Die Stadt (eBook)

Entdeckungen im Inneren von Wien

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
560 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401320-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Stadt -  Gerhard Roth
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Ein grandioses Porträt der Stadt Wien und ihrer Bewohner: ein literarischer Reiseführer, eine Erkundung der menschlichen Seele. In den fast zwanzig Jahren nach Erscheinen seines legendären Essaybands »Eine Reise in das Innere von Wien« hat Gerhard Roth unermüdlich weiter die Stadt erforscht, in der er seit vielen Jahren lebt. Seine neuen Erkundungsgänge führen ihn hinter die Kulissen des Naturhistorischen Museums und der Nationalbibliothek, durch das k.k. Hofkammerarchiv und die Wunderkammern der Habsburger, ins Josephinum und in das der Öffentlichkeit unzugängliche Gerichtsmedizinische Museum - grandiose Essays über menschlichen Größenwahn, Sammelwut und den Kampf gegen die Vergänglichkeit. Das Uhrenmuseum und der Zentralfriedhof - die Zeit und der Tod - sind die Leitmotive dieses Schreibens, im Mittelpunkt aber steht immer der Mensch: Gerhard Roths präzise Beschreibungen des Wiener Blindeninstituts und des Bundes-Gehörloseninstituts weiten sich zu einer bewegenden Geschichte der Ausgrenzung, und sein Besuch des Flüchtlingslagers Traiskirchen wird zur Studie über Menschlichkeit in einer globalisierten Welt.

Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl):Preis der »SWF-Bestenliste«Alfred-Döblin-PreisMarie-Luise-Kaschnitz-PreisPreis des Österreichischen BuchhandelsBruno-Kreisky-Preis 2003Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003Jakob-Wassermann-Preis 2012Jeanette-Schocken-Preis 2015Jean-Paul-Preis 2015Großer Österreichischer Staatspreis 2016Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016

Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016

Prolog


Ich schlich hinunter in die Keller …

Ich habe Wien seit 1986 durchforscht. Mehrere Jahre schrieb ich Essays für das ZEIT- bzw. das FAZ-Magazin, die dann unter dem Titel »Eine Reise in das Innere von Wien« als Buch erschienen. Seither habe ich mich auf andere Schauplätze konzentriert, beispielsweise das Haus Am Heumarkt 7, in dem ich seit 1988 wohne. Mich faszinierte an ihm besonders der Zustand seines Verfalls. Das Gebäude ist eigentlich ein Palais, das der Oberbefehlshaber der k.u.k. Armee Conrad von Hötzendorf erbauen ließ. Deshalb hat es auch einen kasernenartigen Charakter. Es besteht aus zwei Höfen mit alten, hohen Bäumen: Kastanien und Platanen vorzugsweise. Der Ast einer Platane wuchs, bis man ihn abschnitt, direkt vor das Fenster meines Arbeitszimmers, stieß zuletzt an das Glas und scharrte leise bei Wind. Ich hatte vom Schreibtisch aus das Gefühl, in der verlängerten Baumkrone zu sitzen, und war dadurch immer zum Schreiben animiert. Der Baum zeigte mir die Jahreszeiten besser an als jeder Kalender, und ich versank nicht in jenen abstrakten Zeit-Raum, den ich seit einem einjährigen Aufenthalt in einem Hamburger Haus am Holzdamm fürchte: Vom Fenster aus sah ich dort nur eine Ziegelwand mit einer Uhr und der Überschrift »Normalzeit«. Es gibt seither für mich keinen schlimmeren Ausblick als eine öde Hauswand mit einer Uhr, die immer gnadenlos die vergehende und vertrödelte Zeit registriert. Ein Baum hingegen altert mit mir, und in den Jahreszeiten, den sich verfärbenden und abfallenden Blättern spiegelt sich nicht nur der Tod, sondern im frühlingshaften Grün auch die Wiedergeburt.

Das Gebäude Am Heumarkt 7 war damals, wie gesagt, verfallen, der Verputz abgeblättert, Feuchtigkeit stieg im Erdgeschoss hoch, und es machte einen verwahrlosten Eindruck. Trotzdem fühlte ich mich als Bewohner wohl, ich hatte meine Wohnung renoviert und genoss den Blick vom zweiten Stock, sozusagen aus der Vogelperspektive, auf die malerischen Mauerflecken. Im Nebenhof hatte Ingeborg Bachmann zwei Jahre gewohnt, und ich entdeckte auch ein Ehepaar mit Namen Malina (dem Titel von Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Roman), das mir gegenüber auf der anderen Seite des Hofes wohnt.

Ein Stück weiter vom Gebäude befindet sich ein verschlafenes Café, das Café Heumarkt, das nur leidenschaftliche Besucher oder leidenschaftliche Nichtbesucher kennt. Ich gehörte zu den leidenschaftlichen Besuchern, ich fand dort zunächst gerade das, was ich bei meinem Fenster in Hamburg zu hassen gelernt hatte: Eine Uhr aus den fünfziger Jahren hing an einer Wand, allerdings war es immer drei viertel zwölf. Das ist eine gute Stunde, und das Zusammentreffen des Interieurs aus den fünfziger Jahren mit der stehengebliebenen Uhr vermittelte mir stetig den Eindruck, in Sicherheit zu sein. Das Café Heumarkt war lange Zeit aus diesem Grund für mich ein Fluchtpunkt. Ich schrieb in meinem Versteck nicht, sondern las Zeitung, aß zu Mittag oder trank mit Freunden wie Michael Schottenberg, Karlheinz Kratzl und Peter Pongratz hin und wieder mehrere Gespritzte. Aber es war immer nur mein Stammcafé, niemand kam dort mehr als einmal hin (und schon gar nicht regelmäßig), was mir recht war. Ich nannte es in meinem Kopf »Vorzimmer des Todes«. Mit Günter Brus machte ich einmal am Schließtag ein Interview für eine Kunstzeitschrift, das bezeichnenderweise nie erschien. Der Besitzer händigte uns die Schlüssel aus und gestattete uns, uns selbst zu bedienen, wir mussten nur die Getränke auf einem Block notieren, und ich würde am nächsten Tag die Rechnung begleichen. Natürlich stellte sich die Tonbandaufzeichnung der sechsstündigen Sitzung im ansonsten leeren Café als Dokument des allmählich einsetzenden Schwachsinns und alkoholbedingten Wiederholungszwanges heraus, aber es passte zum Café, obwohl es nicht typisch für die ansonsten stille Atmosphäre war, die nur von knackenden Parketten, dem Klicken der Billardkugeln und dem Scheppern von Metalltassen auf den Marmortischen unterbrochen wurde.

Ich fing an, die Mauerflecken des Gebäudes Am Heumarkt 7 zu fotografieren, stromerte an anderen Tagen in der Stadt herum, betrachtete mit wachsender Begeisterung in verschiedenen Bezirken Wiens die Mauerflecken und die in ihnen verborgenen Bilder, verglich sie mit dem Hintergrund von Gemälden im Kunsthistorischen Museum und fotografierte sie schließlich, bis ich eine eigene Stadtkarte der österreichischen Hauptstadt beisammen hatte. Manche Bezirke oder Gebäude sind darauf sofort zu erkennen, wie zum Beispiel Schönbrunn an seinem unverwechselbaren Gelb oder der 2. Bezirk an seinem melancholischen Grau. Ich hatte auch das Glück, die Schönheit von Rostflecken auf einer eisernen Tür oder auf Scharnieren zu entdecken, die bezaubernde Anmut eines chemischen Prozesses, die mich an Flechten auf Baumstämmen oder Steinen erinnert, und in manches alte Wiener Haus schlich ich hinein, und es gelang mir auch immer wieder, bis in den Keller vorzudringen und dort schöne Flecken zu studieren, woraus allmählich ein phantastischer Atlas aus imaginären Landkarten in meinem Kopf entstand, die eine rätselhafte Welt zum Vorschein brachten.

Die Wiener bestehen in der Regel aus einer Mischung aus Missmut und schlechtem Gewissen. Die offenbar nur beim Heurigen und privat anzutreffende Lustigkeit ist im Alltag zumeist vom Nieselregen einer chronisch schlechten Laune getrübt, die aber wiederum wie abblätternder Verputz ist und deshalb auch ihre verborgenen Reize hat. (Wie ja auch die Muräne ein bissig aussehender Fisch ist, dessen Fleisch aber als Delikatesse gilt.)

Die mir mitunter von einer fremden Hausmeisterin gestellte Frage nach meinem Grund und der Erlaubnis, die ihrer Meinung nach hässlichen Mauern zu fotografieren, konnte ich nicht wahrheitsgemäß beantworten, da es mir bei noch so angestrengten Bemühungen vermutlich nicht gelungen wäre, Übereinstimmung zu erzielen, dass sie schön seien, etwa wie eine Schwarz-Weißfotografie des Sternenhimmels. Stattdessen stellte ich barsch die Gegenfrage, seit wie lange die Mauern schon in einem solchen Zustand seien, und machte nebenbei eine weitere Aufnahme. Mein schroffes Auftreten zeigte immer die gewünschte Wirkung. Misstrauen und schlechtes Gewissen verstärkten sich zwar, aber die üble Laune verlegte sich sichtlich von der Sprache in die Physiognomie der Betreffenden. Das Verstummen und angestrengte Nachdenken meines jeweiligen Gegenübers war dann das Zeichen zum raschen Aufbruch.

Es war übrigens richtig, dass ich mit meinen Recherchen frühzeitig begann, denn die schöne Gemäldeausstellung der Mauerflecken droht zu verschwinden. Am Heumarkt 7 wurde zum Beispiel das gesamte Gebäude frisch verputzt und generalsaniert, gleichzeitig wurde die Miete erhöht. Dort, wo ich früher aus Begeisterung auf der Stiege am Steinboden kniete, um zu fotografieren, wo ich vor einem schimmeligen Stück Mauer in Entzücken geriet, niederkniete und eine Aufnahme machte, finde ich jetzt auswechselbare Farben. Und von der einstigen Aschenputtel-Schönheit des Gebäudes spüre ich nur noch etwas, wenn ich, in nostalgische Gedanken an die vormalige Pracht des Platanenastes versunken, plötzlich erkenne, dass er wieder auf mein Arbeitszimmer zuwächst, fast unmerklich, aber doch. Und vor allem, wenn im Winter die Krähen kommen und sich im Schnee im Hof niederlassen. Sie krächzen und schnarren wie Aufziehtiere. Ich studiere, wie der Schwarm sich stetig in seinen Bewegungen verändert. Als Verfechter der Chaos-Theorie und ewiger Student der fraktalen Geometrie, die seit meinem Roman »Landläufiger Tod« mein Schreiben und literarisches Denken beeinflusst und inspiriert, als Bewunderer von Vergrößerungen der schönen Randdetails und beglückter Betrachter von Darstellungen der selbstähnlichen Struktur der sogenannten Mandelbrotmenge, kann ich die Krähenschwärme lange, um nicht zu sagen stundenlang betrachten, in der Absicht, eine unbekannte Ordnung im Schwarm zu entdecken, der sich im Schnee wie lebendig gewordene Noten auf einer weißen Seite Papier hüpfend ausbreitet und wieder zusammenzieht. Welche unhörbare Musik komponieren sie? Und wenn sie hörbar wäre, wie klänge sie? Und wenn es keine Noten sind, sondern tierische Hieroglyphen, in die Luft gekratzt oder beim Fressen mit dem Schnabel in den harten Winterboden gemeißelt, was verkünden sie? Und sind es Zeichnungen, was stellen sie dar? In diesen Krähenschwärmen ist ein großes Rätsel verborgen, das die Naturwissenschaft, genauer gesagt die Ornithologen, offenbar nicht interessiert. Vom Ankommen im November bis zum Abflug im Februar, von der Sitzordnung auf Bäumen bis zum lautstarken Anflug des Schlafplatzes am Steinhof wird bei den Krähenschwärmen eine Ordnung, ein inneres Wissen sichtbar, die mich fasziniert. Ich sah einmal, wie eine vermutlich kranke Krähe im Hof zurückblieb, als der Schwarm im März zum Rückflug aufbrach. Tage später flog eine Nachhut mehrmals laut krächzend über die Dächer und nahm mit der kranken Krähe Kontakt auf. Zwei Tage lang wiederholte sich dieser Vorgang, diesmal nur von zwei Krähen, bis am dritten die Krähe mit den beiden anderen »Wächtern«, wie ich sie für mich selbst nannte, davonflog.

Ich habe Hunderte Bilder von den Krähen im Hof aufgenommen, die Form ihrer Flügel beim Auffliegen und beim Landen ist wunderschön. Begeistert fotografierte ich auch die Spuren der Krähen im Schnee und Eisblumen auf den Fenstern des ungeheizten Vorzimmers zu meiner Schreibwohnung. Die Bilder gehören zu den anregendsten, die ich gemacht habe, allerdings habe...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2011
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Blindeninstitut Wien • Bundes-Gehörloseninstitut Wien • Essay • Essays • Habsburg • Habsburger • Hofkammerarchiv • Josephinum • k.k. Hofkammerarchiv • Kunsthistorisches Museum • Kunsthistorisches Museum Wien • Mozarts Requiem • Naturhistorisches Museum • Naturhistorisches Museum Wien • Neusiedler Se • Neusiedler See • Österreich • Österreichische Nationalbibliothek • Reisebericht • Reportage • Reportagen • Roman • Traiskirchen • Wien • Wunderkammer • Zentralfriedhof • Zentralfriedhof Wien
ISBN-10 3-10-401320-9 / 3104013209
ISBN-13 978-3-10-401320-6 / 9783104013206
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