Im Kreuzfeuer der Kritik

Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert

Marcus Böick, Marcel Schmeer (Herausgeber)

Buch | Softcover
556 Seiten
2020
Campus (Verlag)
978-3-593-51039-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Kreuzfeuer der Kritik -
52,00 inkl. MwSt
Ob Gewerkschaften, Unternehmen, Ministerien oder Parteien: Organisationen prägten die Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz maßgeblich. Daher ist die Beschäftigung mit diesen - oftmals umstrittenen - Gebilden und ihren Hervorbringungen einer der Schwerpunkte zeithistorischer Forschung. Gerade in Deutschland erlebte die Geschichtsschreibung zu Organisationen durch die Aufarbeitung möglicher NS-Kontinuitäten in Behörden oder Ministerien einen bemerkenswerten Boom, dem bisher allerdings eine übergreifende Selbstreflexion fehlt. Anhand prägnanter Beispiele - von der Reichswehr über die FIFA bis zur Treuhandanstalt und zur "Gauck-Behörde" - diskutiert dieser Band erstmals grundlegende Probleme bei der Analyse von Organisationen im Schnittfeld von Sozial- und Geschichtswissenschaft.
Ob Gewerkschaften, Unternehmen oder Parteien: Organisationen prägten die Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz maßgeblich. Daher ist die Beschäftigung mit diesen - oftmals umstrittenen - Gebilden und ihren Hervorbringungen einer der Schwerpunkte zeithistorischer Forschung. Gerade in Deutschland erlebte die Geschichtsschreibung zu Organisationen durch die Aufarbeitung möglicher NS-Kontinuitäten in Behörden oder Ministerien einen bemerkenswerten Boom, dem bisher allerdings eine übergreifende Selbstreflexion fehlt. Anhand prägnanter Beispiele diskutiert dieser Band erstmals grundlegende Probleme bei der Analyse von Organisationen im Schnittfeld von Sozial- und Geschichtswissenschaft.

Marcus Böick ist Akademischer Rat an der Professur für Zeitgeschichte der Universität Bochum. Marcel Schmeer ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Inhalt
Aus dem toten Winkel ins »Kreuzfeuer der Kritik«?
Organisationen in der zeithistorischen Theorie und Praxis 9
Marcus Böick und Marcel Schmeer
I. Organisationsforschung und Geschichtswissenschaft
Umstrittene Organisationen.
Theoriekonzepte, Falltypologien und interdisziplinäre Forschung 69
Wolfgang Seibel
Kein Dienst nach Vorschrift.
Geschichtswissenschaft und Organisationstheorie 87
Thomas Welskopp
Zur Programmatik einer historisch-soziologischen
Organisationsforschung 103
Rena Schwarting
Der kritische Blick auf sich selbst.
Zur Verantwortung der historischen Zunft in
der Behördenforschung 139
Christian Mentel
II. Organisationen in der Sphäre des Ökonomischen
Umstrittene Konzerne.
Der Umgang deutscher Großunternehmen mit
ihrer NS-Vergangenheit am Beispiel von Daimler-Benz
in den 1980er Jahren 165
Sebastian Brünger
Ein umstrittenes Unternehmen.
Die Debatte über die Lufthansa 1929 und ihre Folgen 195
Lutz Budrass
(Un-)Sicherheitsproduzent und Gefahrensonde.
Die Versicherungswirtschaft und die Kontroverse
über die Atomenergie in den 1970er Jahren 215
Christoph Wehner
Fluss in Sicht. Methodisch-konzeptionelle Herausforderungen
und Möglichkeiten einer Organisationsgeschichte der Emschergenossenschaft und des Lippeverbandes 239
Eva Balz und Christopher Kirchberg
III. Staat als Organisation – Staatliche Organisationen
Der Staat als umstrittene Organisation. Die Verwaltungsreform der Habsburgermonarchie in den 1910er Jahren 263
Peter Becker
Soziologen, Straßenkämpfer, Psychobullen.
Die West-Berliner Polizei als umstrittene Organisation 285
Marcel Schmeer
Der Sozialstaat auf dem Prüfstand.
Ausdeutungen und Narrationen seit den 1970er Jahren 323
Christoph Lorke
Risikoregulierung als soziale Praxis.
Organisationsgeschichtliche Zugänge zur Unfallversicherung 351
Daniel Trabalski
Zwischen Erwartungen und Instrumentalisierung.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde als umstrittene Organisation 379
Markus Goldbeck
Umstrittene Kokarden.
Militär und Militärs zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik 405
Martin Platt
IV. Organisationen jenseits von Wirtschaft und Staat
Die Gewerkschaften.
Ein klassisches Objekt der Organisationssoziologie 437
Knud Andresen
Meta-Organisationen in Zeiten des Wandels. Die »Deutsche Jugend des Ostens« als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen der Nachkriegszeit 453
Anne-Christine Hamel
Parteien(geschichte) in der Krise? 485
Bernd Faulenbach
Die umstrittene Nachfolge des nationalsozialistischen Deutschen Alpenvereins in Österreich 503
Gunnar Mertz
Radikale für den Kapitalismus.
Die Objektivisten in New York City, 1962–1968 527
Vojin Saša Vukadinović
Autorinnen und Autoren 551

Dank 555

»Der Band schafft breite, aber eben auch kontroverse Verbindungen von der unübersichtlichen Vielzahl soziologischer Organisationstheorien zur geschichtswissenschaftlichen Empirie, ohne einer theoretischen Heilslehre zu folgen.« Stefanie Middendorf, H-Soz-Kult, 30.09.2020»Konzeptionell bedeutsam sind vor allem die Beiträge aus dem ersten Teil des Bandes, der sich dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Organisationsforschung widmet.« Robert Jungmann, Soziologische Revue 44(3), 2021

»Der Band schafft breite, aber eben auch kontroverse Verbindungen von der unübersichtlichen Vielzahl soziologischer Organisationstheorien zur geschichtswissenschaftlichen Empirie, ohne einer theoretischen Heilslehre zu folgen.« Stefanie Middendorf, H-Soz-Kult, 30.09.2020

»Konzeptionell bedeutsam sind vor allem die Beiträge aus dem ersten Teil des Bandes, der sich dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Organisationsforschung widmet.« Robert Jungmann, Soziologische Revue 44(3), 2021

Aus dem toten Winkel ins »Kreuzfeuer der Kritik«? Organisationen in der zeithistorischen Theorie und Praxis Marcus Böick und Marcel Schmeer Organisationen: Praktisch sind sie überall, theoretisch aber nirgendwo. So könnte man, sicher zugespitzt, den derzeitigen Reflexions- und Diskussionsstand weiter Teile der deutschen Zeitgeschichtsforschung zur Organisationsgeschichtsschreibung beschreiben. Organisationen bilden in der Praxis eine zentrale Referenz zeithistoriografischen Arbeitens und Forschens: oft als fokussierte Forschungsobjekte, stets auch als wesentliche Produzenten von verwendeten Archivalien und Quellen, fast immer als institutionelle Arbeit- oder Auftraggeber, etwa in Form von Universitäten, Forschungsinstituten, Fachverbänden, Stiftungen und von Museen, Gedenkstätten und insbesondere Archiven. Historiker/innen sind, allem langjährig kultivierten Einzelkämpfertum zum Trotz, durch und durch selbst organisierte Organisationswesen; die Geschichtswissenschaft als wissenschaftlich-akademische Disziplin ist Produkt moderner Organisationsbildungen an Universitäten, Instituten oder in ihren Fachverbänden. Und vielleicht ist es auch gerade diese arbeitsweltlich-professionelle Omnipräsenz des Organisationellen, die in der zeithistoriografischen Theorie insbesondere Organisationen als scheinbar unhinterfragte Selbstverständlichkeiten weitgehend zum Verschwinden bringt – und dies aller theoretischen Debatten um immer neue methodische Trends und »turns« zum Trotz. Aber warum ist das so? Es ist durchaus mehr als ein semantisches Glasperlenspiel, dass die deutschsprachige Geschichtswissenschaft – im markanten Gegensatz zur hiesigen Soziologie – nie trennscharf zwischen Organisationen und Institutionen zu unterscheiden pflegte und pflegt. Während die Begriffe im zeithistorischen Feld weitgehend synonym gebraucht werden, differenziert die Sozialwissenschaft sehr trennscharf zwischen Organisationen als genuin moderner Sozialform mit spezifischen Funktionen und benennbaren Strukturen (wie etwa Mitgliedschaften, Zwecken oder Hierarchien ) einerseits sowie Institutionen andererseits Diese werden als der bewussten Reflexion entrückte »soziale Tatbestände« begriffen, die ihrerseits als übergeordnete gesellschaftliche Normen scheinbar überzeitliche oder gar universelle Gültigkeit beanspruchen. Der Verwaltungsexperte Wolfgang Seibel hob diese fundamentale Unterscheidung plastisch hervor: »Organisationen (…) werden vor unseren Augen gegründet, und sie können, wenn sie sich als relativ oder absolut unzweckmäßig erweisen, verändert oder auch wieder aufgelöst werden. Mit institutionalisierten sozialen Strukturen verhält es sich grundlegend anders. Sie treten uns zunächst als quasi-gegenständlich gegenüber, und sie können auch nicht von heute auf morgen geändert werden, selbst wenn starke Veränderungsimpulse in der Gesellschaft dies nahelegen.« Für Seibel erscheint die staatliche Verwaltung als nachgerade klassisches Paradebeispiel für eine (moderne) Organisationsform, Familie oder die Ehe hingegen als klassische Institutionen – eben als jene umfassend akzeptierten sozialen Tatsachen, über deren »Sinn« man – wie schon Emile Durkheim in den Anfängen der wissenschaftlichen Soziologie herausgearbeitet hat – nicht tagtäglich grundlegend reflektieren müsse oder gar könne. Die kategorische Differenzierung zwischen Organisationen und Institutionen ist auf diese Weise wesentlicher Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Organisationsforschungen, der diese als Forschungs- und Analysegegenstände greifbar werden lässt. In der geschichtswissenschaftlichen Theorie und Praxis spielt diese kategorische Unterscheidung bezeichnenderweise keine nennenswerte Rolle. Man könnte auch sagen, dass sich Organisations- und Institutionenbegriff in der zeithistorischen Anwendung oft auf problematische wie bezeichnende Weise miteinander vermengen: Zwar werden Organisationen in zahlreichen Einzelstudien als spezifisch-konkrete Ordnungsprinzipien des Sozialen betrachtet, erscheinen aber oft zugleich auch als stark institutionalisierte Gebilde, die einfach wie selbstverständlich vorhanden sind – und deren jeweilige Existenz- und Deutungsformen keiner näheren Erörterungen oder methodischen Reflexionen bedürfen. Dies erweist sich jedoch als folgenreicher perspektivischer Trugschluss: Organisationen bzw. das organisationelle Denken an sich haben selbst eine (im Grunde recht kurze) Geschichte und sind aufs Engste mit spezifisch modernen gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken des 19. und 20. Jahrhunderts eng verknüpft, die sich – wie später noch erörtert wird – mit einigem Recht in ihrer Eigenschaft als »Organisationsgesellschaften« umfassend diskutieren ließen. Es ist dieses implizite historiografische Verständnis von Organisation als Institution, das erstere methodisch-reflexiv im toten Winkel gerade auch der Zeitgeschichtsforschungen verharren lässt. Zugleich könnte aber eine trennscharfe Unterscheidung von Organisation und Institution perspektivisch einen wichtigen Ausgangspunkt bilden, der ein Tor zum hier zu behandelnden Themenfeld aufstößt: Dass Organisationen, ihre internen Dynamiken (bzw. Praktiken) wie externen Beziehungsmuster (bzw. Diskurse) sowie insbesondere auch die von diesen produzierten und überlieferten Quellen eben keine selbstverständlich vorhandenen und in ihrem »sozialen Sinn« unhinterfragte wie unhinterfragbare »Tatsachen« (oder »black boxes«) sind, erscheint als wichtiger Impuls auch für zeithistorische Methodendebatten. Organisationen sind im zeithistoriografischen Blick auf allen Ebenen omnipräsent und mithin ein Stück weit zu selbstverständlich; sie bedürfen daher gezielt einer umfassenden heuristischen Verfremdung und Historisierung. Diese einleitende Beobachtung wollen wir mit diesem Buch zum Ausgangspunkt weiterführender theoretischer Überlegungen machen. Eine umfassende Reflexion über das Organisationelle in der Zeitgeschichtsforschung im engen Austausch mit der Organisationssoziologie könnte, so unsere Überzeugung, einen neuartigen Konvergenz- oder Schnittpunkt bilden, der mittlerweile sehr verschiedene theoretische Schulen und Subdisziplinen perspektivisch zusammenführt. Denn gerade weil die sonst weitgehend getrennten Sphären der Politik-, Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturgeschichte einen ausgeprägten, zumeist aber impliziten Organisationsbezug miteinander teilen, bietet sich hier eine reizvolle Möglichkeit, gerade an dieser Stelle über neue heuristische Querschnitts-Perspektiven nachzudenken. Auch wenn es uns nicht um eine Beschwörung einer (wie auch immer gelagerten) »Einheit« der Geschichtswissenschaften geht: Im gemeinsamen Nachdenken über das Organisationelle in Theorie und Praxis der zeithistorischen Geschichtswissenschaft könnten sich, so steht zu hoffen, auf einer mittleren wie vermittelnden Gegenstands- und Reflexionsebene neue, integrative Perspektiven eröffnen, aus denen sich durchaus auch übergreifende Debatten für das ganze Fach entwickeln könnten. Es geht uns letztlich darum, die Geschichtswissenschaft als eine multidimensionale Organisationswissenschaft zu beschreiben. Am Anfang steht demnach die prinzipiell gemeinte Frage, was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun, wenn sie die Geschichte von Organisationen analysieren und (be-)schreiben. Im Folgenden soll diese Leitfrage auch unsere einführenden Überlegungen strukturieren. Hierbei streben wir eine grundlegende (aber keineswegs Vollständigkeit beanspruchende) Bestandsaufnahme von Organisationskonzepten in den Geschichts- bzw. Sozialwissenschaften an. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, den theoretischen Stellenwert von Organisationen in der deutschen (zeit-)historischen Forschung der letzten Jahrzehnte im Überblick herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt skizzieren wir im Abriss den gegenwärtigen Debatten- und Theoriestand der zu Organisationen arbeitenden Sozialwissenschaften. Drittens werden gegenwärtige Trennungs-, aber zugleich auch mögliche Verbindungslinien zwischen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Organisationsforschungen diskutiert. Viertens werden wir unsere Überlegungen in einem eigenen Diskussionsangebot bündeln, das vor allem auf die empirische Erforschung von vielfältigen Organisationsformen in Umbruchs- und Konfliktsituationen abhebt. Fünftens werden schließlich die einzelnen Beiträge dieses Bandes im Überblick vorgestellt. 1. Ein »Trend« ohne »Turn«? Organisationen in der deutschen Zeitgeschichtsforschung Gerade in den letzten Jahren sind Organisationen de facto abermals in den Fokus einer umfassenden zeithistorischen Forschungskonjunktur einer neuerlichen »Aufarbeitung« der NS-Vergangenheit verschiedener Ministerien, Verwaltungen und Unternehmen gerückt. Während die Zeitgeschichtsforschung seit Anfang dieses Jahrzehnts beginnend mit der vieldiskutierten Studie über das Auswärtige Amt (»Das Amt und die Vergangenheit«) aus dem Jahr 2010 einen beispiellosen Boom einer weitgefächerten Auftrags- und Behördenforschung erlebt, arbeiten sich die beteiligten Zeithistoriker/innen allerdings zumeist bevorzugt am Legitimationsproblem ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit ab. In zahllosen Kommissions- oder Beiratssitzungen, in Koordinationsgremien, auf Workshops oder bei Konferenzen und PR-Präsentationen sowie bei einer gutbesuchten Podiumsdiskussion auf dem Historikertag 2016 in Hamburg steht und stand zweifellos diese Problematik prominent im Vordergrund. Verkauft sich eine emsig »aufarbeitende« Geschichtswissenschaft an ihre außerwissenschaftlichen Geldgeber oder orientiert sie sich gar willfährig an der Sensationslogik politisch-medialer Aufmerksamkeitszyklen? In der jeweiligen Forschungspraxis erscheinen derartige Problemlagen jedoch auch mit Blick auf größere Auftragsforschungsprojekte in den 1990er Jahren wie etwa das von Hans Mommsen geleitete »VW-Projekt« zum einen kaum als etwas vollkommen Neues. Zudem schrecken in aller Regel auch die Auftraggeber selbst – zumeist aus Politik oder Wirtschaft – vor direkten Eingriffen oder gezielten Steuerungsversuchen zurück. Ganz im Gegenteil: Es ist gerade die fachliche Unabhängigkeit der jeweiligen Forschergruppen, deren externes »Knowhow« man sich ins Ministerium oder ins Unternehmen holt und das quasi als Label »eingekauft« und deren Expertise dann öffentlich »vermarktet« werden soll. Die konkreten Befunde der Studien, die sich häufig, aber nicht ausschließlich mit der (wie auch immer praktisch gemessenen) »NS-Belastung« der Organisation und ihres Personals vor bzw. nach 1945 beschäftigen, erscheinen dabei in der Substanz aus Perspektive der Auftraggeber fast zweitrangig. So gibt es heute kaum noch unmittelbar betroffene »Ehemalige« aus dieser Zeit, deren potenzieller NS-Hintergrund noch Widerspruch auslösen oder zum Skandalon taugen würde. Ohne ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit jedoch verlören derlei Aufarbeitungsprojekte sowohl in ihren inneren als auch äußeren Verwertungslogiken ihre nötige Symbol- und Ertragskraft. Stehen in den gegenwärtigen Diskussionen also vor allem Fragen von Unabhängigkeit oder NS-Belastung im Vordergrund, bleibt ein anderer Aspekt zumeist weitgehend ausgeklammert: Wie gehen die Forscher/innen eigentlich damit um, dass sie die Geschichte von (zumeist noch fortbestehenden) Organisationen in deren Auftrag und letztlich auf der Grundlage der von ihnen produzierten Quellen erforschen? Bereits 2015 hatten wir, damals mit Henning Borggräfe, einen Workshop mit der Frage überschrieben, ob wir es womöglich mit einem zeithistorischen »Trend ohne Turn« zu tun hätten: einer geschichtspolitisch induzierten und finanzierten sowie stark empirisch ausgerichteten Forschungskonjunktur, mit der bislang jedoch keine übergreifende methodisch-theoretische Selbstreflexion einhergegangen sei. Diese Veranstaltung hinterließ einen uneinheitlichen Gesamteindruck. Innerhalb der jeweiligen Forschungsgruppen wird durchaus auch über methodisch-theoretische Problemlagen diskutiert. Diese internen Debatten finden jedoch kaum ihren Weg in eine akademische Fachöffentlichkeit, da sie in den letztlich den Auftraggebern und der Öffentlichkeit vorgelegten und veröffentlichten »Endprodukten« zumeist nicht mehr auftauchen: zu abstrakt, zu akademisch, zu theoretisch. Diese Momentaufnahme empirischer Omnipräsenz bei theoretischer Unterreflexion führt zu der für die deutsche Zeitgeschichtsforschung noch kaum systematisch ergründeten Frage, welchen Ort Organisationen eigentlich in der jüngeren Geschichte der Geschichtswissenschaft in (West-)Deutschland selbst eingenommen haben. Ein erster Blick in das begriffsgeschichtliche Standardwerk in Deutschland könnte zu einer anderen Vermutung führen. Denn unter dem Schlagwortreigen »Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper« fand die Organisation durchaus Aufnahme in die Geschichtlichen Grundbegriffe. Interessanterweise ist es im Jahr 1978 veröffentlichten Teilband aber mit Ernst-Wolfgang Böckenförde ein renommierter Jurist, der an dieser Stelle eine detaillierte Geschichte des modernen Organisationsbegriffs entfaltet. Dieser habe sich schlagartig im Kontext der Französischen Revolution »durch aktives revolutionäres politisches Handeln aus bestehenden Verhältnissen« in der »politischen Sprache« etabliert. Dieser neuartigen Semantik sei »deutlich ein aktiver und dynamischer Sinn« eingeschrieben gewesen: »›Organisation‹ ist nicht eine festliegende Zuordnung, ein statistisches Eingerichtetsein, sondern das Ergebnis willentlicher Tätigkeit, des (dynamischen) Organisierens, etwas bewußt Geschaffenes und auf die Zwecke hin Eingerichtetes, das seinerseits verändert, fortentwickelt werden kann.« Eben dieser neuartige wie dynamisch-aktivistische Begriffsgebrauch, der sich damit auch aus dem Kontext von älteren Begriffen wie dem statisch-biologisch gedachten »Organismus« löste, habe sich nun rasch über ganz Europa ausgebreitet und sei mithin in seiner Doppeldeutigkeit zwischen Status und Prozess auch in den deutschen Ländern zum Tragen gekommen: Einerseits als »Kennzeichnung der inneren Einrichtung, Zuständigkeiten und der Ordnung des Geschäftsablaufs von Behörden«; andererseits als »die Bezeichnung weitergreifender Neugestaltungen, sei es des Behördenaufbaus im ganzen, sei es der Staatsordnung insgesamt«. Im nächsten Schritt war es bald die kollektive »Organisation von Menschen« bzw. der gesellschaftliche »Moment der Verfügbarkeit« mit »integrativem und mobilisierenden Bezug«, der für das weitere »Ausgreifen des Organisationsbegriffs« im 19. Jahrhunderts charakteristisch geworden sei: Neben dem Staat und seiner Verwaltung betraten nun auch genuin politische »Willensverbände« bzw. Parteien als Organisationen die Bühnen einer neuen Massenpolitik. Für Böckenförde avanciert die Organisation damit ganz klar zum Grundbegriff, als dessen ideelle Grundlagen die »(objektive) Gestaltbarkeit und Machbarkeit politischer Ordnung sowie die (subjektive) Dispositionsmöglichkeit über sie« erschienen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich sei eine weitere gesellschaftliche »Ausdehnung« des Organisations-Begriffs auf »Einrichtungs-, Gestaltungs- und Zuordnungsvorgänge außerhalb der politischen Sphäre« vor allem im »Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft« zu konstatieren – nicht zuletzt deshalb avanciere die Organisation im frühen 20. Jahrhundert zum staatsrechtlichen wie sozialwissenschaftlichen Leitbegriff. Doch Böckenfördes breit angelegtes Plädoyer hat den Organisationsbegriff eben nicht zu einem zentralen Analyse- oder Diskussionsgegenstand der deutschen Zeithistorikerschaft werden lassen – eher das Gegenteil ist der Fall. In den 2002 von Stefan Jordan herausgegebenen und von zahlreichen prominenten Fachvertretern bestückten »Grundbegriffen der Geschichtswissenschaft«, die explizit auf eine »Kanonisierung« zentraler fachhistorischer Konzepte abzielten, tauchten unter knapp hundert sehr vielfältigen Termini weder die »Organisation« noch die oft synonym verwendete »Institution« auf.

Erscheinungsdatum
Co-Autor Knud Andresen, Eva Balz, Peter Becker, Marcus Böick, Sebastian Brünger, Lutz Budrass, Bernd Faulenbach, Markus Goldbeck, Anne-Christine Hamel, Christopher Kirchberg, Christoph Lorke, Christian Mentel, Gunnar Mertz, Martin Platt, Marcel Schmeer, Rena Schwarting, Wolfgang Seibel, Daniel Trabalski, Vojin Sasa Vukadinovic, Christoph Wehner, Thomas Welskopp
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 139 x 213 mm
Gewicht 675 g
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Wirtschaft Betriebswirtschaft / Management Planung / Organisation
Schlagworte Behörden • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Nationalsozialismus • Organisation • Organisationen • Organisationstheorie • Parteienforschung • Probleme • Reichswehr • Selbstreflektion • Treuhandanstalt • Unternehmen • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-593-51039-1 / 3593510391
ISBN-13 978-3-593-51039-2 / 9783593510392
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