Frau im Schatten (eBook)

Eine Familiengeschichte
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
368 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40270-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frau im Schatten -  Dorinde van Oort
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Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie keinem Familienfoto mehr trauen  Bei der Beerdigung ihrer fast 100-jährigen Großmutter Annetje Beets bemerkt Emma das seltsame Verhalten einiger Trauergäste. Sie spürt, dass es da etwas geben muss, von dem niemand wissen soll, und beginnt, Nachforschungen anzustellen. Dabei stößt sie auf die unglaubliche Lebensgeschichte von Annetje. Einst ein unschuldiges junges Mädchen, jedoch von mächtigen Männern begehrt und rücksichtslos aus-genutzt, wird sie am Ende zur skrupellosen Täterin in einem fesselnden Familiendrama.

Dorinde van Oort, Jahrgang 1946, studierte Anglistik und arbeitete lange als Journalistin, unter anderem für >Het Parool<, >de Volkskrant< und >NRC Handelsblad<. Sie schrieb die Kurzgeschichtensammlung >Mädchen für halbe Nächte< und den Roman >Frauenfleisch<. Mit der halbbiographischen Familiengeschichte >Frau im Schatten< ist ihr in den Niederlanden ein großer Bestseller gelungen.

Dorinde van Oort, Jahrgang 1946, studierte Anglistik und arbeitete lange als Journalistin, unter anderem für ›Het Parool‹, ›de Volkskrant‹ und ›NRC Handelsblad‹. Sie schrieb die Kurzgeschichtensammlung ›Mädchen für halbe Nächte‹ und den Roman ›Frauenfleisch‹. Mit der halbbiographischen Familiengeschichte ›Frau im Schatten‹ ist ihr in den Niederlanden ein großer Bestseller gelungen.

Annetjes Beerdigung und danach


Im Frühjahr 1988 starb meine Oma Annetje, im Alter von fast hundert Jahren. Der Sarg stand auf dem Podium, wir warteten auf ein Abschiedswort.

Alle Blicke waren auf meinen Vater gerichtet, Lepel Mansborg, Oma Annetjes Stiefsohn, Erben und Testamentsvollstrecker. Doch er fühle sich nicht berufen, hatte mein Vater gemurmelt.

Auch Onkel Piet und Rob hatten abgewinkt. Piet befürchtete, er könnte von Rührung übermannt werden – er hing sehr an seiner Tante; und Onkel Rob war der Ansicht, dass er »gute Aussichten habe, Mittelpunkt der nächsten Trauerfeier zu werden«. Die Brüder saßen nebeneinander, ihre Frauen zu beiden Seiten, und gedachten ihrer Tante nur stumm.

So fiel das letzte Wort an meinen Onkel Henk, den jüngsten Spross aus Großvaters erster Ehe, der als Buchhalter immer schon die Finanzen für seinen Vater geregelt und Oma Annetje auch nach dessen Tod stets zur Seite gestanden hatte.

Onkel Henk entfaltete ein Bündel vollgeschriebener Blätter und suchte lange nach seiner Brille, die ihm schließlich unter dem gedämpften Gelächter der Trauergemeinde von seiner Frau Flor gebracht wurde.

Die Mansborgs und Beetsens machten es sich bequem, die Mansborgs erkennbar an der hohen Stirn mit den senkrecht abstehenden Locken, die bei den Männern von tiefen Geheimratsecken zurückgedrängt wurden, die Beetsens an Oma Annetjes spitzer Nase und schweren Augenlidern.

»Bei Menschen, die so alt geworden sind wie Annetje, wird manchmal vergessen, dass sie auch einmal jung gewesen sind. Deswegen möchte ich zu Anfang Annetjes jüngeren Jahren ein paar Worte widmen.«

Oma Annetjes Leben passierte Revue: ihre Geburt im Jahr 1888, in Purmerend, als viertes von neun Kindern; ihre schauspielerischen Leistungen als junges Mädchen; ihr Entschluss, eine Schwesternausbildung zu machen … Onkel Henk stellte mit fachmännischer Präzision die Bilanz ihres Lebens auf. Es war alles seit langem bekannt und meine eigenen Erinnerungen drängten sich durch die Spalten und Fugen der Ansprache. Ich war noch so erschüttert von Oma Annetjes Ende, dass ich es jetzt nicht schaffte, mich auf ihren Lebenslauf zu konzentrieren.

Ich dachte an meinen letzten Besuch bei ihr, der noch gar nicht so lange zurücklag. Sie war aus ihrem überheizten Zimmer im Seniorenheim herausgekommen, das vollgestopft war mit Reliquien; verschreckt, argwöhnisch, ungläubig, als hätte sie einen Einbrecher ertappt. Das spitze, früher so hübsche Gesicht war zu einer faltigen Hülse geschrumpft. Die Nase lang und scharf, die Augenlider tief über die Augen gesunken, was ihr etwas Durchtriebenes gab. Die weißen Haare, noch bis vor kurzem hochgesteckt – eitel, so lange es ging –, hingen ihr in gelblichen Strähnen über die Schultern.

»Oma Annetje, erkennst du mich nicht? Ich bin’s, deine Enkelin Emma.«

Ich hatte ihr Pralinen mitgebracht – Ananas mit Schokolade, die von früher. Oma Annetje griff nach der Tüte, schüttelte die Pralinen heraus, setzte sich und begann gierig zu futtern. Sie aß alle auf.

»Meine Eltern waren da«, fiel ihr plötzlich ein. »Meine Mutter saß da« – sie zeigte auf Großvaters ehemaligen Stuhl – »und mein Vater da« – (ihr Bett). »Aber plötzlich waren sie weg. Ich hab noch drunter nachgesehen, aber da waren sie auch nicht.«

Ihre Eltern – gekommen, um sie zu holen. Sie thronten, eingerahmt, oben auf ihrem Sekretär, steif nebeneinander platziert an ihrem 40. Hochzeitstag: Oktober 1916. Ihre neun Kinder der Größe nach hinter ihnen: Vera, Annetje und Jopie in weißen Spitzenkleidern, fünf Brüder im dunklen Anzug, nur der Älteste in Uniform.

»Ach, Mädel. Wo du gerade da bist. Ich hab einen Brief bekommen, Moment …« Sie suchte, langsam, mit tastenden Händen, in dem kleinen Stapel neben dem Telefon. Einkaufszettel. Anweisungen für Familienmitglieder, von denen die meisten schon tot waren. Seit ihrer Vertreibung aus Vosseveld im Jahr 1959 hatte sie jedem, der es hören wollte, ihr baldiges Ende angekündigt. Auf Nachttisch und Fernseher lagen letzte Verfügungen und ihr Testament.

Mary, bitte drum kümmern, las ich. Davon, dass meine Mutter ihr im Tod vorausgegangen war, wollte sie nichts wissen. Selbst wenn es so war, rechnete sie weiter auf sie: Der Tod war keine Ausrede. Mary, dies bitte durchsehen nach meinem Ableben.

DAS DATUM ERZÄHLT DIE WAHRHEIT, stand, in einer noch rüstigen Handschrift, auf einem vergilbten Umschlag, der schon etliche Jahre alt sein musste. Auf der aktuellen Fernsehzeitschrift befanden sich Notizen aus jüngerer Zeit, die erheblich kryptischer aussahen.

Schließlich fand ich den Brief, den sie meinte. Er war von Lous Oud.

Onkel Henk hatte währenddessen immer weitergeredet, er rühmte Oma Annetjes Tüchtigkeit und Durchsetzungsvermögen und erinnerte daran, wie sie nach ihrem Abschluss in Allgemeiner Krankenpflege im damals renommiertesten Krankenhaus des Landes, dem Wilhelmina-Hospital, ihre Ausbildung zur Wochenpflegerin gemacht hatte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs.

Bei mir rief das Bild von Oma Annetje als Krankenschwester nur Assoziationen an unsere eigenen Jahre in Vosseveld wach. Oma Annetjes Teewagen (den wir zum Puppenbett umfunktioniert hatten), beladen mit Thermometern, Spucknäpfen, Jod, Pflastern, Gazestücken und Dosen mit Pfefferminzdrops und Wybertpastillen, mit deren Hilfe meine Schwester Lieske und ich unsere Puppen im Nu von den grauenhaftesten Krankheiten heilten. Ich dachte an die Schwesternschürzen, die sie auf ihrer alten Nähmaschine für Lieske und mich genäht hatte – exakte Nachbildungen ihrer eigenen Schürzen, die wir von den Krankenhausfotos in ihrem Album kannten. Und ich dachte auch an ihr schwarzes Notizbuch: Lehrgang 1914, das ihr immer als Ratgeber gedient hatte und aus dem sie auf Wunsch markante Passagen zitierte:

… kommt es zu einem Gallengangverschluss, dann häuft sich Galle in der Leber auf und gelangt so schließlich ins Blut. Stuhl sieht dann weiß aus, ist träge und übelriechend, Urin ist sehr gelb

Lauge am häufigsten. Salzsäure, durch schludrige Lagerung. Verleiht der Haut pergamentartige Farbe. Arsen: wird im Volk gebraucht für Mäuse und Ratten – schmerzhaft (ungefähr 8 Tage) – Kokain wird viel als Genussmittel verwendet – Sublimat (Quecksilberchlorid) erzeugt Doppelbilder. In schweren Fällen auch tödlich …

Dann der Arzneikasten im Badezimmer, oben drin die Glastöpfchen: Arsen, Borwasser, Schwefel, die unter keinen Umständen anzufassen wir hoch und heilig versprechen mussten. Inzwischen hatte Onkel Henk Oma Annetjes Jahre als selbstständige Wochenpflegerin abgehandelt und war jetzt bei dem Zeitpunkt angelangt, als die Familie Oud in ihr Leben trat.

Die ewigen Ouds. Allein schon bei der Erwähnung des berühmten Namens hatten Oma Annetjes Augen verschwommen zu glänzen begonnen. Interviews mit den prominenten Männern wurden aus Zeitungen ausgeschnitten. In den letzten Jahrzehnten hatte das Porträt des alten Oud sogar in trautem Einvernehmen neben dem ihres Mannes auf dem Nachttisch gestanden. Die Ouds gehörten zu Oma Annetje so wie ihre Passionsblumen im gekachelten Blumenbehälter von Vosseveld. Der Kontakt zur Familie war freilich im Laufe der Jahre eingeschlafen und lief nur noch über Lous Oud, die Witwe von Ko Oud, dem Architekten. Lou hatte bis zuletzt Geburtstags- und Hochzeitskarten mit ihren wöchentlichen Monologen mitgeschickt, die sie dann schloss mit: »Für denjenigen, der das vorliest, Mary, Tini? Einfach was Nettes, um sie zu beschäftigen. Grüße, Lous.«

Wo war sie eigentlich heute? Ich sah mich um. Tatsächlich. Die pergamentene Dame im Pelz in der hintersten Reihe – das musste sie sein.

Wie die Verbindung mit der berühmten Familie zustande gekommen war, hatte ich mich nie gefragt. Ich versuchte, mich wieder auf Onkel Henks Bericht zu konzentrieren.

»Es war in ihrer Eigenschaft als Krankenschwester, dass Ann im Jahre 1919 ihrem viel älteren Mitbürger H. C. Oud – dem Vater des Politikers und des Architekten – bei der Pflege seiner Gattin zur Seite stand. Frau Oud war nervenkrank, und als sie in eine Heilanstalt aufgenommen werden musste, fragte der alte Herr Oud, ob Ann bei ihm bleiben wolle. Obwohl es nie zu einer gesetzlichen Ehe kam, ist Ann tatsächlich bei ihm geblieben, bis zu seinem Tod, am 1. September 1939. Ich erinnere mich noch so gut an das Datum, weil es der Tag war, an dem der Zweite Weltkrieg begann.«

Jetzt kamen wir allmählich auf vertrautes Gebiet. Mein Vater, Lepel Mansborg, hatte uns oft erzählt, wie Pij, seine Mutter, mit ihrem Liebhaber durchgebrannt war; wie sein Vater und er damals unversorgt und verwahrlost zurückgeblieben waren, bis Oma Annetje als rettender Engel vom Himmel gefallen war und sich um die beiden Männer gekümmert hatte. Erst nach jahrelangem Zögern war sie auf Großvaters Heiratswunsch eingegangen.

Mit dieser Eheschließung war meine eigene Geschichte in Gang gesetzt worden. Ich, Emma Mansborg, kann ohne Übertreibung behaupten, dass es mich ohne Oma Annetje nicht gäbe. Sie war es ja, die ihre Lieblingsnichte Mary, meine Mutter, mit ihrem taufrischen Stiefsohn Lepel verkuppelt hat – meinem späteren Vater. Die unentwirrbare Verstrickung von Schwieger und Stief, die das zur Folge hatte, hatte Oma Annetje ihre zentrale Position in der Familie verschafft. Selber niemandes Mutter, war sie doch mit jedem verwandt – durch Bande, die ebenso zäh und unausrottbar waren wie die Efeuranken...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2010
Übersetzer Matthias Müller
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amsterdam • autobiografische Familiengeschichte • Belletristik • Bestseller • eBook • Familiendrama • Familiengeheimnis • Familienkrimi • Familienroman • Frauenliteratur • Frauenschicksal • gesellschaftliche Konventionen • Gesellschaftliche Zwänge • Lebensgeschichte • Liebe • Moralvorstellungen • Niederlande • Rotterdam • Uneheliches Kind
ISBN-10 3-423-40270-9 / 3423402709
ISBN-13 978-3-423-40270-5 / 9783423402705
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