Was Kinder stärkt (eBook)
279 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61907-8 (ISBN)
Prof. em. Günther Opp, Institut f. Rehabilitationspädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Michael Fingerle, Institut für Sonderpädagogik, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Prof. Dr. Gerhard J. Suess, Institut für klinische und Entwicklungspsychologie, Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW, Hamburg.
Prof. em. Günther Opp, Institut f. Rehabilitationspädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Michael Fingerle, Institut für Sonderpädagogik, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Prof. Dr. Gerhard J. Suess, Institut für klinische und Entwicklungspsychologie, Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW, Hamburg.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
von Michael Fingerle, Günther Opp und Gerhard Suess
A Grundlagen der Resilienzforschung
Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
von Emmy E. Werner
Resilienz: Genetische und epigenetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
von Julia Lippold und Martin Reuter
Bindungsdesorganisation und Resilienz: Aktueller Stand der Diskussion
uber Ursachen und Aussagekraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30
von Gottfried Spangler
Selbstregulation: die Entwicklung resilienzfordernder Kompetenzen
im fruhen Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
von Günther Opp
Adaptation und Flexibilitat - Uberlegungen zum Preis der Resilienz . . 56
von Michael Fingerle
Psychische Sicherheit als Voraussetzung fur psychologische Anpassungsfahigkeit
im Rahmen der Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
von Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann
Resilienz: ein Uberblick uber internationale Langsschnittstudien . . . . . 82
von Emmy Werner
B Resilienz in der Lebensspannenperspektive
Fruhe Hilfen und Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
von Gerhard Suess
Resilienz im Ubergang vom Kindergarten in die Schule . . . . . . . . . . . . 108
von Susanne Doblinger und Fabienne Becker-Stoll
Traumapadagogische Resilienzforderung im Kontext der Kinderund
Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
von Marc Schmid
Resilienz aus biografischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
von Rolf Göppel
Resilienz, Resilienzforderung und Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Maike Rönnau-Böse
C Resilienz in spezifischen Risikolagen
Resilienz im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
von Bernhard Leipold und Christina Saalwirth
Freundschaft als Resilienzfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
von Maria von Salisch
Positive Peerkultur als Resilienzpraxis im schulischen Alltag . . . . . . . 202
von Günther Opp und Ariane Bößneck
Trauma, Resilienz und Krise - Formierung, nachhaltige Erschutterung
und Transformationspotenziale von Selbst- und Weltverhaltnissen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
von Mirja Silkenbeumer
Im Schatten des Scheiterns: Ressourcen und Resilienzpotenziale
von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
von Haci-Halil Uslucan und Ilkiz ?entürk
Vulnerabilitat und Resilienz - Erkenntnisse fur die Arbeit mit
autistischen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
von Georg Theunissen
Resilienz - Forderung - Lernen? Resilienz und Service-Learning in
padagogischen Handlungskontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
von Anne Seifert
Schlussgedanken zum Thema Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
von Gerhard Suess, Günther Opp und Michael Fingerle
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz
von Emmy E. Werner
Wir wissen alle, dass vielfältige biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren die kindliche Entwicklung bedrohen. Wir sehen aber auch häufig Kinder und Jugendliche, die sich trotz chaotischen Familiensituationen und körperlichen Behinderungen zu leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten entwickeln. Heute rücken diese Kinder in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Pädagogen, Psychologen, Psychiater und Soziologen in Nordamerika und Europa suchen jetzt nach den vielfältigen Wurzeln dieser kindlichen Widerstandskraft.
Ich werde jetzt einen kurzen Überblick über amerikanische Längsschnittstudien geben, die schützende Faktoren und Prozesse in der Entwicklung und Erziehung von „Risiko“-Kindern dokumentiert haben.
Die Mehrheit der amerikanischen Längsschnittstudien untersuchten das Leben von Kindern, die trotz elterlicher Arbeitslosigkeit, Armut, Psychose oder Drogensucht die Schule erfolgreich durchliefen. Einige Forscher konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf Scheidungskinder, die die Folgen familiärer Dissonanz und Trennung gut überstanden. Kinderärzte und Psychologen haben auch die Entwicklung und Erziehung von Kindern dokumentiert, die trotz Geburtskomplikationen und körperlichen Behinderungen einen bemerkenswerten Grad von Widerstandskraft zeigen. Sowohl Psychiater als auch Entwicklungspsychologen entdecken jetzt auch individuelle Stärke in den Kindern, die Naturkatastrophen und Bürgerkriege überlebt haben.
Der Begriff „protektiv“ oder „schützend“ beschreibt in diesem Zusammenhang Faktoren oder Prozesse, die dem Kind oder Jugendlichen helfen, sich trotz hohem Risiko normal zu entwickeln. „Resilienz“ oder „Widerstandskraft“ ist das Produkt dieser schützenden Prozesse. Die Forscher, die schützende Faktoren und Prozesse in der Entwicklung und Erziehung von „Risiko-Kindern“ studieren, müssen mehrere methodische Probleme lösen:
- 1. wie man die Anpassung der Kinder in verschiedenen Altersstufen bewertet;
- 2. wie man „erfolgreiche“ Anpassung operational definiert;
- 3. wie man eine Vergleichsgruppe zu Kindern mit einem niedrigen Entwicklungsrisiko findet und
- 4. wie lange man beide Gruppen beobachtet.
Das Endprodukt der Entwicklung wird in diesen Längsschnittstudien in vielfältiger Weise definiert – entweder als Fehlen von Lern- oder Verhaltensproblemen oder als erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben der Kindheit und Jugend (gemäß dem Erikson-Schema). Die meisten Studien sind nur über kurze Zeiträume angelegt und haben als Brennpunkt das Schulalter. Es gibt wenige Längsschnittstudien, die im Kleinkindalter anfangen und die Jungen und Mädchen bis in das Erwachsenenalter verfolgen.
Eine Ausnahme ist die Kauai-Längsschnittstudie, an der ich seit mehr als drei Jahrzehnten mitarbeite. Bereits in der pränatalen Entwicklungsperiode begann ein Team von Kinderärzten, Psychologen und Mitarbeiter der Gesundheits- und Sozialdienste den Einfluss einer Vielzahl biologischer und psychosozialer Risikofaktoren, kritischer Lebensereignisse und schützender Faktoren in der Entwicklung von 698 Kindern zu studieren, die im Jahre 1955 auf der Insel Kauai in Hawaii geboren wurden.
Wir haben diese Population im Geburtsalter, im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und jetzt auch im Alter von 40 Jahren erfasst (Werner 1993; Werner 1995; Werner 1997; Werner / Smith 1992; Werner / Smith 1998). Bei etwa 30% der überlebenden Kinder in dieser Studienpopulation bestand ein hohes Entwicklungsrisiko, weil sie in chronische Armut hinein geboren wurden, geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waren und in Familien aufwuchsen, die durch elterliche Psychopathologie und dauerhafte Disharmonie belastet waren. Zwei Drittel dieser Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten dann auch schwere Lern- oder Verhaltensprobleme in der Schulzeit, wurden straffällig und hatten psychische Probleme im Jugendalter.
Gleichzeitig entwickelten sich ein Drittel dieser Kinder trotz der erheblichen Risiken, denen sie ausgesetzt waren, zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen. Im Alter von 40 Jahren gibt es in dieser Population im Vergleich mit der normalen Altersgruppe die niedrigste Rate an Todesfällen, chronischen Gesundheitsproblemen und Scheidungen. Trotz einer schweren ökonomischen Rezession (nach der Verwüstung der Insel durch einen Orkan) haben all diese Erwachsenen Arbeit und keiner benötigt Hilfe vom Sozialdienst. Keiner von ihnen hat Konflikte mit dem Gesetz. Ihre Ehen sind stabil, sie schauen hoffnungsvoll und positiv in ihre Zukunft und haben viel Mitgefühl für andere Menschen in Not.
Die Ergebnisse unserer Längsschnittstudie mit asiatischen hawaiianischen Kindern stimmen mit den Berichten von anderen amerikanischen Forschern überein. Die lebensbegünstigenden Eigenschaften und sozialen Bindungen innerhalb der Familie und Gemeinde, die wir in Kauai dokumentiert haben, scheinen Schutzfaktoren zu sein, die in vielen Fällen ethnische und geografische Grenzen überschreiten und einen größeren Einfluss auf den Lebensweg der Kinder ausüben als spezifische Risikofaktoren oder stresserzeugende Lebensereignisse.
1 Schützende Faktoren im Kind (lebensbegünstigende Eigenschaften)
Unsere Ergebnisse mit den widerstandsfähigen Kindern von Kauai und Berichte von anderen Längsschnittstudien in San Francisco, Topeka, Kansas, Minneapolis, Minnesota und Chicago zeigen, dass diese Jungen und Mädchen Temperamentseigenschaften besitzen, die bei Sorge- und Erziehungspersonen positive Reaktionen auslösen. Bereits als Baby wurden sie als „aktiv“, „gutmütig“ und „liebevoll“ bezeichnet. Sie hatten als Kleinkinder, wie auch später als Erwachsene, ein hohes Antriebsniveau, waren gesellig und gut ausgeglichen. Als diese Kinder das Vorschulalter erreichten, waren sie schon sehr unabhängig, aber sie hatten auch die Fähigkeit, Hilfe zu erbitten, wenn dies erforderlich war.
Mein Kollege Tom Boyce, Professor der Pädiatrie an der Universität von Kalifornien, studiert das Kreislaufsystem und die Immunmechanismen von diesen Kleinkindern. Er begann seine Forschung mit der Beurteilung der immunologischen Reaktionen von fünfjährigen Kindern. Sie wurden zuerst eine Woche vor Schulanfang und dann zwölf Wochen lang nach dem Eintritt in die Schule beobachtet. Zufälliger Weise kam es in San Francisco zu einem schweren Erdbeben in der Mitte der Beobachtungsperiode. Die Kinder mit niedriger immunologischen Reaktionen sechs Wochen vor dem Erdbeben hatten eine viel niedrige Rate von Infektionskrankheiten nach dem Erdbeben als die Kinder mit höheren (a priori) Abwehrreaktionen (Boyce et al. 1991).
Boyce und seine Mitarbeiter (Barr et al. 1994) haben auch beobachtet, dass es schon bei Kleinkindern erhebliche Unterschiede in der Schmerzempfindung gibt. Kinder mit Krebserkrankungen, die ihre Aufmerksamkeit von den schmerzhaften klinischen Untersuchungen ablenkten, hatten eine größere Schmerztoleranz als Kleinkinder, für die die klinischen Untersuchungen der Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit wurde. Sie hatten auch weniger Angst vor der Untersuchung und ihr Puls und systolischer Blutdruck waren ausgeglichener. Diese „Distractors“ und „Attenders“ sind anscheinend Typen, deren Lebensanpassung schon in der Kleinkindheit sehr stabil ist.
Wir wissen mehr über die lebensbegünstigenden Eigenschaften der älteren Kinder. Die meisten Längsschnittstudien in Nordamerika befassen sich vorwiegend mit dem Schulalter. Die Ergebnisse dieser Studien sind ähnlich, ganz gleich, ob die Kinder in Hawaii, Kalifornien, Minnesota, Missouri, Maryland oder New York wohnen und ganz gleich, ob sie weiß, schwarz oder asiatisch sind. Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit sind universelle Faktoren in der Entwicklung von Schulkindern, die trotz ungünstiger Lebensumstände „normal“ aufwachsen.
Die Grundschullehrer in der Kauai-Studie waren positiv beeindruckt von den Kommunikations- und praktischen Problemlösungsfähigkeiten dieser Kinder. Obgleich sie intellektuell nicht hochbegabt waren, nutzten diese Kinder, was immer sie als Talente mitbrachten, effektiv aus. Gewöhnlich hatten sie ein spezielles Interesse oder Hobby, das sie mit einem Freund oder einer Freundin teilten. Solche Interessen und Aktivitäten waren nicht geschlechtsabhängig. Ähnliche Ergebnisse wurden von den Studien der Kinder berichtet, die widerstandsfähige Sprösslinge psychotischer Eltern waren (Anthony 1987; Radke-Yarrow / Brown 1993) und die sich trotz chaotischer Familiensituationen normal entwickelt haben (Seifer et al. 1992).
In allen Längsschnittstudien im Schulalter zeigte sich, dass Intelligenz und schulische Kompetenz positiv mit individueller Widerstandsfähigkeit korrelieren. Die Korrelation wird größer, wenn die Kinder älter werden und ist in der Jugendzeit höher als im Kleinkindalter. Intelligente Kinder schätzen stresserzeugende Lebensereignisse realistisch ein und benutzen eine Vielfalt flexibler Bewältigungsstrategien im Alltag und vor allem in Notsituationen.
Andere schützende Faktoren, die im Leben widerstandsfähiger Kinder in unserer Studie in Kauai gefunden und von verschiedenen Studien mit anderen „Risiko“-Kindern in den Vereinigten Staaten bestätigt wurden, waren die Fähigkeit zu überlegen und zu planen. Diese Jungen und Mädchen waren der Überzeugung, dass...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2024 |
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Co-Autor | Fabienne Becker-Stoll, Susanne Doblinger, Julia Lippold, Martin Reuter, Christina Saalwirth, Anne Seifert, Ilkiz Sentürk, Rolf Göppel, Maria von Salisch, Mirja Silkenbeumer, Haci-Halil Uslucan, Ariane Bößneck, Klaus Fröhlich-Gildhoff, Karin Großmann, Klaus E. Grossmann, Bernhard Leipold, Maike Rönnau-Böse, Gottfried Spangler, Georg Theunissen, Marc Schmid, Emmy Werner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Allgemeines / Lexika | |
Technik ► Architektur | |
Schlagworte | Adaption • Belastung • Entwicklungspsychologie • Grundlagen • Heilpädagogik • Kinder- und Jugendpsychologie • Krise • Pädagogische Psychologie • Selbstregulation • Trauma |
ISBN-10 | 3-497-61907-8 / 3497619078 |
ISBN-13 | 978-3-497-61907-8 / 9783497619078 |
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Größe: 2,3 MB
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