Detektivgeschichte (eBook)

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2011 | 1. Auflage
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01331-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Detektivgeschichte -  Imre Kertész
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Nach dem Sturz einer obskuren Diktatur werden die Schergen vor Gericht gestellt. Einer von ihnen, Antonio Martens, legt sich selbst Rechenschaft ab und vertraut das Manuskript seinem Pflichtverteidiger an: Es geht um die Akte Salinas, um den tragischen Fall eines Vaters und eines Sohnes, die vom Apparat zermalmt wurden. «Imre Kertész erzählt atemberaubend von einem Alptraum.» (Der Spiegel) «Eine höchst artistische Parabel über den Polizeistaat, geschrieben schon 1976. Wir lernen: Unschuld ist in der Diktatur nicht vorgesehen, und: Schuld lässt sich jederzeit herstellen.» (Frankfurter Rundschau) «So universal ist seine Literatur, so undogmatisch und unaufgeregt, dass sie die Würde des Nobelpreises mittlerweile weit übersteigt.» (Neue Züricher Zeitung) «Ein konzentriertes Lehrstück über die Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit des Amoralismus.» (Die Zeit)

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb.

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb.

2


Ich will eine Geschichte erzählen. Eine einfache Geschichte. Sie können sie auch ungeheuerlich nennen. Doch das ändert nichts an ihrer Einfachheit. Ich möchte also eine einfache und ungeheuerliche Geschichte erzählen.

Ich bin Martens. Ja, ebender Antonio Rojaz Martens, der gegenwärtig vor den Richtern des neuen Systems steht: vor den Volksrichtern – wie sie sich gern nennen. Sie können zur Zeit mehr als genug über mich lesen: Die reißerischen Boulevardblätter sorgen dafür, daß mein Name in ganz Lateinamerika bekannt wird, ja vielleicht sogar drüben, im weit entfernten Europa.

Ich muß mich beeilen, wahrscheinlich ist meine Zeit knapp. Es geht um die Salinas-Akte: um Federigo und Enrique Salinas, Vater und Sohn, Eigentümer der im ganzen Land bekannten Kaufhauskette, deren Tod die Leute damals so überraschte. Dabei war man damals nicht mehr so leicht zu überraschen. Doch kein Mensch hätte Salinas für einen Verräter gehalten, der seinen Namen für den Widerstand hergibt. Der Oberst hat dann später auch bereut, ein Kommuniqué über die Hinrichtung herausgegeben zu haben: Es hat ohne Zweifel eine starke moralische Wirkung hervorgerufen, eine viel zu starke und völlig überflüssige. Doch wenn wir kein Kommuniqué herausgegeben hätten, hätte man uns Vernebelung und Gesetzesbruch vorgeworfen. So oder so, in dieser Sache konnte man nur falsch handeln. Der Oberst hatte das übrigens bereits vorausgesehen. Ehrlich gesagt, ich auch. Aber welchen Einfluß hätte schon die Überzeugung eines Ermittlungsbeamten auf den Lauf der Dinge haben können?

Damals war ich noch neu beim Corps. Ich war von der Polizei herübergekommen. Nicht von der Politischen – die war schon längst dort –, sondern von der Kripo. «Du, Martens», sagt eines Tages mein Chef zu mir, «hast du nicht Lust, hinüberzugehen?» Ich frage: «Wohin?», denn ich bin ja schließlich Polizist und kein Gedankenleser. Er deutet mit dem Kopf zur Seite. «Hinüber», sagt er, «zum Corps.» Ich sagte weder ja noch nein. Man war bei der Kripo gut dran. Allerdings hatte ich die Nase schon ein bißchen voll von Mördern, Einbrechern und ihren Nutten. Damals wehte ein neuer Wind. Ich hörte von manchem Aufstieg. Es hieß, wer sich bemüht, habe Zukunft. «Das Corps fordert Leute an», fuhr mein Chef fort. «Ich habe nachgedacht, wen ich empfehlen könnte. Du, Martens, bist ein fähiger Mann. Und dort kannst du dich rascher profilieren», fügte er hinzu.

Tja, so ungefähr hatte ich mir die Sache auch vorgestellt.

Ich absolvierte den Lehrgang, und man wusch mir das Gehirn. Aber nicht genug, bei weitem nicht genug. Es blieb noch eine Menge drin, viel mehr, als ich gebrauchen konnte – doch sie hatten es eben verdammt eilig. Damals war alles eilig. Es hieß, Ordnung zu schaffen, die Konsolidierung voranzubringen, das Vaterland zu retten, den Widerstand zu liquidieren – und es sah aus, als läge das alles auf unseren Schultern. «Das kommt alles mit der Praxis», wurde immer wieder gesagt, wenn einem etwas Kopfschmerzen machte. Hol mich der Teufel, wenn ich da auch nur irgend etwas gelernt habe. Doch der Job interessierte mich. Und noch mehr die Bezahlung.

Ich kam in die Gruppe von Diaz (dem Diaz, nach dem jetzt vergeblich gefahndet wird). Wir waren zu dritt: Diaz, der Chef (ich kann jedem versichern, daß man ihn niemals finden wird), Rodriguez (der bereits zum Tode verurteilt worden ist: nur zu einem einzigen, dabei hätte der Lump hundert Tode verdient) und ich, der Neue. Und natürlich Hilfspersonal, Geld, weitreichende Befugnisse und eine unbegrenzte Technik, über die ein einfacher Bulle nicht einmal etwas zu lesen gewagt hätte, um sich nicht zu weit in sie einzuleben.

Und dann ging bald der Fall Salinas los. Allzufrüh, verdammt früh. Gerade zu der Zeit meiner stärksten Kopfschmerzen. Doch er ging nun mal los, und es war nichts zu machen: Ich werde mich nie wieder von ihm befreien können. Ich muß ihn also erzählen, um ein Zeugnis zu hinterlassen, bevor ich abtrete … bevor man mich hinüberschickt. Doch lassen wir das: das beschäftigt mich jetzt am allerwenigsten. Ich war immer darauf gefaßt. Unser Beruf ist riskant, wenn du einmal damit angefangen hast, bleibt nur noch die Flucht nach vorn – wie Diaz sich auszudrücken pflegte (Sie wissen ja: der, nach dem vergeblich gefahndet wird).

Wie hat es eigentlich angefangen? Und wann? Erst jetzt, da ich meine Erinnerungen ordne, merke ich, wie schwer es für mich ist, die ersten Monate des Sieges heraufzubeschwören: und nicht nur wegen der Salinas. Nun ja, den Tag des Triumphs hatten wir auf jeden Fall schon lange hinter uns, soviel steht fest – o ja, schon ziemlich lange. Die Straßentransparente hingen bereits langsam durch und verschlissen, die Triumphlosungen waren verwaschen, die Fahnen erschlafft, die Lautsprecher auf den Straßen röchelten die Märsche nur noch heiser.

Ja, so sah ich es am Morgen, jedesmal, wenn ich die Stadt durchquerte, von zu Hause bis zu dem uns allen wohlbekannten klassischen Palais, in dem das Corps sich etabliert hatte. Am Abend nahm ich davon überhaupt nichts wahr. Nein, abends spürte ich nur noch die Kopfschmerzen, die ich von alldem hatte.

Zu dieser Zeit kamen viele unangenehme Dinge auf uns zu. Der Honigmond war vorbei: Die Bevölkerung war gereizt. Auch der Oberst. Und zu allem Überfluß bekamen wir Wind von dem geplanten Attentat. Wir mußten es verhindern – oder hätten es zumindest verhindern müssen, mit allen Mitteln: das verlangten der Oberst und das Vaterland von uns.

Diese verfluchte Gereiztheit und die Hektik, die damit einherging, waren an allem schuld. Rodriguez legte los, und Diaz – der immer besonnene und mäßigend wirkende Diaz – hatte kein Wort mehr dagegen. Erst da fing ich eigentlich an zu erkennen, wo ich war und worauf ich mich eingelassen hatte. Wie gesagt, ich war noch neu. Bis dahin hatte ich dort eher nur so herumgelungert. Ich versuchte, mich zurechtzufinden und in meine Rolle einzuleben, um tun zu können, was ich tun mußte. Ich bin ein ehrlicher Bulle, war es immer und nehme die Arbeit ernst. Ich wußte natürlich, daß beim Corps andere Maßstäbe herrschten – doch ich glaubte, daß es immerhin Maßstäbe gab. Nun ja, es gab sie nicht, und da ging es mit meinen Kopfschmerzen los.

Denken Sie nicht, daß ich mich herausrede. Mir kann es inzwischen wirklich egal sein. Aber es ist nun mal die Wahrheit: Man glaubt, die Ereignisse schlau an der Kandare zu haben, und auf einmal will man nur noch wissen, wo zum Teufel sie mit einem hingaloppieren.

Mich irritierte vor allem dieser Rodriguez. Das wurde für mich langsam zur Manie. Ich wollte mit ihm klarkommen, ihn durchschauen, begreifen, wie … ja, so wie Salinas seinen Sohn. Natürlich anders, aber mit dem gleichen Forscherdrang. Eines Tages sage ich zu ihm:

«Du, Rodriguez. Warum machst du das?»

«Was?» fragt er.

«Du Sauhund!» sage ich vertraulich zu ihm. «Was heißt hier was …?!»

«Ach so», sagt er und feixt.

«Hör mal», fuhr ich fort. «Wir liquidieren, schlagen zu, spüren auf und verhören: das ist in Ordnung, das ist unser Job. Doch warum haßt du sie?»

«Weil es Juden sind!» platzt er heraus. Ich war so verblüfft, daß ich fast meine Zigarette verschluckt hätte. Ich dachte, ihm sei das Buch aufs Gemüt geschlagen, das er damals ständig wälzte und das ich auch jetzt wieder in seiner Hand sah. Hätten Sie gedacht, daß Rodriguez Englisch konnte? Dabei muß er es gekonnt haben, denn das Buch war in englischer Sprache geschrieben, eine amerikanische Ausgabe – irgend so eine verdammte Schmuggelware. Wer weiß, wie er dazu gekommen ist: Vielleicht hatte er es bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt. Von dem schreienden Titel verstand ich nur ein einziges Wort: «Auschwitz». Obwohl das kein englisches Wort ist, sondern ein Ortsname. Natürlich hat man schon davon gehört: Es ist lange her und auch weit weg von hier, irgendwo in dem elenden Europa, in dessen östlichem Teil. Der Teufel soll mich holen, wenn ich verstanden hätte, was wir damit zu tun haben und was das hier soll.

«Du Bestie», sage ich, «wo es doch in diesem ganzen großen Land höchstens ein paar hundert oder tausend Juden gibt, wenn überhaupt!»

«Das ist mir egal», sagt er. «Wer etwas anderes will, der ist Jude. Warum sollte er sonst etwas anderes wollen?!»

Ich starrte ihn nur an. Rodriguez besaß Logik, soviel steht fest. Aber wenn man seine Logik einmal in Gang gesetzt hatte, gab es kein Halten mehr. «Warum?!» brüllte er mich an. «Warum sind sie dagegen?!»

«Weil es Juden sind», versuchte ich ihn zu besänftigen. Ich sah, daß sein Blutdruck anstieg. Ich hatte genug von ihm. Und – so seltsam es ist, denn schließlich bin ich ja Polizist, Mitglied des Corps – ich erschrak vor ihm. Seine Augen funkelten nur so. Rodriguez hatte die Augen eines Panthers. Bei Gott, verstehen Sie das bloß nicht positiv. Er hatte einfach nur gelbe Augen, mit länglichen Pupillen, genau wie diese stinkenden, aasfressenden Katzen.

Doch ich versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen.

«Warum sind sie dagegen?!» Er packte mich an der Hemdbrust. «Wir wollen das Beste für sie, wollen sie aus dem Dreck ziehen, wollen die Ordnung für sie, damit wir stolz auf sie sein können!» – Ja, so hat er es gesagt: «damit wir stolz auf sie sein können!» Mir blieb der Mund offenstehen.

«Und trotzdem wollen sie die Ordnung nicht.» Er zerrte weiter an meinem Hemd. «Trotzdem leisten sie Widerstand: Warum?! … Warum?!»

Tja, das war eine verzwickte Frage für mich. In der Tat: warum? Ich wußte es nicht. Ich weiß es auch jetzt nicht. Ganz und...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2011
Übersetzer Angelika Máté, Peter Máté
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Akte Salinas • Diktatur • Gericht • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Manuskript • Mittäter • Nobelpreis Literatur • Nobelpreisträger • Pflichtverteidiger • Vater-Sohn Beziehung
ISBN-10 3-644-01331-4 / 3644013314
ISBN-13 978-3-644-01331-5 / 9783644013315
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