloes Wahrnehmung meiner Person verändert hatte, oder besser gesagt, eine Ahnung davon, dass sie mich überhaupt wahrnahm und dabei eine Veränderung vor sich ging. Es war spät am Abend, und ich hatte die Strecke von – ja, wie lang war sie eigentlich, hundert oder sogar zweihundert Meter? –, die Strecke zwischen zwei von den mit grünem Schlick überzogenen Betonbuhnen zurückgelegt, die vor langer Zeit in dem vergeblichen Bemühen, die schleichende Erosion des Strandes aufzuhalten, in den Meeresboden gerammt worden waren. Als ich wankend aus den Wellen kam, sah ich, dass Chloe die ganze Zeit über, während ich im Wasser gewesen war, am Ufer auf mich gewartet hatte. Sie stand, in ein Handtuch gewickelt, und fing alle paar Minuten anfallartig an zu bibbern; ihre Lippen waren lavendelblau. »Du brauchst gar nicht so anzugeben, weißt du«, sagte sie ärgerlich. Bevor ich noch etwas antworten konnte – und was hätte ich ihr auch sagen sollen, denn sie hatte ja recht, ich hatte wirklich angegeben –, kam mit schlenkernden Beinen über uns aus den Dünen Myles angehüpft und bewarf uns beide mit Sand, und plötzlich sah ich ein Bild vor mir, ganz deutlich und merkwürdig anrührend, ein Bild von Chloe, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, neulich an dem Tag, als sie von jener anderen Düne gesprungen war, mitten hinein in mein Leben. Jetzt reichte sie mir mein Handtuch. Außer uns dreien war niemand am Strand. Die dunstige graue Abendluft fühlte sich an wie feucht gewordene Asche. Ich sehe uns noch kehrtmachen und auf den Einschnitt zwischen den Dünen zugehen, durch den man auf die Station Road gelangt. Chloes Handtuch schleift mit einem Zipfel im Sand. Mein Handtuch habe ich über der Schulter drapiert und die nassen Haare zurückgestrichen – ein kleiner römischer Senator. Myles rennt voraus. Doch wer ist das, der dort im Zwielicht am Strand zurückbleibt, an der dunkler werdenden See, die aussieht, als böge sie gleich einem wilden Tier den Rücken durch, derweil vom dunstverhangenen Horizont die Nacht sich naht? Was für eine Phantomversion meiner selbst ist das, die uns beobachtet – nein, nicht uns, sondern sie –, jene drei Kinder, die in der aschenen Luft verschwimmen und dann im Dünental verschwunden sind, das sie durchqueren, um wieder aufzutauchen, wo die Station Road anfängt?

Ich habe Chloe noch nicht beschrieben. Rein äußerlich unterschieden wir uns wenig, sie und ich, in diesem Alter, ich meine, im Hinblick auf die messbaren Dinge. Selbst ihr Haar, an sich fast weiß, das aber dunkler wurde, wenn es feucht war, und dann die Farbe von poliertem Weizen annahm, war kaum länger als das meine. Sie hatte einen Pagenkopf mit Ponyfransen, die ihr in die hübsche, hohe Stirn hingen, eine eigentümlich nach außen gewölbte Stirn übrigens, die – plötzlich fällt es mir wieder ein, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Stirn jener geisterhaften Gestalt im Profil hatte, die sich auf Bonnards Gemälde Tisch am Fenster am Rand aufhält, diesem Bild mit der Obstschale und dem Buch und dem Fenster, das selber wie die Hinteransicht einer auf der Staffelei stehenden Leinwand aussieht; ich stelle immer wieder und immer öfter fest, dass für mich jedes Ding ein anderes ist. Einer der Jungen aus dem Field gab mir eines Tages kichernd zu verstehen, so ein Pony, wie Chloe ihn trage, sei ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Mädchen an sich selber spiele. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, war mir aber sicher, dass Chloe nicht spielte, weder an sich selber noch sonst irgendwie. Rundball oder Fangen oder was ich früher so alles mit den Kindern aus dem Field gespielt hatte, diese Dinge waren nichts für sie. Und als ich ihr erzählte, dass es auf dem Field Mädchen in ihrem Alter gab, die immer noch mit Puppen spielten, da schnob sie bloß verächtlich durch die geblähten Nüstern. Überhaupt hatte sie für die Mehrheit ihrer Altersgenossen nur Spott und Hohn übrig. Nein, Chloe spielte nicht, außer mit Myles, und was die zwei zusammen machten, das konnte man eigentlich nicht als Spielen bezeichnen.

Der Junge, der diese Bemerkung über ihren Pony gemacht hatte – ich sehe ihn auf einmal vor mir, als würde er hier stehen, Joe Sowieso, ein ungeschlachter, grobknochiger Bursche mit abstehenden Ohren und Igelschnitt –, hatte auch gesagt, Chloe habe grüne Zähne. Ich war außer mir, aber er hatte recht; als ich das nächste Mal Gelegenheit bekam, sie aus der Nähe zu betrachten, stellte ich tatsächlich fest, dass der Schmelz auf ihren Schneidezähnen einen ganz leichten Stich ins Grünliche hatte, so ein zartes, dunstiges Graugrün allerdings, wie das dunstige Licht unter den Bäumen, wenn es geregnet hat, oder wie das matte Apfelgrün, in dem die Unterseiten der Blätter schimmern, wenn sie sich im unbewegten Wasser spiegeln.

Äpfel, ja, auch ihr Atem roch ein bisschen nach Äpfeln. Kleine Tiere waren wir, die sich beschnüffelten. Als ich später die Gelegenheit hatte, ihn zu riechen, mochte ich besonders den käsigen Duft ihrer Ellenbogenbeugen und ihrer Kniekehlen. Ich muss zugeben, dass Chloe keinen allzu großen Wert auf Hygiene legte, und normalerweise verströmte sie einen im Laufe des Tages immer stärker werdenden dumpfig dunkelbräunlichen Geruch, wie er im Laden aus den blechernen Keksdosen kommt oder besser kam, wenn sie leer waren – ob es eigentlich noch Läden gibt, wo lose Kekse aus diesen großen viereckigen Blechdosen verkauft werden? Ihre Hände. Ihre Augen. Ihre abgeknabberten Fingernägel. An alles das erinnere ich mich, erinnere mich ganz deutlich, bloß, dass nichts zum andern passt und es mir einfach nicht gelingen will, die Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ich kann mir noch so große Mühe geben, kann mir noch so sehr etwas vormachen, ich schaffe es einfach nicht, sie genauso deutlich vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören, wie ich es bei ihrer Mutter kann oder zum Beispiel bei Myles oder selbst bei diesem Joe aus dem Field mit seinen Segelohren. Kurzum, ich vermag sie nicht zu sehen. Sie verschwimmt in stets gleichbleibender Entfernung vor meinem inneren Auge, immer knapp außerhalb des Fokus, und bewegt sich genau in dem Tempo rückwärts, in dem ich mich vorwärts bewege. Aber wieso kann ich sie denn nicht einholen, wo doch das Tempo, in dem ich selbst mich vorwärts bewege, seit geraumer Weile immer weiter abnimmt? Ich sehe sie sogar heute noch auf der Straße, ich meine, Leute, die sie sein könnten, die die gleiche gewölbte Stirn haben, das fahle Haar, den gleichen stürmischen und dennoch merkwürdig verhaltenen, taubenfüßigen Schritt, nur dass die immer viel zu jung sind, Jahre, Jahre zu jung. Das ist das Rätsel, das mich damals schon verwirrt hat und mich nach wie vor verwirrt. Wie war es nur möglich, dass sie eben noch bei mir war und im nächsten Augenblick schon nicht mehr? Wie war es möglich, dass sie an einem anderen Ort war, so unabänderlich? Ich konnte das nicht verstehen, mich nicht damit aussöhnen, kann es bis heute nicht. Wie konnte es denn mit rechten Dingen zugehen, dass sie, einmal aus meiner Gegenwart verschwunden, nur mehr ein reines Fantasiegebilde sein sollte, ein Teil meiner Erinnerung, ein Teil meiner Träume, wo doch jedes Indiz mir sagte, dass sie selbst außerhalb meiner Gegenwart noch immer unumstößlich, unbeugsam und unbegreifbar die blieb, die sie war? Und doch gehen Menschen weg, verschwinden einfach. Das ist das größere Rätsel; das allergrößte. Auch ich könnte weggehen, oh ja, von einer Sekunde auf die andere könnte ich weggehen, und dann wäre es so, als wäre ich nie da gewesen, nur dass die lange Gewohnheit zu leben mich weniger geneigt sein lässt zu sterben, wie Dr. Browne es auszudrücken beliebt.

»Patient«, sagte Anna eines Tages, als es schon aufs Ende zuging, zu mir, »was für ein merkwürdiges Wort. Das hat doch etwas mit Geduld zu tun, mit Nachsicht. Also, ich muss dir sagen, ich habe weder Nachsicht, noch bin ich geduldig.«

Wann genau der Zeitpunkt war, da ich meine Zuneigung – wie unverbesserlich versessen ich doch auf diese altmodischen Formulierungen bin! – von der Mutter auf die Tochter übertrug, das weiß ich gar nicht mehr so ganz genau. Bei diesem Picknick gab es einen Augenblick der Einsicht und der Einkehr, wie Chloe dort unter der Tanne stand, aber diese Kristallisation war eher ästhetischer als amouröser oder erotischer Natur. Nein, an einen großen Moment der Erkenntnis und Anerkenntnis kann ich...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2012
Übersetzer Christa Schuenke
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Booker Prize • Erinnerungen • Erotische Fantasien • Ferientag • John Banville • Kiepenheuer & Witsch • Krankenhaus • Krebs • Kunsthistoriker • Mord • Pubertät • Roman • Sexualität • The Sea • Trauer
ISBN-10 3-462-30557-3 / 3462305573
ISBN-13 978-3-462-30557-9 / 9783462305579
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