Eine beinahe alltägliche Geschichte (eBook)

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2010 | 1. Auflage
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10681-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine beinahe alltägliche Geschichte -  Szilárd Rubin
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Um sich von den Strapazen seiner Liaison mit Piroska zu erholen, flüchtet der Schriftsteller Levente Rostás in ein Sanatorium. Da hockt er nun und blickt wehmütig und selbstironisch auf bewegte Jahre in Budapester Künstlerzirkeln zurück, auf frühere Erfolge und auf seine Kindheit in der Nachkriegszeit. Doch schon nach wenigen Tagen zeigt sich: Weder die Stille noch die Heilbäder können Rostás' Herz kurieren - immer wieder kreisen seine Gedanken um Piroska. Als er ebenso verzweifelt wie amüsiert allmählich einsieht, dass er mit dieser Frau nicht leben kann, doch ohne sie noch viel weniger, erreicht ihn ein Telegramm mit der Nachricht, dass sie auf dem Weg zu ihm sei ... Wie Rostás in den Bann von Piroska, so gerät der Leser unaufhaltsam in den Sog einer elektrisierenden und zugleich ins Absurde gesteigerten Liebesgeschichte. Ein virtuos erzählter Roman voller bezaubernder Bilder.

Der ungarische Autor Szilárd Rubin, geboren 1927 in Budapest, gestorben 2010, schrieb bereits seit den fünfziger Jahren. Würdigung als Autor von Weltrang erfuhr der geistreiche Melancholiker aber erst in den letzten Jahren seines Lebens. Als sein Roman «Kurze Geschichte von der ewigen Liebe» (1963 veröffentlicht, 2004 in Ungarn wiederentdeckt) 2009 in deutscher Sprache herauskam, löste er Begeisterung aus: Ihm gebührt, schrieb die FAZ, «ein Platz unter den aufregendsten Liebesromanen des 20. Jahrhunderts, auf Augenhöhe mit Scott Fitzgeralds ?Großem Gatsby?». 2010 erschien «Eine beinahe alltägliche Geschichte», 2012 «Die Wolfsgrube».

Der ungarische Autor Szilárd Rubin, geboren 1927 in Budapest, gestorben 2010, schrieb bereits seit den fünfziger Jahren. Würdigung als Autor von Weltrang erfuhr der geistreiche Melancholiker aber erst in den letzten Jahren seines Lebens. Als sein Roman «Kurze Geschichte von der ewigen Liebe» (1963 veröffentlicht, 2004 in Ungarn wiederentdeckt) 2009 in deutscher Sprache herauskam, löste er Begeisterung aus: Ihm gebührt, schrieb die FAZ, «ein Platz unter den aufregendsten Liebesromanen des 20. Jahrhunderts, auf Augenhöhe mit Scott Fitzgeralds ‹Großem Gatsby›». 2010 erschien «Eine beinahe alltägliche Geschichte», 2012 «Die Wolfsgrube».

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Trostloser als die einsamen Jahre, denen erst Piroska ein Ende gesetzt hatte – zumindest für eine Weile –, waren die zwischen Krankenzimmer und Badekabine verbrachten Tage auch nicht. Aber nachdem ich jetzt etwas hatte, worauf ich sehnsüchtig warten konnte, überkam mich die Lust, mich meinen Erinnerungen hinzugeben. Mit der Zeit entstand in meiner Krankenzelle auf diese Weise ein Manuskript, das eines Tages – so dachte ich – vom Schicksal beendet werden würde. Ob Piroska kam oder nicht, ob sie mich glücklich oder unglücklich machte: Was der Schlüssel zu einem Erlebnis und dem Schreiben darüber war – wer wusste das schon?

Ich fand mich mit der Ungewissheit und den Einzelheiten, die sich ohne mein Zutun fügten, letztendlich ab. Präzise wie Eisenbahnwaggons würde ich sie aneinandersetzen, würde jeden noch so kleinen Defekt in einem der Heizungsrohre oder der Bremsleitungen ausfindig machen und beheben müssen, würde die Räder alle einzeln auf ihren makellosen Klang hin abklopfen und vor allem im Auge behalten müssen, ob die Waggons ihren vorgesehenen Zielen entsprechend in der richtigen Reihenfolge auf dem Gleis standen.

Zwar war ich davon noch sehr weit entfernt, dennoch blieb ich manchmal, wenn ich frühmorgens zu meiner Badekabine schlich, an dem leeren Tisch im Gemeinschaftsraum stehen, wo der Buchhändler seine Ware auszubreiten pflegte, und stellte mir vor, mein Roman läge dort, auf dem Umschlag ein bezauberndes Delfinpaar. Vieles mochte sich noch ändern, doch diesbezüglich war ich mir sicher. Was sonst hätte ich wohl statt des dauernd in einer Wanne kauernden Patienten sein wollen, wenn nicht ein prächtiger Delfin – ein glücklicher, kluger Delfin, der mit seiner Partnerin durch das Salzwasserbecken glitt, die Hauptattraktion einer grandiosen Show. In vollendeter Harmonie wollte ich mit Piroska durch einen Reifen springen, während aus dem von Sonnenschein und Kinderlärm aufgeheizten Zuschauerraum tosender Applaus ertönte.

Meine Beziehung mit Piroska hätte in einer von weißen Lichtflecken durchsetzten blauen Stille ihren Anfang nehmen müssen, in der unendlichen Freiheit des Ozeans. Dann wären wir bei unserem Einzug ins Meeresaquarium bereits erprobte Lebenspartner gewesen.

So aber fand unsere erste Begegnung bei einer Sitzung des Roten Kreuzes in Kecskemét statt. Ich war damals Reporter für die Családi Lap, Piroska Bezirksabgeordnete. Kaum hatte ich den Festsaal des Rathauses betreten, als ich auch schon merkte, dass sie mich beobachtete. Wie ein als Mädchen verkleideter Kadett saß sie da, stolz und elegant, und heftete den stechenden Blick ihrer schwarzen Augen auf mich. Als wollte sie mir Angst einjagen! Ich nahm etwa zehn Reihen vor ihr Platz, spürte diese zwei wütenden Wespen jedoch die ganze Zeit über in meinem Nacken. Groß und kohlrabenschwarz waren ihre Augen. ‹Vielleicht bilde ich mir das nur ein›, dachte ich und drehte mich um. Das Augenpaar war noch immer auf mich gerichtet, ihr drohender Blick unverändert. Erst als mir Piroska durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass ich mich zu ihr setzen soll, begriff ich plötzlich, dass ich mich irrte: Ein Erwachsener glotzt einen Fremden nicht so an. Der trotzige Gesichtsausdruck und all die grundlosen Drohgebärden waren die eines Kindes.

Ohne mich darum zu scheren, dass die Reden bereits in vollem Gang waren, erhob ich mich, durchquerte den halben Saal und setzte mich neben sie.

«Darf ich?», flüsterte ich.

«Bitte!», erwiderte sie, und ihre Augen blitzten. Das war mehr als eine Drohung: Es war reine Gier. Mit diesem Blick wird sie einst ihrer Rassel gedroht haben oder einem Ball, dass er ja nicht wagte wegzurollen, wenn sie nach ihm griff.

Sie faszinierte mich, obwohl ich mich körperlich gar nicht zu ihr hingezogen fühlte. Sie war mir entschieden zu mager. Ihre Beine waren dünn wie Pfeifenstiele, die Strumpfhose warf stets Falten, egal, wie hoch Piroska sie auch zog. Der braune Flaum auf ihren Streichholzärmchen erweckte den Eindruck, ihre Haut wäre von langen schwarzen Haaren überzogen. Selbst der unwahrscheinlich winzige Nagel an ihrem kleinen Finger wirkte abstoßend auf mich. Schließlich bemerkte ich auch noch ihren Ehering.

Als sich der Saal in der Pause leerte, erzählte sie mir, dass sie seit Weihnachten verheiratet war, ihr Mann allerdings in Veszprém wohne, wo er als Ermittler bei der Polizei arbeite. Es sei schwer, dort wegzukommen. Sie habe mittlerweile ein Auto, sodass sie ihn an den Wochenenden besuchen könnte, wegen des Schnees ziehe sie es derzeit jedoch vor, zu Hause zu bleiben.

Obwohl ich merkte, dass sie sich gern mit mir unterhielt, machte ich mir keine Hoffnungen. Die Falten ihrer Strumpfhose schienen durch den Ehering nur noch größer geworden zu sein, und so hoffte ich, sie ohne Bedauern vergessen zu können. Als sie ihren Stimmzettel vor meinen Augen unterschrieb, nutzte ich nicht einmal die Gelegenheit, ihren Namen zu lesen. Nach dem Schlusswort gab ich ihr die Hand und ließ sie einfach stehen.

Doch schon am folgenden Tag fuhr Piroska mir nach – trotz des Schnees, der auf den Straßen lag. Sie wartete nicht einmal, bis sie in Budapest war, sondern hielt bereits am Stadtrand, mitten in der großen Kurve auf dem Plateau bei Kamaraerdő, stieg aus ihrem Wartburg und rief mich an.

Nur dass ich meines Wissens keine Piroska kannte. Übrigens auch sonst keine Frau, über deren Anruf ich mich gefreut hätte. Und so fragte ich sie mit unverhohlenem Desinteresse: «Entschuldigen Sie bitte, aber wer sind Sie eigentlich?»

Im Klaren darüber war ich mir auch im Morgengrauen noch nicht, und später, wenn ich zu Freunden über sie sprach, charakterisierte ich sie mangels besserer Einfälle für gewöhnlich anhand ihrer beiden Steckenpferde: Sie züchtete Kakteen und sammelte Bücher über Porzellan.

Während sie ihre Schwärmerei für Kakteen nur in vertrauter Runde äußerte, drängte Piroska ihre andere Leidenschaft gern allen Leuten auf. Dauernd zog sie Erkundigungen ein, ließ sich Neuerscheinungen nennen, tauschte ihr Wissen mit anderen Interessierten aus und versuchte sogar, Menschen zu begeistern, die Nippes völlig gleichgültig ließ. Ihr Interesse galt dabei ausschließlich den Abbildungen. Echtes Porzellan zu kaufen, zumal besonders edles und teures, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Fiel die Rede darauf, tat sie es als lächerliche Geldverschwendung ab.

Manchmal ersetzen Steckenpferde Eigenschaften, die uns fehlen, in anderen Fällen hingegen sind sie ein Abbild unserer selbst. Piroska glich einer riesigen Porzellanfigur, selbst in Kleidern, wobei die Schönheit des Materials – ähnlich wie bei bemaltem Porzellan – besser zur Geltung kam, wenn sie nackt war. Geriet sie hingegen in Wut, konnte man ihr die Ähnlichkeit mit einem Kaktus nicht absprechen: Ihre mit einem Rasierapparat kurzgeschorenen Haare standen dann allesamt zu Berge, ihre winzige Nase wurde noch spitzer, das Kinn noch kantiger, und ihre Augen stachen wie Stacheln. Welcher der über zweitausend Arten sie am ehesten entsprach, hätte nur ein Experte entscheiden können – womöglich sie selbst, aber noch war sie zu sehr auf der Suche, noch hatte sie sich selbst nicht ganz gefunden.

Darin lag wohl auch der Grund, dass sie an einem unausgefüllten Wochenende, das keine guten Aussichten versprach, bei Schnee und Matsch in ihren Wartburg stieg und die hundertfünfzig Kilometer nach Budapest fuhr, um bei mir ihr Glück zu versuchen. Wobei sie die fremde Junggesellenwohnung betrat wie eine ans Krankenbett ihrer Schwiegermutter gerufene Dorfpastorenfrau – mit einem Handarbeitskorb voller Wolle und Stricknadeln. Und ebenfalls aus diesem Grund dürfte sie sich zu teuren und unnützen Sachen hingezogen gefühlt haben, während sie selbst sparsamer war als die Königin Bertha von Burgund; diese Dame hatte, durch die Lande reitend, sogar auf dem Pferderücken gestrickt.

Piroska war erst ein Jahr zuvor als Zahnärztin zugelassen worden, das Dorf aber, in dem sie zu arbeiten beabsichtigte, hatte sie sich schon viel früher ausgeguckt – sie wusste nur zu gut, dass die Leute dort sehr wohlhabend waren. Noch während ihres Praktikums war sie des Öfteren hingefahren und hatte sich mit den wichtigsten Personen im Ort angefreundet. Als dann die neue Zahnarztpraxis und die dazugehörige Dienstwohnung gebaut wurden, hatte man sie dabei im Auge. Es war eine glückliche Wahl: Sie war von Anfang an der Liebling aller und wurde nicht nur verwöhnt, sondern auch respektiert. Den Dienst in der staatlichen Praxis durfte sie nach Herzenslust auf die Arbeit in ihrer Privatpraxis abstimmen. Innerhalb von wenigen Monaten legte sie ihre verhassten Studentenklamotten ab, kleidete sich in den Boutiquen der Innenstadt neu ein und sparte auf ein Auto. Bedauerlicherweise beging sie irgendwann den Fehler zu heiraten. Noch bevor sie ihren Wartburg abholen konnte, bereute sie die Entscheidung. Sie erkannte, dass sie nicht bereit war, mit einem Polizisten zusammenzuleben, der schon von Berufs wegen zur Gewalttätigkeit neigte. Also begab sie sich im Anschluss an ein qualvolles Wochenende zu einem Scheidungsanwalt und begann unverzüglich ihre sonntäglichen Touren mit dem Auto, genauer gesagt, sie begab sich auf die Suche nach einem passenden Lebenspartner – wobei sie um Veszprém einen großen Bogen machte.

All diese Schwänke gab sie mit einiger Selbstironie, doch ganz ohne Reue zum Besten – listig wie ein kleiner, boshafter Gnom. «Möglicherweise kommst auch du in Frage!», meinte sie kichernd, um dann ganz sanft und unerwartet unterwürfig hinzuzufügen: «Du bist so gut zu mir! Wenn du mich doch nur verhauen wolltest …»

Ich...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2010
Übersetzer Andrea Ikker
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Budapest • Liebe • Nachkriegszeit • Rückblick • Schriftsteller • Sehnsucht • Vergangenheit
ISBN-10 3-644-10681-9 / 3644106819
ISBN-13 978-3-644-10681-9 / 9783644106819
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