Die Torte und andere Erzählungen (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
208 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-08083-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Torte und andere Erzählungen -  Franz Hohler
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Den Kaffee hat er bezahlt, jetzt steht er vor dem Restaurant auf der Paßhöhe, aber anstatt sich in sein Auto zu setzen und seinen nächsten Termin wahrzunehmen, schlägt er den Weg hinauf zu dem weiter oben gelegenen Denkmal ein. Eine kleine Wanderung wird ihm guttun - doch so beschwingt der Ausflug beginnt, dieser Mann wird nie mehr in seinen Alltag zurückfinden. Mit einem knapp einhundert Jahre alten Mann geht eine ebenso plötzlich einsetzende Veränderung vor, als er von der Bombe hört, die im Lago Maggiore gefunden wurde. Er muß wieder an seine Zeit als junger Mann bei den Kommunisten denken, denn bei dieser Bombe handelt es sich zweifellos um jene, mit der er in den 20er Jahren Europas Außenminister bei ihrem Treffen in Locarno in die Luft sprengen wollte - es bei der Absicht aber beließ. Keineswegs nur mit dem Schrecken kommt die Familie davon, als eines Tages eine asiatisch aussehende Frau in ihrer Waschküche steht und kein Wort redet. Der befreundete Parapsychologe ist ratlos, und auch der Ehemann sucht vergeblich sein Heil in der Philosophie: »Es gebe eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen«, liest er kopfschüttelnd, und ihm ergeht es, wenn er an die Fremde denkt, wie den anderen Figuren in Hohlers mit bewundernswerter Lust am Erzählen geschriebenen Geschichten. Er erlebt eine merkwürdige Rückeroberung: Eine unbekannte Welt macht der verbrauchten Rationalität ihren Platz streitig - und von dieser Welt geht ein gefährlich schöner Sog aus.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.

Die Torte


Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen Mützen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und Stühle sind über verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinaufführen, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und üppigen Rhododendronbüschen, mit seiner mächtigen Mittelterrasse, auf der zwischen Säulen mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.

Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu hören, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?

Erfahren habe ich sie in einem Gebäude, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal unähnlich sieht, einem Altersheim in einem der Täler hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Ecktürme zurückversetzt, mit einem großen gepflästerten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola mündet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unvergänglicher Mosaikschrift der Name des Stifters.

In dieses Altersheim führte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unzähligen Grundstücke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschläge zur Zusammenlegung oder zu Abtäuschen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines Stück Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschloß, den Besitzer des Nachbargrundstücks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich über meinen Besuch, klagte über sein abnehmendes Augenlicht und über seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so daß er kaum mehr gehen könne, kurz, über das ganze zusammenbrechende System seines Körpers, für das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienbäume und erzählte mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 Stück Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh übrig geblieben ist.

Während unseres Gesprächs lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb geöffnetem Mund im Bett und ließ nur von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.

»Er hört nichts mehr«, sagte mein Bekannter, »er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.«

Wir fuhren mit unserm Gespräch fort, und ich fragte, ob es früher auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: »Un giorno vanno trovare la torta.« »Eines Tages werden sie die Torte finden«, und ließ seinen Kopf wieder sinken.

Mein Bekannter lächelte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur »la torta«, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund dafür sei, wisse niemand, und es kämen auch keine Familienangehörigen zu Besuch, die man fragen könne.

Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich über ihn und fragte: »Dove vanno trovare la torta?« »Wo werden sie die Torte finden?«

Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Nel lago.« »Im See.«

Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, daß die Seepolizei kürzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine große Blechschachtel mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno« gefunden habe, in welcher verrostete Zünder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit gehört haben könnten, und daß ein Rätselraten um diesen Fund entstanden sei.

Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, riß die Augen weit auf und rief: »L’hanno finalmente trovata!« »Endlich haben sie sie gefunden! «

»Die Torte?« fragte ich und fügte hinzu: »Es war aber Dynamit drin.«

Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erzählen.

Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Veränderung geschehen. Er saß im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine Mütze mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno«, und so wie er dasaß, hätte man ihn ohne weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erzählte, trug er ohne zu stocken vor, so daß ich fast nicht glauben konnte, daß es sich um denselben röchelnden Menschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte.

 

»Nehmen Sie Platz«, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, »ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erzählen. Mit Righetti« – er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn – »hab ich schon gesprochen, er will auch zuhören.

Ich heiße Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich weiß nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen können – Sie sind Deutschschweizer, nicht? – wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums Überleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf geführt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, zählte, jeder Kastanienbaum bedeutete so und soviel Mahlzeiten für hungrige Mägen, oft mußten die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim Mähen von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gewöhnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mußten, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Glück und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Glück und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.

Natürlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mußten wir die große Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mußten die Brötchen beim Bäcker holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der Küchenmeister zählte sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Brötchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, daß man als Jüngster alles zugeschoben bekam, worum sich die Älteren zu drücken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten übereinander, zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und für die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der Tölpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war täglich um Leute herum, die gesellig, fröhlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.«

 

Ernesto Tonini lächelte und schaute vom einen zum andern. Wir mußten ziemlich überraschte Gesichter gemacht haben.

»Das hättet ihr nicht gedacht, stimmt’s oder hab ich Recht?«

Wir zwei Zuhörer nickten, und er fuhr weiter.

 

»Der Bäckerjunge, der mir jeweils die Brötchen übergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was heißt Versammlung, es war eher eine Verschwörung, sechs oder sieben Männer waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erzählte uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles gehört, und wie unser großer Genosse Lenin von der Schweiz nach Rußland gefahren war und dort den Zar gestürzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorläufig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausflögen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.

Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus für mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wußte nun, daß dies alles nicht so bleiben würde und daß ich eines Tages meine Geschwister, die als Mägde, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel würde einladen können, in die Zimmer mit Seesicht.

Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrbücher für Deutsch, Französisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und während meiner Botengänge hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Brüchigkeit • eBooks • Ereignis • Erzählungen • Fantastik • FranzHohler • Gleis 4 • Kurzgeschichten • Logik • Natur • Rückeroberung • Schweiz • Unerwartetes • Zufall • Zufälle
ISBN-10 3-641-08083-5 / 3641080835
ISBN-13 978-3-641-08083-9 / 9783641080839
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