Der Wille zum Strafen (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75921-9 (ISBN)
In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein härteres Durchgreifen der Polizei, eine Verschärfung des Strafrechts und ein teils massiver Anstieg der Gefangenenzahle in allen liberalen Demokratien beobachten. Ein neuer Wille zum Strafen greift um sich, wie Didier Fassin in seinem brisanten Buch nachweist.
Um dieses Moment des Strafen zu verstehen, geht Fassin drei zentralen Fragen nach: Was ist Strafen? Warum strafen wir? Und wen bestrafen wir? Anhand zahlreicher Fallbeispiele vergleicht er die faktische Praxis des Strafens mit klassischen Theorien des liberalen Rechtsstaats und zieht historische sowie ethnologische Forschungen zu anderen Kulturen des Strafens heran. Es zeigt sich: Die realen Strafpraktiken weichen stark von den liberalen Idealvorstellungen ab. Sie geben den Blick frei auf einen hochgradig ungerechten und diskriminierenden Repressionsapparat, der die dunkle Seite der gegenwärtigen neoliberalen Gesellschaften bildet, mit deren Siegeszug er zeitlich und geographisch korreliert. Ein auf ethnographischer Forschung sowie theoretischen Einsichten basierendes und zugleich in seinen Fallgeschichten erschütterndes Buch.
<p>Didier Fassin, geboren 1955, ist James D. Wolfensohn Professor of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zuvor war er Vizepräsident von Ärzte ohne Grenzen und ist gegenwärtig Präsident des französischen Comité Médical pour les Exilés (COMEDE). Für sein Werk hat er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2016 die Goldmedaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie.</p>
Didier Fassin, geboren 1955, ist James D. Wolfensohn Professor of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zuvor war er Vizepräsident von Ärzte ohne Grenzen und ist gegenwärtig Präsident des französischen Comité Médical pour les Exilés (COMEDE). Für sein Werk hat er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2016 die Goldmedaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie.
9Vorwort
Moment und Momentum des Strafens
Dass in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt ein Zeitalter des Strafens eingeläutet wurde, ist ein ziemlich schlecht erforschtes Phänomen, über das viel zu wenig debattiert wird. Gesetzesverstöße werden immer strenger bestraft. Alle internationalen Studien zeigen, dass dieser Trend in keiner direkten Korrelation zur Entwicklung von Kriminalität und Delinquenz steht. Die repressive Wende hängt zwar in manchen Fällen mit der Zunahme von Verbrechen und Vergehen zusammen, aber sie wird auch dann noch weiterverfolgt, wenn die Zahl der Straftaten sinkt. Sie schlägt sich vor allem in immer häufigeren und immer längeren Haftstrafen nieder, aber auch darin, dass in immer mehr Fällen Untersuchungshaft verhängt wird.
Dieses Phänomen lässt sich, wenn auch mit signifikanten Abweichungen, fast überall in Europa beobachten.1 Im Laufe der 1990er Jahre hat sich die Gefängnispopulation in der Tschechischen Republik nahezu verdreifacht; in Italien und in den Niederlanden verdoppelt sie sich; in Portugal, Griechenland, England, Polen, in der Slowakei und in Serbien wächst sie beinahe um die Hälfte; in Spanien, Belgien, Deutschland, Ungarn, Slowenien und Kroatien nimmt sie um ungefähr ein Drittel zu; stabil ist sie nur in der Schweiz, in Schweden, in Norwegen, in Luxemburg, in Bulgarien und in Albanien, und in Dänemark, Finnland und Island verringert sie sich sogar. Russland wiederum erlebt eine Zunahme der Gefan10genenzahl um die Hälfte, die jetzt eine Million überschreitet. Im darauffolgenden Jahrzehnt verlangsamt sich das Anstiegstempo zwar, aber die Zahl der Häftlinge erhöht sich trotzdem fast überall in Europa kontinuierlich. Allein in Portugal, Deutschland und in den Niederlanden zeichnet sich ab Mitte der 2000er Jahre ein signifikanter Rückgang ab, während in den skandinavischen Ländern die Inhaftierungsrate weiter niedrig bleibt. Mit der Einbuße eines Viertels seiner Gefangenen binnen zehn Jahren bildet Russland eine Ausnahme innerhalb dieses Tableaus, doch man darf nicht vergessen, dass es bei sehr hohen Zahlen angefangen hat.
Ein ähnlicher Trend lässt sich auch auf den anderen Kontinenten feststellen. Im Laufe der 2000er Jahre — als den einzigen, über die wir Vergleichsdaten besitzen — ist die Zahl der Gefangenen in Amerika, die Vereinigten Staaten ausgenommen, um 108 Prozent gestiegen, in Asien um 29 Prozent, in Afrika um 15 Prozent und in Ozeanien um 59 Prozent. In Brasilien liegt die Erhöhung bei 115 Prozent und erreicht eine halbe Million. In der Türkei steigt sie auf 145 Prozent und hat sich jüngst noch einmal erhöht. Natürlich müssten diese Zahlen noch mit Hilfe nationaler Daten bereinigt werden, insofern die Unterschiede zwischen den Ländern unterschiedliche Zustimmungsgrade zu den Strafverfolgungsmaßnahmen und letztendlich erhebliche Abweichungen in Bezug auf die Umsetzung der demokratischen Prinzipien erkennen lassen. So ist die Entwicklung in den Vereinigten Staaten am ausgeprägtesten und gleichzeitig ist sie auch am gründlichsten untersucht worden. 1970 saßen dort 200 000 Personen in den Bundes- und Staatsgefängnissen ein, 40 Jahre später sind es aber achtmal so viele, und einschließlich der lokalen Haftanstalten (jails) nähert sich die Gesamtzahl 2,3 Millionen.2 Wenn man die 11Straftäter auf Bewährung (probation) und diejenigen, deren Strafe ausgesetzt wurde (parole), dazurechnet, übersteigt sie sieben Millionen. Die wachsende Gefängnispopulation, unter der sich unverhältnismäßig viele schwarze Männer befinden, ist vor allem eine Folge der härteren, Automatismen mit schwereren Strafen verbindenden Gesetzgebung und der größeren Unnachgiebigkeit der Strafrechtsorgane, vor allem der Staatsanwälte, im Zusammenhang mit zunehmender Ungleichheit und Gewalttätigkeit. Der »Anti-Drogen-Krieg« ist ein entscheidender Bestandteil dieses Entwicklungsprozesses einer Erhöhung und Differenzierung der Zahl der Gefängnisinsassen gewesen.
Wenn nun aber solche Regelmäßigkeiten auf der ganzen Welt auftreten, muss man davon ausgehen, dass sie einen wichtigen Sachverhalt belegen, der über die historische Eigenart einzelner Nationen hinausgeht. Dieser Sachverhalt ist zeitgebunden: Er zeichnet sich in den 1970er und 1980er Jahren ab und beschleunigt sich dann je nach Land in unterschiedlichem Tempo. Ich schlage vor, von einem Moment des Strafens zu sprechen.3 Der Ausdruck »Moment« bezieht sich offenkundig auf einen besonderen Zeitraum oder eine Raum-Zeit; denn das Phänomen, für das er steht, erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und entwickelt sich mit ganz wenigen Ausnahmen auf allen Kontinenten. Doch man muss ihn auch im dynamischen Sinne seiner lateinischen Etymologie verstehen, der sich in der Physik erhalten hat, um eine Bewegung, einen Impuls, eine Einwirkung zu bezeichnen: Dabei handelt es sich um die Kraft, die über den Wandel bestimmt, dem man beiwohnt, also um den Beweggrund.4 Das Englische verfügt diesbezüglich denn auch über zwei Wörter: moment und momentum. Was kennzeichnet also den bzw. das Moment des Strafens?
12Wie mir scheint, entspricht er jener einzigartigen Situation, in der die Lösung zum Problem wird. Wenn eine Gesellschaft Störungen der öffentlichen Ordnung erlebt, Normverletzungen, Gesetzesverstöße, reagieren ihre Mitglieder im Prinzip mit Sanktionen, die den meisten von ihnen zweckdienlich und notwendig erscheinen. Das Verbrechen ist das Problem, die Bestrafung dessen Lösung. Mit dem Moment des Strafens ist die Bestrafung zum Problem geworden.5 Und zwar aufgrund der Anzahl der Individuen, die sie ausgrenzt oder unter Aufsicht stellt, aufgrund des Preises, den sie deren Familien und Umfeld zahlen lässt, aufgrund der ökonomischen und menschlichen Kosten für die Gemeinschaft, die sie nach sich zieht, aufgrund der Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten, die sie begünstigt, aufgrund der wachsenden Kriminalität und Unsicherheit, die sie erzeugt, und schließlich aufgrund des Legitimitätsverlusts, der aus ihrem diskriminierenden oder willkürlichen Vollzug resultiert. Obwohl sie die Gesellschaft vor Verbrechen schützen soll, wirkt die Bestrafung mehr und mehr wie etwas, das sie bedroht. Im Moment des Strafens kommt dieses Paradox zum Ausdruck.
*
Zur Veranschaulichung dieses Moments des Strafens werde ich ausführlicher auf den Kontext eingehen, den ich am besten kenne. Frankreich erlebt die repressivste Phase seiner jüngeren Geschichte zu Friedenszeiten. Wenn man die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ausnimmt, sind dort nämlich noch nie so viele Männer und Frauen inhaftiert gewesen. In etwas mehr als 60 Jahren hat sich die Anzahl der Gefängnisinsassen verdreieinhalbfacht: 1955 lag die Zahl der Häftlinge bei 1320 000, 1985 bei 43 000 und 2015 bei 66 000. Mit beinahe 70 000 Gefangenen wurde im Jahr 2016 ein neuer Rekord aufgestellt. Bei verurteilten Straftätern im offenen Vollzug ist der Anstieg noch ausgeprägter: Ihre Zahl hat sich innerhalb von 30 Jahren fast vervierfacht. Insgesamt befinden sich so heute mehr als eine Viertelmillion Menschen im Gewahrsam der Justiz.6 Diese Entwicklung verdankt sich allerdings nicht der Zunahme der Kriminalität, wie man anzunehmen geneigt sein könnte. Obwohl die diesbezüglichen Statistiken aufgrund von Schwankungen sowohl in Bezug auf die Definition der Rechtsverstöße als auch in Bezug auf deren Anzeige durch die Opfer und deren Erfassung durch die Behörden nicht leicht zu deuten sind und obwohl der Trend bei den verschiedenartigen, in Frage kommenden Straftaten keineswegs homogen ist, bestätigen die Teilinformationen, über die wir verfügen, für das letzte halbe Jahrhundert einen beinahe kontinuierlichen Rückgang der besonders besorgniserregenden Kriminalitätsformen, angefangen mit Tötungsdelikten und besonders schwerwiegenden Gewaltverbrechen.7 Es wäre zwar vorstellbar, dass die mit dem Terrorismus zusammenhängenden Vorfälle einen signifikanten Anteil an der beobachteten Entwicklung haben. Aber faktisch hat diese schon in den 1970er Jahren eingesetzt, also lange vor den ersten Anschlägen, und außerdem ist sie vor allem geringfügigen Vergehen geschuldet, die den größten Teil der wachsenden Zahl der Verurteilungen ausmachen. Die von terroristischen Anschlägen verursachten Tragödien haben allenfalls einen sich schon lange abzeichnenden...
Erscheint lt. Verlag | 10.12.2018 |
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Übersetzer | Christine Pries |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Punir. Une passion contemporaine |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Gefängnis • Gefängnisreform • Globalisierung • Goldmedaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie 2016 • Punir. Une passion contemporaine deutsch • Raymond-Aron-Preis 2013 • Strafrecht |
ISBN-10 | 3-518-75921-3 / 3518759213 |
ISBN-13 | 978-3-518-75921-9 / 9783518759219 |
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