Billard um halb zehn (eBook)

eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30055-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Billard um halb zehn -  Heinrich Böll
Systemvoraussetzungen
9,49 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Eine breit dahinflutende, schmerzlich schöne Elegie vom Leben dieser unserer eigenen Zeit, von Hoffnungen, Leiden und Illusionen.« Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Drei Generationen einer rheinischen Architektenfamilie werden sich an diesem 6. September 1958 versammeln, um den achtzigsten Geburtstag ihres Oberhauptes zu feiern. Heinrich Fähmel hatte 1907 den Auftrag erhalten, die Abtei St. Anton zu erbauen. Sein Sohn Robert - er spielt täglich von halb zehn bis elf im Hotel Prinz Heinrich Billard - hat als Sprengmeister der Wehrmacht diese Abtei in den letzten Kriegstagen zerstört. Der Enkel Joseph wird am Wiederaufbau beteiligt. In den Gesprächen Roberts mit dem Hotelboy, in Rückblenden und Erinnerungen seines Vaters verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart, werden die Situationen der einzelnen Zeitabschnitte deutlich.Der Grundkonflikt, den Böll dabei mit der Symbolik vom »Lamm« und vom »Büffel« thematisiert, ist der Konflikt zwischen den selbständig denkenden und handelnden einzelnen und der opportunistischen Mehrheit. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.

1


An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.

»Bitte«, sagte er, »nehmen Sie aus Ihrem Schreibtisch die kleine rote Karte, die ich Ihnen vor vier Jahren gab.« Sie zog mit der rechten Hand ihre Schreibtischschublade auf, schob eine Tafel Schokolade, den Wolllappen, das Messingputzmittel beiseite, nahm die rote Karte heraus. »Bitte, lesen Sie mir vor, was auf der Karte steht.« Und sie las mit zitternder Stimme: »Jederzeit erreichbar für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und für Herrn Schrella, für niemanden sonst.«

»Bitte, wiederholen Sie den letzten Satz«, und sie wiederholte: »Für niemanden sonst.« »Woher wußten Sie übrigens, daß die Telefonnummer, die ich Ihnen gab, die des Hotels ›Prinz Heinrich‹ war?« Sie schwieg. »Ich möchte betonen, daß Sie meine Anweisungen zu befolgen haben, auch wenn sie vier Jahre zurückliegen… bitte.«

Sie schwieg.

»Dummes Stück…« Hatte er das ›Bitte‹ diesmal vergessen? Sie hörte Gemurmel, dann eine Stimme, die ›Taxi‹ rief, ›Taxi‹, das amtliche Tuten, sie legte den Hörer auf, schob das Kärtchen auf die Mitte des Schreibtisches, empfand beinahe Erleichterung; diese Grobheit, die erste innerhalb von vier Jahren, war fast wie eine Zärtlichkeit.

Wenn sie verwirrt war oder des bis aufs äußerste präzisierten Ablaufs ihrer Arbeit überdrüssig, ging sie hinaus, das Messingschild zu putzen: ›Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, nachmittags geschlossen‹. Eisenbahndämpfe, der Schleim der Auspuffgase, Straßenstaub gaben ihr täglich Grund, den Wollappen und das Putzmittel aus der Schublade zu nehmen, und sie liebte es, diese Putzminuten auf eine viertel, eine halbe Stunde auszudehnen. Drüben im Haus Modestgasse 8 konnte sie hinter staubigen Fenstern die stampfenden Druckereimaschinen sehen, die unermüdlich Erbauliches auf weißes Papier druckten; sie spürte das Beben, glaubte sich auf ein fahrendes oder startendes Schiff versetzt. Lastwagen, Lehrjungen, Nonnen; Leben auf der Straße, Kisten vor Gemüseläden: Apfelsinen, Tomaten, Kohl. Und am Nebenhaus, vor Gretzens Laden, hängten zwei Lehrjungen gerade den Keiler auf, dunkles Wildschweinblut tropfte auf den Asphalt. Sie liebte den Lärm und den Schmutz der Straße. Trotz stieg in ihr hoch, und sie dachte an Kündigung; in irgendeinem Dreckladen arbeiten, in einem Hinterhof betrieben, wo Elektrokabel, Gewürze oder Zwiebeln verkauft wurden, wo schmuddelige Chefs mit herunterhängenden Hosenträgern und Wechselsorgen zu Vertraulichkeiten neigten, die man dann wenigstens hätte abweisen können; wo man um die Stunde, die man wartend beim Zahnarzt verbrachte, zu kämpfen hatte; wo für die Verlobung einer Kollegin Geld gesammelt wurde, Geld für einen Haussegen oder ein Buch über die Liebe; wo die schmutzigen Witze der Kollegen einen daran erinnerten, daß man selbst rein geblieben war. Leben. Nicht diese makellose Ordnung, nicht diesen Chef, der makellos gekleidet und makellos höflich war – und ihr unheimlich; sie witterte Verachtung hinter dieser Höflichkeit, die er jedem, mit dem er zu tun hatte, zuteil werden ließ. Doch mit wem, außer ihr, hatte er schon zu tun? Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nie mit jemandem sprechen sehen – außer mit seinem Vater, seinem Sohn, seiner Tochter. Niemals hatte sie seine Mutter gesehen, die lebte irgendwo in einem Sanatorium für Geistesgestörte, und dieser Herr Schrella, der noch auf der roten Karte stand, hatte niemals nach ihm verlangt. Sprechstunden hielt Fähmel nicht ab, Kunden, die telefonisch anfragten, mußte sie bitten, sich schriftlich an ihn zu wenden.

Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, sagte: »Gut, dann machen Sie es noch einmal, bitte.« Das geschah selten, denn die wenigen Fehler, die ihr unterliefen, entdeckte sie selbst. Das ›Bitte‹ jedenfalls vergaß er nie. Wenn sie ihn darum bat, gab er ihr frei, für Stunden, für Tage; als ihre Mutter starb, hatte er gesagt: »Dann schließen wir das Büro für vier Tage… oder möchten Sie lieber eine Woche?« Doch sie wollte keine Woche, nicht einmal vier Tage, nur drei, und selbst die wurden ihr in der leeren Wohnung zu lang. Zur Seelenmesse und zur Beerdigung erschien er natürlich in vollendetem Schwarz, erschienen sein Vater, sein Sohn, seine Tochter, trugen alle riesige Kränze, die sie eigenhändig am Grab niederlegten, lauschten der Liturgie; und sein alter Vater, den sie mochte, flüsterte ihr zu: »Wir Fähmels kennen den Tod, stehen auf vertrautem Fuß mit ihm, liebes Kind.«

 

All ihren Wünschen um Vergünstigungen kam er widerstandslos entgegen, und so fiel es ihr im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn um eine Gunst zu bitten; er hatte die Arbeitszeit mehr und mehr herabgesetzt; im ersten Jahr hatte sie noch von acht bis vier gearbeitet, aber nun war ihre Arbeit schon seit zwei Jahren so rationalisiert, daß sie gut von acht bis eins getan werden konnte, ihr sogar noch Zeit blieb, sich zu langweilen, die Putzminuten auf halbe Stunden auszudehnen. Kein Wölkchen mehr auf dem Messingschild zu entdecken! Seufzend schraubte sie die Flasche mit dem Putzmittel zu, faltete den Lappen; immer noch stampften die Druckereimaschinen, druckten unerbittlich Erbauliches auf weißes Papier, immer noch blutete der Keiler. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße.

 

Auf dem Schreibtisch die rote Karte; seine makellose Architektenschrift: ›… für niemanden sonst‹. Die Telefonnummer, die sie mühsam, in langweiligen Stunden, über ihre Neugier errötend, identifiziert hatte: Hotel ›Prinz Heinrich‹. Der Name hatte ihrer Witterung neue Nahrung gegeben: was tat er morgens zwischen halb zehn und elf im Hotel ›Prinz Heinrich‹? Eisige Stimme am Telefon: ›Dummes Stück‹. Hatte er wirklich nicht ›bitte‹ dazu gesagt? Der Stilbruch stimmte sie hoffnungsvoll, tröstete sie über die Arbeit, die auch ein Automat hätte ausführen können.

Zwei Musterbriefe, die in vier Jahren nicht geändert worden waren, die sie schon in den Durchschlägen ihrer Vorgängerin entdeckt hatte: einen für die Kunden, die Aufträge erteilen: ›… danken wir Ihnen für Ihr Vertrauen, das wir durch rasche und korrekte Erledigung des Auftrages rechtfertigen werden. Hochachtungsvoll‹; der zweite Brief, der zu schreiben war, wenn sie die statischen Unterlagen an die Kunden zurückschickte: ›Anbei die gewünschten Unterlagen für das Bauvorhaben X. Das Honorar in Höhe von Y bitten wir auf unser Bankkonto zu überweisen. Hochachtungsvoll.‹ Blieben freilich für sie gewisse Variationen; für X hatte sie einzusetzen: Haus für einen Verleger am Waldrand, Haus für einen Lehrer am Flußufer, Bahnüberführung Hollebenstraße. Für Y das Honorar, das sie nach einem einfachen Schlüssel selbst errechnen mußte.

Blieb noch der Briefverkehr mit seinen drei Mitarbeitern: Kanders, Schrit und Hochbret. Denen mußte sie die Aufträge in der Reihenfolge ihres Eintreffens zuschicken. »Damit«, so hatte Fähmel gesagt, »die Gerechtigkeit ihren automatischen Verlauf nimmt und das Glück eine repräsentative Chance hat.« Kamen die Unterlagen zurück, mußte das, was Kanders errechnet hatte, Schrit; was Hochbret errechnet hatte, Kanders; was Schrit errechnet hatte, Hochbret zur Überprüfung zugeschickt werden. Karteien waren zu führen, Spesenrechnungen zu buchen, Zeichnungen zu fotokopieren und von jedem Bauvorhaben eine Fotokopie in doppelter Postkartengröße für sein Privatarchiv herzustellen; – aber die meiste Arbeit bestand im Frankieren: immer wieder die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, die Marke sauber in die rechte obere Ecke des gelben Umschlags geklebt; sie empfand es schon als Abwechslung, wenn mal ein brauner, ein violetter, ein gelber Heuss darunter war.

Fähmel hatte sich zum Prinzip gemacht, nie länger als eine Stunde pro Tag im Büro zu verbringen; er schrieb seinen Namen unters Hochachtungsvoll, unter Honoraranweisungen. Kamen mehr Aufträge, als er in einer Stunde hätte bewältigen können, lehnte er die Annahme ab. Für diese Fälle gab es hektographierte Zettel mit dem Text: ›Infolge Arbeitsüberlastung sehen wir uns leider gezwungen, auf Ihren geschätzten Auftrag zu verzichten. Gez. F.‹

Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen, Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als diese; daß er rauchte, war kein Ersatz für das Vermißte: zu makellos war die schneeweiße Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall, bewies, daß Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet, Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte sie immer in Erregung versetzt: da krümelte Brot, blieben Wurstpellen übrig und speckige Schinkenränder, mußten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden. Versöhnliches zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2009
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abtei • Architektenfamilie • Belletristik • Billard • Elegie • Familie • Generationen-Schicksal • Heinrich Böll • Kiepenheuer & Witsch • Köln • Konflikt • Lesetipp • Literaturnobelpreis • Militär • Nachkriegs-Roman • Nationalsozialismus • Nettlinger • Roman • Sozial-Kritik • Verantwortung • Vergangenheit • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-462-30055-5 / 3462300555
ISBN-13 978-3-462-30055-0 / 9783462300550
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99