Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel (eBook)

Roman

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30483-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel -  Moritz Rinke
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Worpswas? - Worpswede! Moritz Rinke legt ein furioses Romandebüt vor Ausgerechnet als Paul Wendland mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein: In Worpswede drohen das Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken. Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung ... Mit seinem furiosen Romandebüt hat Moritz Rinke bereits unzählige Leser begeistert. Mit hinreißender Tragikomik erzählt er von unheimlichen Familiengeheimnissen, vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit, vom Lieben und Verlassenwerden und von einem Dorf im hohen Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

Erster Teil Berlin–Worpswede


2 Paul lebt in der Stadt und sucht einen Grund


Paul hielt den Löffel mit dem Zucker in der Hand und starrte durch das Fenster des Cafés.

Christina, die er seit vier Monaten kannte, war gestern nach Barcelona geflogen, um dort eine Stelle in einem Forschungslabor anzutreten.

»Komm doch mit, du kannst ja auch da leben«, hatte sie vorgeschlagen.

»Ich kann nicht nach Barcelona und einfach da leben. Ich muss mich erst hier in Berlin durchsetzen«, hatte er geantwortet.

Paul drehte sich am Flughafen noch einmal zu ihr um. Irgendwo hatte er gelesen, dass sich die wirklich Liebenden niemals umdrehten oder lange winkten, aber was war dann mit ihm? Er beobachtete durch die Glastür, wie sie bei der Kontrolle ihren Gürtel aufmachte, und stellte sich vor, sie erst in ein paar Jahren wiederzusehen: Sie würde immer noch so schön sein mit ihren dunklen Augen und er sie umarmen und küssen wollen, aber in seiner Vorstellung hatte sie plötzlich Kinder im Arm und einen spanischen Torero oder Juniorprofessor zur Seite mit einer Stechlanze in der Hand. So schnell kann das Leben vorübergehen und man hat die richtige Frau verpasst, dachte er, als er im Bus Platz nahm und ein Flugzeug in den Himmel steigen sah.

Café am Rosenthaler Platz, es war 8 Uhr 30 am Morgen und Paul war der Einzige, der an einem Tisch saß, neben ihm der Latte Macchiato und das schwarze Notizbuch. Andere warteten auf ihren Latte Macchiato zum Mitnehmen, blätterten dabei flüchtig in Magazinen herum und warfen Blicke nach draußen zu ihren Autos mit Warnblinkzeichen auf dem Seitenstreifen. Sie nahmen den Pappbecher, rührten weißen oder braunen Zucker hinein, wobei sie sich meist gegenseitig im Weg standen, sodass manche ohne Zucker auf die Straße eilten und erst die Zeit für ihren Kaffee nutzten, wenn sie schon im Auto oder zu Fuß vor der Ampel warteten.

Vielleicht war es übertrieben, vielleicht vergrößerte er solche Dinge, aber wann gab es so etwas bei ihm, dass er einen kleinen Moment nutzte, weil er eingerahmt, umschlossen war von Berufswegen und Notwendigkeiten, von verplanter Zeit? Es machte ihn traurig, dass er den ganzen Tag an einer Ampel stehen könnte mit einem Pappbecher in der Hand – aber er würde nie die Zeit nutzen wie die anderen, bei denen sie aus dem Rahmen, der Umschlossenheit hervorleuchtete wie Freiheit, ja, wie Glück. Paul glaubte, er müsste in einem Urlaub sterben, denn wie sollte man diese Zeit ertragen, wenn sie nicht umschlossen war vom verplanten Leben?

Er hielt immer noch den Löffel in der Hand und strich mit einer energischen Bewegung den verschütteten Zucker aus seinem Notizbuch:

Pläne:

1. Galerie / Beruf: Händler u. Sammler kennenlernen.

Chinesen. Russen. Dubaianer. (Dubaier? Welche aus Dubai!)

2. Liebe / Leben: Barcelona-Reise (Easy jet)

Er googelte nach dem besten Restaurant in Barcelona und notierte:

3. Mit Christina Essen gehen ins Set Portes (7 Türen)!

(Adresse: Passeig d’Isabel)

4. Rioja Vallformosa bestellen! (Una ampolla!)

5. Heiratsantrag machen! (Entweder am Anfang oder nie!)

Er wollte gerade »6. Kinder!« schreiben, dann ließ er es weg. Er schrieb stattdessen:

1. a) Galerie / Beruf: Halmer-Projekt

Pläne und die Salatköpfe der Mutter


Paul führte eine kleine Galerie in der Brunnenstraße. Sie bestand aus einem etwas dunkleren Raum, in dem vor Kurzem noch ein Waschsalon gewesen war. Der Boden hatte durch die jahrelangen Schleuderprogramme an manchen Stellen Vertiefungen bekommen und es roch noch leicht nach alter, muffiger Wäsche, obwohl Paul immer neue Sorten von Räucherstäbchen einsetzte: Harze, Balsame, Hölzer, Wurzeln, Blüten, zuletzt brannten in seiner Galerie ganze Kräuterbündel aus dem Urwald. Links von der Galerie war Brillen-Meyer, rechts Ginas Hundestudio und gegenüber der kroatische Schrotthändler Kovac. Brillen, Hunde und Schrottautos wirkten auf den ersten Blick nicht wie das ideale Umfeld, dennoch glaubte Paul an seine Galerie. Er war überzeugt, dass der Standort mit der Zeit immer zentraler werden und sich das Zentrum vom Osten her auf ihn zubewegen würde.

In dem Showroom konnte er ungefähr fünf Bilder großzügig hängen, ein sechstes, wenn er noch die Fläche hinter seinem Worpsweder Heinrich-Vogeler-Tisch nutzte, der sicherlich wertvoller als alle Bilder zusammen war. Manchmal legte er seine Yogamatte in den Raum, machte ein paar Übungen (Schulterstand, die Krähe sowie den fliegenden Hund). Er schlief auch dort, wenn Christina ewig lange in ihrem Biologie-Institut forschte. Er wachte dann morgens in der Galerie auf, räumte die Yogamatte beiseite, holte sich bei der Bäckerei ein Brötchen und machte Kaffee mit der Maschine »Primera Macchiato Touch Next Generation«, ein Geschenk seiner Mutter für den Neustart. Pünktlich um zehn Uhr öffnete Paul, er hätte auch um halb elf öffnen können, um zwanzig vor oder gar nicht, es machte keinen Unterschied, weil sowieso niemand kam. Oft dachte er schon beim Brötchen, dass er Punkt zehn öffnen und sich mit dem Essen beeilen müsste. Wenn die Disziplin stimmte, kam auch irgendwann der Erfolg, davon war er überzeugt.

Die Brunnenstraße war wirklich eine gute Straße, nur wurde sie durch die Bernauer Straße in zwei verschiedene Welten geteilt, in den besseren Osten und in den schlechteren Westen. Im Prinzip vertauschte hier die Welt, wie sie einmal war, komplett die Rollen. In der unteren, der »östlichen« Brunnenstraße gab es Hot-Spot-Cafés, Feinkostläden, Galerien, bei denen angeblich Limousinen mit russischen und chinesischen Händlern und Sammlern vorfuhren. Paul überlegte: Die Entfernung von der östlichen Brunnenstraße bis zu seiner Galerie in der westlichen Brunnenstraße betrug nur 250 Meter, er müsste einfach an den richtigen Stellen ein paar Hinweise lancieren, dass die Straße nach Westen noch weiterginge. Die Händler kamen aus Peking, Schanghai, Dubai, Moskau, Bombay, New York oder Miami Beach, da würden sie die restlichen Meter ja wohl auch noch zurücklegen können.

 

»Die östliche Brunnenstraße ist Mitte, aber die westliche Brunnenstraße Wedding. Das ist vielleicht das falsche Territorium?«, hatte Christina gesagt, als sie vor wenigen Tagen in die Galerie gekommen war, um ihn doch noch davon zu überzeugen, mit nach Barcelona zu gehen.

»Du tust ja so, als sei das hier Nordkorea! Zur östlichen Brunnenstraße sind es nur ein paar Meter. Ich weiß, dass der Wedding kommt! Neukölln und Pankow sind auch gekommen, da kommt der Wedding auch, das ist doch logisch, vor allem, wenn Mitte nur eine Minute entfernt ist«, erklärte Paul, man müsse sich an so eine Straße nur dranhängen, der Rest komme von alleine.

Ein nasser Hund lief in die Galerie, danach eine Mitarbeiterin aus Ginas Hundestudio mit einem riesigen Fön in der Hand. »So was machen wir doch nicht, du Süßer!«, sagte sie, »Frauchen wird mir was husten, wenn ich dich so patschnass abgebe!« Sie drängte ihn in eine Ecke, dann flüchtete der hysterische Hund aus der Galerie, die Frau vom Salon folgte.

»Scheißköter«, sagte Paul.

»Ich war noch nie in Neukölln. Wann soll das denn gekommen sein?«, fragte Christina.

»Da kannst du jeden Immobilienmakler fragen. Die Gegend hat in letzter Zeit angezogen in den Preisen, das wird hier auch passieren. Und wenn sich das Zentrum auf uns zubewegt, dann werden hier auch keine Hunde mehr gefönt. Stell dir vor, in der Brunnenstraße macht jetzt Tarantinos Bar auf, die Tarantino sogar selbst besuchen will, da hängen Original-Kill-Bill-Schwerter.«

»Okay, vielleicht ist es ja doch der richtige Ort. Erst kommt ein Hund und dann John Travolta«, sagte Christina und fuhr anschließend in ihr Institut, um sich von ihrem Professor zu verabschieden.

 

Insgesamt saß Paul schon seit ein paar Monaten in der westlichen Brunnenstraße und wartete auf den kommenden Wedding und den globalen Kunstmarkt, aber das Einzige, was in seiner Galerie ankam, waren die Pakete seiner Mutter. Es waren große, leichte Pakete, seine Mutter schickte ständig Pakete aus Lanzarote, wo sie lebte.

»Danke für die Post, aber ich glaube, der Salat ist vielleicht doch frischer, wenn ich ihn hier kaufe«, erklärte ihr Paul am Telefon, nachdem er aus dem Café in seine Galerie zurückgegangen war.

»Nein, der, den ich dir schicke, ist ein ganz besonderer. So einen habt ihr gar nicht in eurer vitaminlosen Großstadt«, entgegnete sie. »Vitaminlose Großstadt« war bei ihr schon ein feststehender Begriff, er bedeutete: In Berlin kann man nicht überleben, wie kann man nur freiwillig in so eine Stadt ziehen? Diese Stadt ist unorganisch, ohne richtige Nährstoffe, eine Mangelstadt, komm lieber zurück zu mir auf die Insel.

»Das ist ein ganz normaler Kopfsalat, den haben wir auch, den kriegt man in jedem Supermarkt«, sagte Paul, er hatte es schon oft gesagt.

»Als ich neulich in der vitaminlosen Stadt war, habe ich nur Schnittsalat in euren Supermärkten gesehen, ganz kraft- und energielose einzelne Blätter lagen da herum«, behauptete seine Mutter, die allerdings zuletzt in Berlin gewesen war, als es die Mauer noch gegeben hatte.

Vielleicht sah damals der Salat wirklich nicht gut aus, dachte Paul, weil er aus Westdeutschland geliefert und erst noch durch die DDR transportiert werden musste.

»Es kann schon sein«, räumte er ein, »dass es hier damals keine richtigen Salatfelder gab für Westberlin, aber das hat sich geändert seit der...

Erscheint lt. Verlag 9.5.2011
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erinnerungen • Familie • Humor • Kindheit • Kultur • Kunst • Künstler • Moritz Rinke • Vergangenheit • Worpswede
ISBN-10 3-462-30483-6 / 3462304836
ISBN-13 978-3-462-30483-1 / 9783462304831
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