Das Gedächtnis der Libellen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-04135-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Gedächtnis der Libellen -  Marica Bodro?i?
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die Geschichte einer unmöglichen Liebe
Mit bewundernswerter Konsequenz erzählt Marica Bodro?ic von einer ebenso unbedingten wie widersprüchlichen Liebe. Und von einer Frau, die Abschied nehmen muss von ihren Illusionen über ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann. Und die sich fragen muss, wer sie am Ende ohne ihre Liebe ist.

Noch sind die Tage ungetrübt. Die junge Nadeshda fährt nach Amsterdam, um dort ihren Geliebten Ilja zu treffen. Sie hat Schuhe mit den höchsten Absätzen an und phantasiert sich Iljas Küssen entgegen. Doch was als lustvolle Reise beginnt, wirft Nadeshda völlig aus dem Gleichgewicht, bringt sie an ihre Grenzen und verändert ihre ganze Wahrnehmung von ihrer Liebe und sich selbst. Denn Nadeshda muss erkennen, dass sie in ihre Träume, Sehnsüchte und merkwürdig robusten Hoffnungen verstrickt ist, obwohl sie es besser hätte wissen können. Obwohl sie hätte sehen müssen, dass ihr Wunsch, den verheirateten Ilja ganz für sich zu gewinnen, nie in Erfüllung gehen wird. Denn Ilja hat sie nie hinters Licht geführt: Von der ersten Begegnung an sprach er davon, dass ihre Liebe keine Zukunft haben könne. Das hindert ihn aber keineswegs daran, Nadeshda dennoch weiterhin seine Liebe zu erklären.
Marica Bodro?ic hat den Roman einer ebenso unbedingten wie ausweglosen Liebe geschrieben. Einen Roman, der zugleich die Geschichte eines beispiellosen Verlusts erzählt. Denn Nadeshda muss am Ende nicht nur Abschied nehmen von dem Mann, den sie, das hatte sie sich geschworen, nie aufgeben würde. Sie muss vor allen Dingen auch Abschied nehmen von sich als der Liebenden dieses Mannes. Es ist ein Abschied, der sie zurückführt auf sich selbst, auf ihre Vergangenheit und den Libellen sammelnden Vater. Und all diese Abschiede wiegen deshalb so schwer, weil Nadeshda nicht absehen kann, wer sie ohne ihre Liebe ist.

Marica Bodro?i? wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodro?i? lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

1


Der Zug fährt langsam. Ich sitze im Großraumwagen. Mein Herz rast wie das Herz eines gejagten Tieres. Im Doppelschritt rast es, schon seit Stunden rast es. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, macht es eine Herzgejagte aus mir. Der Zug hält an der deutsch-holländischen Grenze. Offenbar hält er schon eine ganze Weile, ohne dass es mir auffällt. Meine Stiefel haben die höchsten Absätze, die ich auftreiben konnte. Ich habe mir die Stiefel für diese Reise gekauft. Ilja will mich vom Bahnhof abholen, Ilja, der beim Reden immer mit den Propheten in Konkurrenz tritt, er will mir alles über meine Zukunft sagen, ohne dass ich ihn darum gebeten habe.
Ich habe einen Direktzug von Berlin nach Amsterdam gebucht. Nie zuvor habe ich mir überhaupt nur vorstellen können, mit dieser Art Absatz zu laufen, schon gar nicht auf eine Auslandsreise zu gehen. Seitdem ich Ilja kenne, bin ich in allem von meiner alten Perspektive abgerückt. Wenn er bei mir ist, kommt mir alles Verrückte normal und alles Normale verrückt vor. Ich rufe mir Iljas Blick in Erinnerung, male mir aus, wie es sein wird, ihn dort in Amsterdam zu sehen, seine Augen zu sehen, in einem fremden Land, unter fremden Menschen, und es kommt mir so hoffnungslos selbstverständlich vor, dass ich diese Absätze trage, dass ich mir diese Schuhe für diese Reise gekauft habe, von der ich nicht weiß, wie sie ausgehen wird und ob wir glücklich sein werden oder nicht.
Im Zug ist es warm. Ich versuche zu lesen. Meine Gedanken sind kleine Insekten. Sie huschen von Gesicht zu Gesicht, von Fenster zu Fenster, von Koffer zu Koffer. Dann stehe ich auf und gehe von Abteil zu Abteil. Das Buch ist zum ersten Mal kein Freund, es öffnet mich nicht. Ich ziehe meinen Lippenstift nach, immer wieder, als könnte ich auf diese Weise meinen Mund im Hinblick auf die Unendlichkeit verschönern. Das Einzige was ich erreiche, ist aber nur ein klebriges Gefühl beim Schließen der Lippen. Es ist wie damals, in der Kindheit, als Preiselbeeren, Maulbeeren, Johannisbeeren und Himbeeren meine Ersatzschminke und Küsse nur Phantasiegebilde waren.
 
Ilja liebt meinen Mund. Er sagt es mir nie laut, nicht mit Worten, nur wenn wir uns küssen, spricht er dann so mit mir. Er beißt zuerst in den einen Mundwinkel, dann in den anderen. Danach arbeitet er sich gleich mit seiner Zunge zu meiner Mitte vor, zum Offenen, wo ich mit meiner Zunge schon ungeduldig auf ihn warte. Ich rolle meine Zunge zusammen, lege sie wie eine spitze kleine Waffe nach vorne, ganz weit nach vorne, und wenn er mit seinen Lippen zu meiner Mitte kommt, ziehe ich meine Waffenzunge zurück, ich locke ihn herein, ich will Ilja ganz haben. Ilja kommt, er kommt immer, so, dass ich ihn noch tiefer in meinen Mund hereinlasse, weil auch er mich jetzt in sich hineinzieht. Ich schwitze, am Hals, hinter den Ohren, unter den Achseln, ich stelle es mir schon im Zug vor, wie ich schwitze und nichts mehr außer Iljas Atem hören kann, wenn er bei mir ist, in einem noch nie zuvor gesehenen Zimmer, wenn sein Atem meine Ohren ausfüllen wird und wir endlich dieses unbekannte Zimmer für uns allein haben werden. Hautnachbarschaft. Mundnachbarschaft. Ilja, Tag und Nacht.
 
Ich sitze im Zug und warte auf seine Sätze, auf sein Gesicht, auf seine Hände, die warmen weiß leuchtenden Fingerkuppen, auf seinen Singsangwitz, der die ganze Spannung in unserem lauten Lachen auflöst. Ich träume seit Monaten von Iljas Händen. Warum ich seine Hände im Traum immer wieder genau vor mir sehe, das weiß ich nicht, aber seine Hände sind immer bei mir. Vielleicht träume ich von Beginn an von seinen Händen, weil ich weiß, dass sie nie für länger, schon gar nicht für immer bei mir bleiben werden. Traumhände bleiben nicht. Aber auch die echten Hände sind nicht bei mir geblieben.
 
Ilja hat zarte Hände, weiche Hände, viel zu zart und viel zu weich für einen Mann, der einen Krieg überlebt hat, noch ein Junge war, damals, als plötzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Straße lebensgefährliche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen stechen merkwürdig hervor, und die Daumen haben eine ganze Landkarte von unauflösbar verlaufenden Linien in sich aufgesogen, wie um den Blick auf sie zu lenken oder um genau damit in die Irre zu führen. Ilja sagt, das habe er von seinem Vater, so seien auch seine Hände, mit diesen vielen Linien, genau so seien die Hände des Vaters, die Hände eines gesamtjugoslawischen Matrosen, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Nur um Ilja eine Zigarette halten zu sehen, dafür würde ich für eine Stunde nach New York reisen, wenn ich nur seine Hände, seine Mundwinkel, seine Fingerkuppen sehen und ein bisschen mit ihm reden könnte. Ilja ist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Durch seine Anwesenheit wird die farblose Welt farbig und hell. Ich rieche Farben, so, wie man das Meer riechen kann oder geschälte Orangen oder den prallen lebensschwangeren Herbst.
 
Natürlich würde Ilja sofort Silenzio rufen, wenn er mich all das reden hören würde. Er würde sagen, Unsinn, das bist alles nur du selbst. Und er hätte ja Recht, ich selbst würde als Erste das Wort Unsinn sagen, sogar schreien, wenn mir jemand solche Dinge sagen würde, wenn es irgendjemand wäre, nur nicht, wenn es Ilja täte. Aber mit Ilja fühlt sich ein Nachmittag im Kaffeehaus an wie eine Zugreise in irgendeinen Süden, der einem gerade gehört, weil einem alles gehört, wenn man liebt. In einem Zug darf man alles denken. Schon seit meiner ersten Zugfahrt ist es immer so gewesen. Das Denken wurde mit dem Rattern der Räder freier, bis das Geräusch und die Gedanken ineinander verschmolzen.
Im Zug darf man sich auch so oft wie man will den Lippenstift neu auftragen, auf die hohen Absätze schauen und sich vorstellen, wie gut das aussehen wird, wie lang die Beine wirken werden, wenn ich aus dem Zug steige und Ilja mich dann umarmt, die Beine bestaunt, meine enge schwarze Hose, den roten Angorapullover mit den aufgenähten schwarzen Blättern.
Die Blätter bestehen aus winzigen Perlen. Oberhalb meiner festen kleinen Brüste ergeben sie ein Kranzmuster. Während ich mir in Gedanken ausmale, wie das Gefühl sein wird, in Amsterdam aus dem Zug zu steigen, mit diesen hohen Schuhen Ilja entgegenzulaufen, wird zum wiederholten Male in meinem echten Zug an einer echten Grenze eine echte Durchsage gemacht. Nicht einmal den Namen des Ortes habe ich mir gemerkt. Weiter geht es mit dem Bus, es ist mitten in der Nacht, und ich habe nichts, woran ich mich festhalten kann. Den Koffer hat man mir an der Tür abgenommen.
 
Im Bus sagt eine Art Kapitän mit imposant blaugelber Mütze, dass wir in einem holländischen Städtchen in einen anderen Zug umsteigen müssen. Dieses Mal schwitze ich nicht aus Sehnsucht nach Ilja, sondern wenn ich an meine Schuhe denke, wegen der Mühe, die ich beim Laufen haben werde. Meine Gedanken verdichten sich, huschen wie Insekten durch meinen Kopf. Nach drei Minuten in den Schuhen und in meinem roten Angorapullover bin ich schon so nass geworden, dass ich den Eindruck erwecke, gänzlich dem Element Wasser anzugehören. Wenn mich meine Freundin Arjeta so gesehen hätte, wäre sie in lautes Lachen ausgebrochen. Den roten Angorapullover habe ich in Paris gekauft, damals, als Arjeta und ich dort zur gleichen Zeit gelebt haben.
 
Bei Sèvres-Babylone stiegen wir immer aus der Métro und trieben uns stundenlang auf dem Boulevard Raspail herum. Manchmal, wenn es im Winter kalt war, auch im vornehmen Kaufhaus Bonmarché, wo man uns schon an der Nasenspitze ansah, dass die paar Francs, die wir in unseren Taschen hatten, nicht einmal für einen Café crème in einem der guten Cafés reichten. Ganze Nachmittage verbrachten wir in den teueren Boutiquen, ohne je etwas zu kaufen. La nouvelle collection, wir kannten sie auswendig. Einmal, als ich nach einer solchen Reise durch die Welt der neuen Kleider den Boulevard Raspail überquerte, traf ich mitten auf der Straße den Schriftsteller Milan Kundera. Er blieb einen kurzen Augenblick lang stehen, sah meine roten Netzturnschuhe an, sie trugen den Namen no name, und er sagte, was für gute Schuhe du hast. Danke Herr Kundera, sagte ich, und er winkte mir noch auf eine Art nach, wie sich Leute in Filmen zuwinken. Ich glaube, er war glücklich, dass ich ihn erkannt habe. Er sah alt und freundlich aus und natürlich sehr eitel, wie auf den seltenen Bildern, die es noch von ihm gibt. Danach habe ich meine roten Turnschuhe wie eine Gottheit behandelt. Ich war nie vorher auf den Gedanken gekommen, dass sie etwas Besonderes sein könnten.
Ilja mag Kundera nicht, er glaubt ihm nicht. Ilja sagt, Kundera sei ein richtig schlechter Schriftsteller. Sogar sein bekanntestes Buch Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins kann Ilja nicht ausstehen. Aber in Wirklichkeit verübelt er es ihm, dass er seine Literatursprache gewechselt hat, dass er das Tschechische zugunsten des Französischen verlassen, also auch verraten hat. Ilja selbst ist nicht in der Lage, sich von seinen Wurzeln abzuschneiden. Er gibt es auch zu, er sagt, ich weiß, dass ich kein Baum bin, aber dennoch wachsen meine Wurzeln in Sarajevo weiter, wo auch immer ich hingehe, wachsen sie dort weiter, wo ich zur Welt gekommen bin. Es ist ihm klar, dass er das Goldene Zeitalter – so nennt er seine verlorene Kindheit – nicht mehr zurückholen kann, dass es für immer vorbei ist. Aber er spricht dieses große Wort ganz beiläufig aus, so, wie man das Wort Fußballplatz oder Schornstein...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2010
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Bodrozic • eBooks • Erkenntnis • Frankreich • Frau • Gegenwartsliteratur • Geliebte • Hoffnung • Identität • Irrglaube • Liebe • Liebesromane • Lüge • Reise • Roman • Romane • Sehnsucht • Selbsterkenntnis • Traum • Walter-Hasenclever-Preis
ISBN-10 3-641-04135-X / 364104135X
ISBN-13 978-3-641-04135-9 / 9783641041359
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 977 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99