Kältere Schichten der Luft (eBook)

Roman
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2009 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400125-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kältere Schichten der Luft -  Antje Rávik Strubel
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Ein Kanu-Camp in Schweden. Hier arbeiten Aussteiger, Abenteuersuchende, Arbeitslose und Naturfreaks. Für einige Sommerwochen retten sie sich in eine kulturferne Landschaft. Auch Anja hat sich aus ihrem deutschen Kleinstadtalltag geflüchtet. Sie sucht Ruhe, doch sie wird überrascht von einer Leidenschaft: Eines Tages steht eine fremde junge Frau am See und legt Anja die Arme um den Hals und entführt sie in ein unbewohntes Haus. Sie gibt ihr den Namen ihres verlorenen Geliebten, des Schiffsjungen Schmoll. Doch der Zauber, die nachgeholte Unschuld dieser ersten Liebe, wird bald vergiftet durch den Argwohn und die Übergriffe der Campbewohner. Angst und Verstörung bedrohen nicht nur die Phantasien, sondern auch die Realität der beiden Frauen. Aus Aggression wird schließlich tödliche Gewalt. »Sie saß nur eine Bootslänge weit weg von mir, wir waren allein auf dem See, zwei Nachtgestalten, deren Schatten auf dem Wasser einander ähnlich waren, während sich zwei andere, ungleichere, entferntere irgendwo berührten.«

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essay-Band »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essay-Band »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Nur die Taubheit war nachts immer noch da. Ich hörte auf die Geräusche. Sie waren auf dem erhöhten Plateau, auf dem der Grasplatz lag, besonders deutlich. Die Reißverschlüsse an den Zelten der anderen, der harte Klang, mit dem die Wellen ans Ufer schlugen. N’Sync kam mit dem Wind aus Lennartsfors. Über der Tankstelle wohnte eine Rockerin, sie gab regelmäßig Parties. Die Musik wurde durch die Entfernung weicher, die Töne verschliffen.

Später waren die Schreie der Tiere zu hören. Es klang, als umringten sie dichtgedrängt den ganzen See, ihr Rufen schwoll an, ein tiefes, hohles Klagen. Es war ein Ton, der auf derselben Höhe lag wie die Einsamkeit hier draußen im Zelt, ihr Rufen war tröstlich und schwer und menschenfern, es hallte lange nach.

Noch später ging das Feuer aus, der Schlafsack wurde klamm, und ich dachte an Siri und daran, daß sie heute morgen nicht aufgetaucht war, den ganzen Tag über nicht, und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn sie für immer verschwunden bliebe.

Der Boden war feucht. Ich hustete, und das Geräusch schien spärlich und unwirklich. Vielleicht schlief ich doch. Meine Brüder waren da. Wir schliefen im selben Zimmer, im selben Kastenbett auf gestreiften Matratzen, ich lag zwischen ihnen, durch ein Laken getrennt, später zogen wir es weg, unsere Beine schwitzten. Ich mochte den warmen Geruch, den Druck ihrer Körper auf beiden Seiten, wir hatten nicht sehr viel an. Heimlich sah ich zu, wie dem Jüngeren eine Haarsträhne beim Einschlafen übers Gesicht rutschte, ich schob mich eng an ihn heran, zog seinen Arm über meinen Nacken und spürte, wie sein Geschlecht auf meinen Oberschenkel fiel. Später kam meine Mutter: von jetzt an schlaft ihr mal besser allein, ich war aufgewacht.

Draußen wurde die LKW-Ladung verschnürt, kaputte Paddel und Material, das zur Reparatur nach Berlin gebracht werden sollte.

Ich überlegte, wie es wäre mitzufahren. Nicht mehr hier zu sein. Den Job vorzeitig abzubrechen und ohne Honorar zurückzukehren nach Halberstadt. Ich sah, wie es Ralf und die anderen bald aus meiner Erinnerung wegspülen würde.

Auch Siri würde dann weggespült werden, sie käme mir am Ende wahrscheinlich nur wie ein Wesen aus einem betrunkenen Halbschlaf vor.

Und meine Brüder sähen sich bestätigt. Ich hätte versagt.

Ich würde nicht vorzeitig zurückkehren.

Ich verließ das Camp am nächsten Tag unerlaubt. Ich setzte mich auf den Steg. Ich wartete auf sie bei den Booten und hoffte, daß sie mich dort sitzen sah. Ich trug das blaugestreifte Hemd, die oberen Knöpfe offen, ich trug den Slip. Ich hatte alles dabei, was wir brauchten, Paddel und Isomatten und Kochgeschirr, ich würde, wenn sie käme, einen Ausflug mit ihr machen. Ich würde sie überreden. Und käme sie heute nicht, würde ich morgen dasselbe einpacken und wieder unerlaubt ans Ufer gehen und mich hinsetzen und auf sie warten.

Der Himmel war weiß und zerklüftet. Das Licht fiel so flach über den See, daß es blendete. Vor dem gleißenden Hintergrund war die Gestalt, die näher kam, schwer auszumachen. Zuerst verschwommen, die Konturen fließend, dann deutlicher werdend, hoben sich langsam Umrisse ab. Ich erkannte leicht einwärts gerichtete Knie, darüber ein weißes Dreieck, im Näherkommen wurde es ein Kleid, gehalten von Trägern, die um den Nacken liefen, ich erkannte ein Armband mit türkisfarbenen Steinen, und wieder schien ich nur in eines dieser Hochglanzbilder geraten zu sein.

Sie blieb stehen. Sie studierte Kleinigkeiten, Käfer wahrscheinlich, Schnecken im Gras.

Meine Handflächen waren heiß. Es schien Jahre zu dauern, ehe Siri endlich bei mir war.

Sie legte den Kopf schief, um mich zu betrachten. Sie betrachtete mein Hemd.

»War billig«, sagte ich. »Sommerschlußverkauf.«

Ich schob ein Kanu ins Wasser und wischte Nadeln und Sand von den Sitzen. Sie setzte sich nach vorne.

Vor uns lag der See, langgestreckt, sichtbar bis zur äußersten Bucht, zum letzten Strich, der überhaupt noch als Land zu erkennen war. In der Mitte war er zweihundert Meter tief, das klarste Wasser in Dalsland, sagten sie, jetzt sah es trüb aus, wir hatten Schlamm aufgewühlt.

»Blau steht Ihnen gut«, rief sie. »Wohin fahren wir denn?«

»Schätze, zum Ball. So wie wir aussehen.«

»Ein Ball«, sagte sie, »das gefällt mir. Machen wir das?«

»Ja. Siri«, sagte ich. Dann entstand eine Pause. Und als sie nicht reagierte, drehte sich das Wort hinterhältig im Mund um, kehrte mir den Rücken zu, enthüllte mir meine eigene Lächerlichkeit in der Kabine, als ich zum ersten Mal das Jungenhemd getragen hatte, enthüllte mir die Lächerlichkeit ausgerechnet jetzt. Ich hatte den Namen falsch gelesen. Er hatte sich mir in Spiegelschrift gezeigt, und in der Aufregung hatte ich ihn verkehrtherum gesehen, nicht Siri, sondern Iris mußte sie heißen. Sie würde sich lustig machen, oder schlimmer: Es mußte sie kränken, wie dumm ich war, so dumm, daß ich sogar ihren Namen ungehörig verdrehte.

Ihr Paddel schlug aufs Wasser, zog durch, »Schmoll«, rief sie, »sind Sie o.k.?«, das Boot drohte zu kippen, ein Schwarm dunkler Enten stieg knapp vor uns auf, ich hatte mich zu weit nach links gesetzt.

Ich steuerte dicht an der Landspitze mit dem Telegraphenmasten vorbei, hinaus auf den Foxen.

»Aber ich werde nicht mit Ihnen tanzen.« In der Ferne erkannte man die Kirche von Fågelvik. »Jemand wie Siri tanzt nicht«, sagte sie. »Das sollten Sie wissen.«

»Niemals?«

»Mit keinem.«

Wir fuhren jetzt ohne zu sprechen. Ich, weil ich stumm blieb vor Freude, sie vielleicht nur, weil es mühsam war, sich vom Bug aus verständlich zu machen.

Einmal winkte am Ufer ein Mann. Sonst sah der Wald unbelebt und zugewachsen aus. Später erreichten wir die Bucht vor Trollön, einer Insel, die zur Hälfte norwegisch ist. Die Bucht öffnete sich hinter einem hoch aufragenden Felsen. Ich ließ uns treiben. Das Boot schnitt in die Schatten.

»Wissen Sie, wie glücklich ich bin?« sagte sie. »Ich kann Ihnen das gar nicht oft genug sagen.«

Die Felsen ragten über dem Wasser auf, sie bestanden aus mehreren Plateaus, als hätte jemand breite Stufen in den Stein geschlagen. Auf der Spitze lag ein Zeltplatz, den nur wenige kannten. Er war illegal, in einer Felsmulde hatte jemand eine provisorische Feuerstelle angelegt.

Ich hatte ihr Trollön zeigen wollen wegen des Sonnenuntergangs. Auf dem Felsen sah man den roten Horizont noch lange, nachdem es ringsum schon dunkel geworden war. Und morgens konnte man von dort Kopfsprünge machen.

Ich steuerte ans Ufer. Ich stieg aus.

»Sie sind der einzige, der mich so glücklich machen kann«, sagte sie. »Und zum ersten Mal.«

Es war kühl und still in der Bucht. Es roch nach den Algen, die an den Felsrändern trockneten. Ein Echo kam von den Felsen zurück. Sie saß in der Spitze des Kanus, ihr Kleid warf einen weißen Schatten.

»Siri«, sagte ich. Ich wollte herausfinden, ob ihr der Name gefiele, ich wollte es noch einmal bestätigt haben. Sie tat mir diesen Gefallen nicht. »Was für ein Glück ist das?« sagte ich schließlich.

Sie rieb sich den Arm, sie hatte Gänsehaut.

»Gucken Sie sich das mal an!« rief sie und zeigte zum Ende der Bucht. »Glauben Sie, die sind reif? Ich würde so gern welche essen.« Himbeerbüsche wuchsen auf dem sumpfigen Grund.

Ich zog das Kanu quer zum Strand. Sie kletterte heraus, lief über die Felsen, bevor sie in den Büschen verschwand.

»Und wissen Sie, Schmoll«, sagte sie von irgendwoher. »Es ist wahr. Ich war noch nie so glücklich. So glücklich wie mit Ihnen bin ich das erste Mal.«

»Bei dir ist also immer alles das erste Mal.«

»Sind Sie deswegen böse mit mir?« Ihr Kleid verfing sich im Gestrüpp, als sie herauskam. Sie strich die Beeren von den Zweigen in ihre Hand, als ich welche nahm, berührten mich ihre Finger.

»Nein.«

»Gut. Sie kennen mich auch viel zu wenig, um mir böse zu sein.«

»Das Dumme ist, daß es nur einmal das erste Mal ist.«

»Ja«, sagte sie. »Aber was wäre, wenn es zum Beispiel keinen Anfang gäbe. Wenn es überhaupt nie einen Anfang gäbe –«

»Wir haben aber Anfang und Ende«, sagte ich. »Und eine Biographie.«

»Da.« Sie hielt mir eine Handvoll Beeren hin. »Die ersten sind für Sie. Weil Sie mir böse sind.«

»Ich bin dir nicht böse.«

Sie sah mich erwartungsvoll an, in der Hand die Himbeeren.

»Es ist nur –« Über mir gaben die Wipfel ein Stück lichten Himmels frei. Sie stand vor mir, der Abstand war gering, ich sah ihre Füße, die Zehen. Irgendwo mußte die Sonne sein, irgendwo stand das Licht, ich warf mir die Beeren in den Mund, ein paar fielen daneben, ich hatte zuviel Schwung.

»Was denn, Schmoll?«

»Nichts. Es ist nichts.«

»Vielleicht hatten Sie nur noch nicht den Mut.« Sie nahm meine Hand, diesmal fest. »Den Mut, dauerhaft anzufangen«, sagte sie. »Aber man muß es wagen.« Sie zog mich näher zu sich heran. »Man muß doch das Äußerste wagen«, sagte sie nüchtern. »Wenn man sich nur ein Stück über das Erwartbare hinwegsetzen will, geht es immer ums Äußerste.« Sie ließ mich los. »Und Sie tragen das Hemd. Sie haben es ja gekauft!«

Wir holten die Packsäcke aus dem Boot.

Ich hatte ein kleines Zelt mitgebracht, aber vielleicht würden wir draußen schlafen, es war warm genug.

Wir trugen das Zelt nach oben, zusammen mit Schwimmwesten und Sitzkissen und Brot. Die kleine Verpflegungstonne schleppte ich allein über die vier Plateaus den Felsen hinauf, sie sagte, ich solle mich nicht wie ein Idiot aufführen, sie wisse doch, wie stark ich sei. Oben hatte jemand einen Baumstamm als Sitz zwischen zwei...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angst • Antje Ravik Strubel • Blaue Frau • Deutscher Buchpreis 2021 • Landschaft • Liebe • Phantasie • Preisträgerin Deutscher Buchpreis • Schweden • Valentinstag • Wirklichkeit
ISBN-10 3-10-400125-1 / 3104001251
ISBN-13 978-3-10-400125-8 / 9783104001258
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