Vorliebe (eBook)

Roman
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2010 | 1. Auflage
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-04255-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vorliebe -  Ulrike Draesner
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Die Liebe ist eine Wissenschaft für sich
Ein Wiedersehen, das einschlägt wie ein Blitz: plötzlich steht die Astrophysikerin Harriet ihrer großen Liebe von einst gegenüber. Und allmählich, aber unaufhaltsam, gerät ihr bisheriges Leben aus seiner geordneten Umlaufbahn.

Harriet, halbindisch, mathematikbegeistert, macht in ihrem Beruf aus wissenschaftlichen Daten schöne kosmische Bilder, ein wenig Lüge darf dabei schon sein. Auch zuhause scheint alles gut eingerichtet mit Partner Ash und Ben, dessen Sohn aus einer früheren Beziehung. Doch dann fährt Ash mit dem Auto ausgerechnet die Frau von Harriets Jugendliebe an, und Peter, der Mann, den sie längst vergessen zu haben glaubte, tritt von neuem in ihr Leben. Ein vermeintlich harmloses Liebesgetändel beginnt: Man ist ja offen, Heimlichkeiten und Eifersucht sind antiquiert, man verhält sich den Klischees der Gefühlswelt gegenüber abgeklärt. Doch Ulrike Draesner schickt die Heldinnen und Helden ihres neuen Romans auf wunderbar verspielte Weise in ein irrlichterndes Labyrinth aus romantischen Verwicklungen, das eine der Figuren nicht lebend verlassen wird.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.

I
Weiß, die Lichtmischung aller Farben auf einer Wand, weiß, der Sturz in den Schnee auf der Nordseite des Kailash, eine Frühlingswiese weiß gesprenkelt, das Weiß eines menschlichen Auges, der hineingemalte verborgene Glanz, das Weiß der Albedo, der Erde Widerschein im All. Weiß die Sekunden in der Parabel, Flug um Flug, Sturz um Sturz, das Weiß der Rotation, als noch einmal etwas aus ihrem Schädel dringt, obwohl ihr Gehirn sich bereits außerhalb der Knochen befindet – von Neuem wölbt es sich aus, presst durch kleinste Ritzen nach unten und außen, Beschleunigung auf höchster Stufe, weiß, die Erinnerung an Peter, der Widerstrahl eines Horizonts, ein Lachen inmitten des Strudels jetzt, noch tieferes, sattes, saugendes Weiß.
Sieben Minuten. Sie lösten die Halterungen. An ihren Mitbewerbern hatte Harriet gesehen, wie grün ein Mensch werden kann.
Der Arzt sagte: »Machen Sie zuhause eine Flasche Sekt auf.«
Von Sekt wurde ihr übel, aber noch im Gang steckte sie sich eine Zigarette an. Ausgefeilte Tests, international besetzte Kommissionen. Wollte sie wirklich ins All, von dem gerade sie wissen musste, dass es nichts war als – Nichts?
Sie übte Sätze für die Auswahlverfahren. »Habe meine Männer als Triebwerke verwendet.« Schlecht. Außerdem stimmte es nicht.
»Ins All, um der Menschheit zu dienen.« Klischiert, nützlich.
»Weil ich mich für geeignet halte.« Auf den ersten Blick schlechter als auf den zweiten.
»Weil ich immer schon neugierig war.« »Weil ich den Kopf dafür habe.« »Weil ich das Ding fliegen kann.«
Und dann, fürs Ende, eine Überraschung. Tausend Mal im Geist durchgespielt, mit einem Psychologenteam beraten. Das sagte: »Rücken Sie mit der Wahrheit heraus!«
Der Wahrheit?
Die Psychologen, ein Pärchen, lächelten und zeigten das Schema-Bild einer Sojusrakete, die vordere Verkleidung fehlte, man sah Computer und Messinstrumente, die von Maschinen und Kabeln dargebotenen Sitze. Sich anschließen, einstöpseln, überlassen. Chips würden sie fliegen, Chips am Gehirn sitzen. Blutwerte, Hormone, neueste Fragestellungen, der Mensch als Versuchshäschen im All. Untergehen mit dem Labor, falls es explodierte oder verglühte. Die Kapseln eng, wie Hundekäfige klein.
Umso besser waren Harriets Messwerte. Auch nach der Rotation. Ihr wurde nicht schlecht. Mit dem Rauchen würde sie aufhören müssen. Im Übrigen suchte man durchaus ältere Kandidaten. Ovulation, IQ, Ruhepuls. Das jahrelange Rudern in Norwegen – jetzt nützte es. Jetzt fügte alles sich zusammen. Wie grotesk.
»Sie fliegen ja schon.«
Das feste Ende des Beschleunigers steckte auf einem mächtigen, sich in der Mitte des Raums aus dem Boden schiebenden Zapfen. Der Rest glich einem langen Löffel, in dessen Schöpfkelle der Proband kriechen musste. Da lag man wie in einem körpergeformten Sarg, tarngrau, kotzsicherer Anzug inklusive. Man wurde angeschnallt, alle verließen den Raum, die Klappe fuhr zu.
Wer Platzangst hatte, starb sofort.
Der Rest wurde von einer Kamera gefilmt.
Der Arzt sagte: »Kosmos! Jahrzehntelang wollte da niemand hin. Jetzt jeder. Wie die Lemminge, die Lemminge.«
»Das ist Walt Disney«, sagte Harriet.
Bei Walt Disney sahen Lemminge aus wie eine Kreuzung aus Meerschweinchen, Hase und Maus und stürzten sich in den Tod.
Spöttisch zog der Mann vom European Astronaut Center die Augenbrauen hoch. Er glich einem Piraten aus einem alten Entdeckerbuch. Hatte bestimmt schon viele Astronautenkandidaten scheitern sehen.
Erst in den letzten Sekunden, die Klappe schloss sich bereits, war es der Kamera gelungen, die Angst in Harriets Augen einzufangen.
Sie hatte keine Angst gehabt. Der Körper hatte die Angst, sie fühlte nichts. In drei Stunden fuhr sie zurück ins Institut für Extraterrestrische Physik. Fühllosigkeit hatte sie trainiert.
Nach dem Experiment zeigte man ihr den Film. Von außen glich die Maschine dem wahnsinnig gewordenen Zeiger einer Uhr. Harriet sah sich in sein verdicktes Ende kriechen. In den Schöpfer.
Die Beschleunigung begann. Es gab eine kritische Grenze, bei der die inneren Organe platzten. Man ging so nahe wie möglich heran. Berührungslos, etwa 15 Zentimeter über dem Boden, raste der Zeiger, in dessen Spitze sie lag, durch den weiß gestrichenen, kreisrunden Raum. Er wurde so schnell, dass er keinen Schatten mehr warf.
»Wollen Sie wirklich ins All?«

1


Sekt, Rauch, Reste der Rotation: sie öffnete ein weißes Fenster und da war er wieder, drehte den Kopf nach rechts und bemühte sich, nicht zu streng zu schauen. Das Blau seiner Augen, sie nannte es donaublau, die Donau floss stark, nur anfangs versickerte sie fast, das Blau seiner Augen schien oft kühl, manche sagten »zu forschend«, und lachten über den Forscher Ash. Da war er und sah wie immer ein wenig nach Schachtel aus, der Körper eckig, aber weich, eine Schachtel Kelloggs, rotblonder Wusch Haar obenauf. Da war er an diesem Montagmorgen im Juni, roch zu stark nach Rasierwasser und fuhr quer durch die Stadt, weil Anka, die Mutter seines Sohns, in einem anderen Viertel lebte und Ben dort zur Schule ging. Der Vater sah ihn jedes zweite Wochenende; seit 25 Minuten waren sie unterwegs, zehn hatten sie einkalkuliert. Ben, ein langes Stück locker zusammengesetzter Glieder auf dem Beifahrersitz, stierer Blick geradeaus, rötliche Locke in der Stirn, rührte sich nicht.
So ähnlich muss es gewesen sein, Ashley hat es Harriet später mehrfach erzählt. Laster blockierten den rechten Fahrstreifen, man drängelte, fluchte, blieb eingekeilt.
»Mädchen schubsen«, sagte Ash. »In deinem Alter!«
Ben schwieg.
»Und nach dem Kung-Fu-Kurs!«
Als wäre das das Rätselhafteste daran.
Unter Bens Sitz schimmerte ein Plastikgriff hervor.
»Die gehört mir nich«, rief der Sohn, »die iss doch von dir!«
Er versuchte, die Tüte mit dem Fuß unter das Gestell zu stopfen. Er wurde rot. Laster blockierten den rechten Fahrstreifen, Gourmet-Lieferwagen mühten sich Restaurants entgegen. Der Citroën tuckerte ein Stück voran, eine Hand von rechts drehte am Radio, eine andere, von links, drehte es aus. Der Arm des Jungen war bald so dick wie der seines Vaters; die Uhr, die er trug, war größer.
An der Kirche, wo die Straße zur Schule abzweigte, sprang die Ampel auf Stop. Ashley wollte es noch einmal versuchen. Ben sah vor allem müde aus. Bestimmt hatte er wieder die halbe Nacht am Computer gespielt.
»Warum, Bennie, müssen wir das über die Mutter der Betroffenen erfahren?«
»W-I-R?« Mit höhnischem Unterton: »Meinst du damit meine Mutter und dich?«
Die linke Gesichtshälfte des Sohnes grinste, Ash sah es nur aus dem Augenwinkel, die Ampel zeigte Grün.
»Du musst dich bei dem Mädchen entschuldigen, das ist auch Ankas Meinung.«
Geraschel. Vermutlich suchte Ben den iPod. Ash fiel ein, dass er seinem Sohn nichts für die Pause mitgegeben hatte. Ben nahm Bounty oder Geld.
»Hast du das abgesprochen, mit ihr«, fragte das Kind. »Habt ihr miteinander …«
»Wir telefonieren jetzt öfter, ja.«
Ashley schaute vor dem Abbiegen wie vorgeschrieben nach rechts, blieb aber am Gesicht seines Sohns hängen, der ihn ansah, zum ersten Mal an diesem Morgen. Er erschrak: alles hätte er erwartet, nur dies nicht, das spatzengleiche Flattern von etwas wie Hoffnung in Bens Augen.
Lächerlich, dachte der Ingenieur noch.
 
Wenn Ash davon erzählte und ganz von vorn anfing, wusste Harriet, dass er wieder mit Sekunden haderte – eine Sekunde nur früher oder später, und nichts wäre passiert. Der Citroën stammte aus England, ein Geschenk seiner Mutter, die wegen ihres grünen Stars nicht mehr fahren konnte; natürlich war er perfekt auf den Rechtsverkehr umgebaut, natürlich ohne die amerikanische Warnung »objects in mirror are closer than they appear« auf dem Außenspiegel, auf der Insel kannte man solche Zurufe nicht, und auf der linken Seite war es auch egal, denn rechts traf die Wagenflanke auf einen Reifen, der wegglitt wie Marmite, sagte Ash, auf ein Schutzblech, das sich bog wie ein Lasso, und auf einen Kopf, der, ganz und gar nicht nachgebend, gegen den Kotflügel prallte, Stirn voran.
Auto gegen Fahrrad.
Beim Rechtsabbiegen.
Er schaute nach Ben, ihm galt seine erste Sorge, erst dann sprang er aus dem Wagen. Ben, mit einem wieder seltsam kindlichen, ganz und gar erstaunten Gesicht.
Am Küchentisch bei einem Kakao versuchte Harriet den Sohn auszufragen. Hatte Ash nicht eine Plastiktüte dabei? Ben sagte, schlagartig sei ihm da im Auto klar geworden, dass der Angefahrene unmittelbar vor ihm lag, fast neben seinen Füßen, nur durch ein dünnes Stück Blech von ihm getrennt. Und da frage sie nach einer Plastiktüte! Rasch sei er, Füße und Beine voran, zur Fahrertür hinausgeklettert. Den Fall des Radfahrers hätten weder sein Vater noch er gehört.
Selbst in der Zeit unmittelbar nach dem Unfall sprach Ash nicht oft von diesem Morgen; anfangs hörte Harriet nicht richtig zu, später zeigte er ihr immerhin das Polizeiprotokoll. Zeugen behaupteten, dass das Opfer keineswegs zu schnell fuhr, dass der Volvo blau war, nein grün, dass der Fahrer allein darin saß, dass er eine junge Frau dabei hatte, orangefarbenes Top, nein, dass es ein dunkelhaariger Junge war, der Junge hinten, die Frau vorn.
Der Radfahrer war schräg über den Lenker gestürzt, ohne Helm, Kopf voran.
Ash sagte: ich...

Erscheint lt. Verlag 23.6.2010
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgeklärtheit • eBooks • Emotionen • Gefühle • Liebe • Liebesromane • Roman • Romane • Romantik • Wissenschaftlerin
ISBN-10 3-641-04255-0 / 3641042550
ISBN-13 978-3-641-04255-4 / 9783641042554
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